BGH 10. Zivilsenat, Urteil vom 28.01.2025, AZ X ZR 66/22, ECLI:DE:BGH:2025:280125UXZR66.22.0
Verfahrensgang
vorgehend LG Frankfurt, 25. Mai 2022, Az: 2-24 S 242/21
vorgehend AG Frankfurt, 29. Oktober 2021, Az: 383 C 494/20 (43)
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 24. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 25. Mai 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Der Kläger beansprucht die Rückzahlung einer Anzahlung für eine Pauschalreise und die Feststellung des Nichtbestehens eines Anspruchs der Beklagten auf Zahlung einer Stornierungsgebühr.
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Im November 2019 buchte der Kläger bei der Beklagten eine Kreuzfahrt „Östliches Mittelmeer und Venedig zum Verlieben“, die vom 11. bis 20. September 2020 stattfinden und insgesamt 2.498 Euro kosten sollte. Der Kläger leistete eine Anzahlung in Höhe von 325 Euro.
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Mit Schreiben vom 23. Juni 2020 erklärte der Kläger wegen der Corona-Pandemie den Rücktritt von der Reise.
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Die Reise konnte von der Beklagten nicht durchgeführt werden, nachdem der Leistungsträger der Beklagten, die Reederei MSC, den Kreuzfahrtbetrieb wegen der Corona-Pandemie eingestellt hatte.
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Die Beklagte stellte dem Kläger unter Einbehalt der Anzahlung eine restliche Stornierungsgebühr in Höhe von 174,60 Euro in Rechnung.
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Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 325 Euro nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verurteilt und festgestellt, dass ein Anspruch der Beklagten auf eine restliche Stornierungsgebühr in Höhe von 174,60 Euro nicht besteht. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage. Der Kläger tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
8
I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
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Das Amtsgericht habe dem Kläger zu Recht einen Anspruch auf Rückzahlung der Anzahlung zugesprochen und der Beklagten einen die Klageforderung übersteigenden Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung abgesprochen. Die Beklagte könne gegenüber dem Kläger keinen Entschädigungsanspruch geltend machen, da die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 BGB erfüllt seien.
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Der Ausbruch der Corona-Pandemie habe im Frühjahr 2020 zu einer nahezu weltweiten Abschottung und zur Annullierung sämtlicher internationaler Flüge geführt und stelle einen unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB dar.
11
Der Kläger schulde gemäß § 651h Abs. 3 BGB keine Entschädigungsleistung. Dies gelte unabhängig davon, ob im Zeitpunkt seiner Rücktrittserklärung nach einer ex-ante-Betrachtung bereits hinreichende Anhaltspunkte bestanden hätten, dass die vom Reiseveranstalter geplante Reise infolge der Corona-Pandemie nicht stattfinden kann. Eine ex-ante-Betrachtung sei jedenfalls dann nicht maßgeblich, wenn der Reiseveranstalter die Reise vor deren Beginn selbst aufgrund eines unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstandes abgesagt habe.
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II. Dies hält der revisionsrechtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand.
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1. Die Beklagte hat gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil der Kläger nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam vom Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist. Damit ist die Beklagte zur Rückzahlung der Anzahlung verpflichtet.
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2. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Entschädigungsanspruch aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB, den die Beklagte dem Anspruch des Klägers entgegenhalten könnte, nicht ausgeschlossen werden.
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a) Zu Recht hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass die Covid-19-Pandemie im vorgesehenen Reisezeitraum einen unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB darstellt.
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Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, ist es in der Regel nicht zu beanstanden, dass ein Tatrichter die Covid-19-Pandemie als Umstand wertet, der grundsätzlich geeignet ist, die Durchführung der Pauschalreise erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BGH, Urteil vom 28. März 2023 – X ZR 78/22, NJWRR 2023, 828 = RRa 2023, 118 Rn. 21; Urteil vom 14. November 2023 – X ZR 115/22, NJWRR 2024, 193 Rn. 18; Urteil vom 23. Januar 2024 – X ZR 4/23, NJWRR 2024, 466 Rn. 17; Urteil vom 23. April 2024 – X ZR 58/23 Rn. 21). Dies steht in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Juni 2023 – C-407/21, RRa 2023, 183 Rn. 45 – UFC; Urteil vom 29. Februar 2024 – C-584/22, RRa 2024, 62 Rn. 48 – Kiwi Tours) und gilt auch für den im Streitfall maßgeblichen Reisezeitraum im September 2020.
17
b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts darf eine erhebliche Beeinträchtigung jedoch nicht schon deshalb bejaht werden, weil die Reise nach der Rücktrittserklärung abgesagt bzw. nicht durchgeführt worden ist.
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Nach der auf Vorlage des Senats ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 dahin auszulegen, dass für die Feststellung, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände aufgetreten sind, die im Sinne dieser Bestimmung die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen, nur die Situation zu berücksichtigen ist, die zu dem Zeitpunkt bestand, zu dem der Reisende vom Reisevertrag zurückgetreten ist (EuGH, Urteil vom 29. Februar 2024 – C-584/22, RRa 2024, 62 Rn. 28 ff. – Kiwi Tours).
19
III. Die angefochtene Entscheidung erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO).
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Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist die Klage nicht schon deshalb ohne weiteres begründet, weil der Beklagten angesichts der Absage der Reise durch die Reederei kein Schaden entstanden ist.
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Nach § 651h Abs. 2 Satz 2 BGB bestimmt sich die Höhe der Entschädigung bei fehlender abweichender vertraglicher Regelung nach dem Reisepreis abzüglich des Werts der vom Reiseveranstalter ersparten Aufwendungen sowie abzüglich dessen, was er durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen erwirbt. Eine Absage der Reise, auch durch einen Leistungsträger des Reiseveranstalters, führt nicht ohne weiteres dazu, dass die Höhe der ersparten Aufwendungen dem Reisepreis entspricht oder diesen übersteigt. Der Beklagten wird gegebenenfalls Gelegenheit gewährt werden müssen, zu den hierfür maßgeblichen Umständen vorzutragen.
22
IV. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
23
Das Berufungsgericht hat – von seinem rechtlichen Standpunkt aus folgerichtig – keine Feststellungen dazu getroffen, inwieweit bereits zum Zeitpunkt des Rücktritts des Klägers konkrete Umstände absehbar waren, die eine erhebliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung der Reise nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB begründen.
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Die Sache ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), damit dieses die erforderlichen Feststellungen treffen kann.
25
Sollten sich die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen als zutreffend erweisen, wonach die Reederei MSC wegen der Corona-Pandemie bereits im Frühjahr 2020 jeglichen Schiffsbetrieb eingestellt hatte und im Zeitpunkt des Rücktritts alle Kreuzfahrten bis 31. Oktober 2020 abgesagt waren, wird schon dieser Umstand zum Ausschluss eines Entschädigungsanspruchs führen, sofern die Reise auf dem Kreuzfahrtschiff einen wesentlichen Teil der geschuldeten Reiseleistungen ausmacht – wofür nach den erstinstanzlich getroffenen Feststellungen alles spricht.
26
Anderenfalls wird das Berufungsgericht insbesondere auch zu berücksichtigen haben, dass eine im Zeitpunkt des Rücktritts begründete Ungewissheit über die weitere Entwicklung ein starkes Indiz dafür bilden kann, dass die Durchführung der Reise schon aus damaliger Sicht nicht zumutbar war. Hierbei sind gegebenenfalls auch individuelle Gesundheitsrisiken zu berücksichtigen, denen die Reisenden bei Durchführung der Reise ausgesetzt wären (BGH, Urteil vom 30. August 2022 – X ZR 66/21, NJW 2022, 3707 = RRa 2022, 283 Rn. 62 ff.; Urteil vom 23. Januar 2024 – X ZR 4/23, NJW-RR 2024, 466 Rn. 31 ff.). Wie der Senat bereits entschieden hat, ist dem Reisenden auch nicht ohne weiteres zuzumuten, mit einer Entscheidung über den Rücktritt bis kurz vor Reisebeginn zuzuwarten (BGH, Urteil vom 15. Oktober 2024 – X ZR 79/22, MDR 2024, 1570 Rn. 43 ff.).
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Entgegen der Auffassung der Revision wird es nicht zwingend des Vortrags belastbarer Tatsachen bedürfen, aufgrund derer im Rücktrittszeitpunkt am Bestimmungsort der Reise mit einer höheren Ansteckungsgefahr als am Heimatort zu rechnen war. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist § 651h Abs. 3 BGB auch dann anwendbar, wenn dieselben oder vergleichbare Beeinträchtigungen im vorgesehenen Reisezeitraum auch am Heimatort des Reisenden vorliegen (BGH, Beschluss vom 30. August 2022 – X ZR 3/22 Rn. 22).
Bacher Hoffmann Deichfuß
Marx von Pückler