BVerfG 1. Senat, Beschluss vom 03.06.2025, AZ 1 BvR 2017/21, ECLI:DE:BVerfG:2025:rs20250603.1bvr201721
Art 6 Abs 2 S 1 GG, § 90 BVerfGG, § 95 BVerfGG, § 1600 Abs 2 BGB, § 1600 Abs 3 S 1 BGB
Verfahrensgang
vorgehend Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 28. Juli 2021, Az: 8 UF 95/21, Beschluss
vorgehend BVerfG, 9. April 2024, Az: 1 BvR 2017/21, Urteil
vorgehend BVerfG, 20. August 2024, Az: 1 BvR 2017/21, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren
Tenor
§ 1600 Absatz 2 und Absatz 3 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20. Juli 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 2780) gilt über den 30. Juni 2025 hinaus bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 31. März 2026, fort. Bis zu einer Neuregelung sind durch Anträge von Anfechtungsberechtigten nach § 1600 Absatz 1 Nummer 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs eingeleitete Verfahren auf deren Antrag hin weiterhin auszusetzen.
Gründe
I.
1
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 9. April 2024 § 1600 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 BGB für mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar erklärt. Zudem hat es angeordnet, dass die vorgenannten Vorschriften bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2025, fortgelten sowie dass bis zu einer Neuregelung durch Anträge von Anfechtungsberechtigten nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB eingeleitete Verfahren auf deren Antrag hin auszusetzen sind (vgl. BVerfGE 169, 1 <2>). Die Fortgeltung hat es damit begründet, dass ohne eine solche anfechtungsberechtigten leiblichen Vätern die Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft eines anderen Mannes selbst dann versperrt wäre, wenn diese auf der Grundlage der für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Regelungen mit ihrem Anfechtungsantrag Erfolg haben könnte. Diese Konsequenz stünde dem durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG leiblichen Vätern garantierten Anspruch auf ein effektives Verfahren zur Erlangung der rechtlichen Vaterschaft entgegen (vgl. BVerfGE 169, 1 <65 Rn. 114>). Zudem müsse den nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB Anfechtungsberechtigten die Möglichkeit gegeben werden, bereits nach Maßgabe der für unvereinbar erklärten Vorschriften eingeleitete Anfechtungsverfahren aussetzen zu lassen, um zu vermeiden, dass sie wegen der mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbaren Regelung in § 1600 Abs. 2 Alt. 1 BGB mit ihrer Anfechtung erfolglos blieben (vgl. BVerfGE 169, 1 <65 Rn. 115>).
II.
2
Angesichts der am 30. Juni 2025 auslaufenden Fortgeltungsanordnung hat der Vorsitzende des Senats mit gleichlautenden Schreiben vom 9. April 2025 an die Präsidentinnen des Bundestages und des Bundesrates sowie an den Bundeskanzler um Auskunft gebeten, ob eine Neuregelung durch den Gesetzgeber innerhalb der genannten Frist zu erwarten sei. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, dass in der 20. Wahlperiode des Deutschen Bundestages das zuständige Bundesministerium den Entwurf eines Änderungsgesetzes erstellt habe, ein solches Gesetz aber wegen des vorzeitigen Endes der Wahlperiode nicht habe verabschiedet werden können. Zugleich hat er angeregt, die im genannten Urteil ausgesprochene Fortgeltungsanordnung bis zum 31. März 2026 zu verlängern. Dem Bundestag und dem Bundesrat sowie den Beteiligten des der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegenden Ausgangsverfahrens ist Gelegenheit gegeben worden, dazu Stellung zu nehmen. Die Beteiligten des Ausgangsverfahren haben mit Schreiben jeweils vom 28. Mai 2025 erklärt, dass einer Verlängerung der Fortgeltungsanordnung nicht entgegengetreten werde beziehungsweise dass gegen eine solche keine Bedenken erhoben würden. Weitere Stellungnahmen sind nicht eingegangen.
III.
3
Die für mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar erklärten Regelungen in § 1600 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 BGB gelten auch über den 30. Juni 2025 hinaus bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens jedoch bis zum 31. März 2026, fort. Die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. April 2024 genannten Gründe für eine Anordnung der Fortgeltung (Rn. 1) bestehen weiterhin in gleicher Weise. Insbesondere verwehrte ansonsten die Unanwendbarkeit der genannten Regelungen anfechtungsberechtigten leiblichen Vätern weiterhin eine erfolgreiche Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft eines anderen Mannes selbst dann, wenn eine sozial-familiäre Beziehung des betroffenen Kindes zu dem rechtlichen Vater im maßgeblichen Zeitpunkt nicht besteht. Der Grund für den Aussetzungsanspruch nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB anfechtungsberechtigter leiblicher Väter besteht ebenfalls fort.