BVerwG 1. Senat, Beschluss vom 23.06.2025, AZ 1 B 10.25, ECLI:DE:BVerwG:2025:230625B1B10.25.0
§ 53 Abs 1 AufenthG 2025, § 55 Abs 1 Nr 4 AufenthG 2025, § 53 Abs 2 AufenthG 2025
Verfahrensgang
vorgehend Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, 19. März 2025, Az: 7 A 10943/24.OVG, Urteil
vorgehend VG Koblenz, 12. März 2024, Az: 1 K 931/23.KO, Urteil
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. März 2025 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Gründe
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1. Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
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a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist oder aufgrund des Gesetzeswortlauts mithilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 – 1 B 1.14 – juris Rn. 2, vom 10. März 2015 – 1 B 7.15 – juris Rn. 3 und vom 25. Juli 2017 – 1 B 117.17 – juris Rn. 3). Für die Zulassung der Revision reicht eine Tatsachenfrage von grundsätzlicher Bedeutung nicht aus; die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen (BVerwG, Beschluss vom 10. März 2020 – 1 B 15.20 – juris Rn. 4). Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14).
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b) Die von der Beschwerde als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Frage,
„ob ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG im Falle der Inhaftierung eines Ehepartners auch dann angenommen werden kann, wenn die Ehepartner bereits vor ihrer Heirat und vor dem Haftaufenthalt Lebensgefährten waren“,
rechtfertigt danach nicht die Durchführung eines Revisionsverfahrens.
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Sie würde sich in einem Revisionsverfahren zum einen nicht stellen, weil das Oberverwaltungsgericht trotz Annahme des Bestehens schwerwiegender Bleibeinteressen nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG im Rahmen der nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG gebotenen Abwägung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Klägers gegenüber seinen aus seinem langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet und seinen familiären Bindungen bestehenden Bleibeinteressen wegen der Schwere der begangenen Straftaten überwiegt (UA S. 21 ff.). In diese Abwägung hat es die aus Art. 8 EMRK und Art. 6 Abs. 1 GG resultierenden Grundrechte des Klägers und insbesondere die Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen unabhängig davon eingestellt, ob diese einen normierten Regeltatbestand erfüllt (UA S. 19); zudem erwähnt das Berufungsgericht ausdrücklich die schon vor Haftantritt bestehende Beziehung des Klägers zu seiner späteren Ehefrau (UA S. 3).
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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist zum anderen geklärt, dass die Ehe eines Ausländers mit einem deutschen Staatsangehörigen nicht unbedingt vor der Ausweisung schützt. Sie engt die Grenzen des dabei zu betätigenden Ermessens jedoch ein (BVerwG, Urteil vom 3. Mai 1973 – 1 C 20.70 – juris Rn. 20 m. w. N.). Die bei der Abwägung zu berücksichtigenden Kriterien für die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung sind dahingehend geklärt, dass insbesondere die Art und Schwere der begangenen Straftat, die seither vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, die familiäre Situation, die Kenntnis des Partners von der Straftat bei der Begründung der Beziehung, das Interesse und das Wohl eventueller Kinder, insbesondere deren Alter, der Umfang der Schwierigkeiten, auf die Kinder oder der Partner im Heimatland des Ausländers treffen würden, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Aufenthaltsstaat, die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Ausländers zum Gastland sowie zum Bestimmungsland zu berücksichtigen sind. Hiermit korrespondieren die – nicht abschließend aufgeführten – Kriterien des § 53 Abs. 2 AufenthG, nach dem bei der Interessenabwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen sind (BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 – BVerwGE 175, 16 Rn. 33 m. w. N.). Der abstrakten gesetzlichen Gewichtung eines Ausweisungs- und Bleibeinteresses ist zwar eine die Abwägung prägende Funktion beizumessen; den vertypten Interessen kann jedoch nach den besonderen Umständen des Einzelfalles ein abweichendes Gewicht beizumessen sein, sodass erst nach einer Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles feststeht, ob das Ausweisungsinteresse gegenüber dem Bleibeinteresse überwiegt (BVerwG, Beschluss vom 2. August 2023 – 1 B 20.23 – juris Rn. 4). Ob, wie lange und mit welcher Intensität die späteren Eheleute vor der Inhaftierung und Eheschließung Lebensgefährten waren und ob sich daraus zu berücksichtigende Bleibeinteressen ergeben, ist somit eine Frage des Einzelfalles, die einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 2 GKG.
