Urteil des BGH 10. Zivilsenat vom 28.01.2025, AZ X ZR 53/21

BGH 10. Zivilsenat, Urteil vom 28.01.2025, AZ X ZR 53/21, ECLI:DE:BGH:2025:280125UXZR53.21.0

Verfahrensgang

vorgehend BGH, 2. August 2022, Az: X ZR 53/21, EuGH-Vorlage
vorgehend LG München I, 22. Juni 2021, Az: 13 S 669/21

vorgehend AG München, 8. Dezember 2020, Az: 243 C 10984/20

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil der 13. Zivilkammer des Landgerichts München I vom 22. Juni 2021 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage abgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger beansprucht von der Beklagten die Rückzahlung einer Anzahlung und von Stornierungskosten für eine Pauschalreise.

2

Der Kläger buchte im Januar 2020 für sich und seine Ehefrau bei der Beklagten eine Reise nach Japan, die vom 3. bis zum 12. April 2020 stattfinden und 6.148 Euro kosten sollte. Am 31. Januar 2020 leistete er eine Anzahlung von 1.230 Euro.

3

Im Gefolge von Meldungen über das Corona-Virus waren Ende Februar 2020 in Japan Schutzmasken landesweit ausverkauft. Die großen Vergnügungsparks wurden geschlossen, sportliche Großveranstaltungen fanden ohne Publikum oder gar nicht mehr statt. Die japanische Regierung beschloss am 26. Februar 2020, für die kommenden Wochen sämtliche sportlichen, kulturellen oder anderen Großveranstaltungen abzusagen. Am 27. Februar 2020 wurden alle Schulen Japans bis mindestens Anfang April 2020 geschlossen.

4

Mit Schreiben vom 1. März 2020 trat der Kläger wegen der vom Corona-Virus ausgehenden Gesundheitsgefährdung von der Reise zurück. Die Beklagte erstellte daraufhin eine Stornorechnung über weitere 307 Euro, die der Kläger bezahlte.

5

Am 26. März 2020 erließ Japan ein Einreiseverbot. Der Kläger verlangte hierauf Rückzahlung der geleisteten Beträge. Die Beklagte kam dem nicht nach.

6

Das Amtsgericht hat die Beklagte zur Rückzahlung der von dem Kläger geleisteten Anzahlung und der Stornierungskosten verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage mit Ausnahme eines Differenzbetrags von 14,50 Euro abgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren im abgewiesenen Umfang weiter.

7

Der Senat hat mit Beschluss vom 2. August 2022 (RRa 2022, 278) das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung ersucht. Der Gerichtshof hat über das Ersuchen mit Urteil vom 29. Februar 2024 (C-584/22, RRa 2024, 62 – Kiwi Tours) entschieden.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision ist begründet und führt im Umfang der Anfechtung zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

9

I.    Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen wie folgt begründet:

10

Der Kläger habe von der gebuchten Reise nicht gemäß § 651h Abs. 3 BGB ohne Entschädigungspflicht zurücktreten können.

11

Für die Beurteilung der Frage, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände vorlägen, sei eine ex-ante-Betrachtung zum Zeitpunkt des Rücktritts maßgeblich.

12

Im Streitfall habe man zum Rücktrittszeitpunkt nicht vom Vorliegen unvermeidbarer außergewöhnlicher Umstände ausgehen können. Die von den japanischen Behörden verfügten Maßnahmen hätten dem Ziel gedient, vorsorglich Infektionen zu verhindern. Allein auf vorsorgende Maßnahmen könne die Schlussfolgerung, dass sich die Infektionslage bis zum 3. April 2020 erheblich verschlechtern würde, nicht gestützt werden, denn von der Unwirksamkeit dieser Maßnahmen könne nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Die Reise sei von diesen Maßnahmen nicht betroffen gewesen.

13

II.    Dies hält der revisionsrechtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand.

14

1.    Die Beklagte hat gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil der Kläger nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam von dem Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist. Damit ist die Beklagte zur Rückzahlung der erbrachten Anzahlung verpflichtet.

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2.    Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Entschädigungsanspruch aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB, den die Beklagte dem Anspruch des Klägers entgegenhalten könnte, nicht bejaht werden.

16

a)    Zu Recht ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass das Einreiseverbot vom 26. März 2020 im Streitfall keine Berücksichtigung finden darf, weil es erst nach der Rücktrittserklärung des Klägers vom 1. März 2020 erlassen wurde.

17

Nach der auf Vorlage des Senats ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 dahin auszulegen, dass für die Feststellung, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände aufgetreten sind, die im Sinne dieser Bestimmung die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen, nur die Situation zu berücksichtigen ist, die zu dem Zeitpunkt bestand, zu dem der Reisende vom Reisevertrag zurückgetreten ist (EuGH, Urteil vom 29. Februar 2024 – C-584/22, RRa 2024, 62 Rn. 28 ff. – Kiwi Tours).

18

b)    Für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und der Erheblichkeit einer zu besorgenden Beeinträchtigung ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus der Sicht eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden zu prüfen, ob ein solcher Reisender vernünftigerweise annehmen konnte, dass die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, auf die er sich beruft, die Durchführung seiner Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort wahrscheinlich erheblich beeinträchtigen würden (EuGH, Urteil vom 29. Februar 2024 – C-584/22, RRa 2024, 62 Rn. 32 – Kiwi Tours).

19

Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, lässt sich die Frage, ob eine pandemische Lage am Bestimmungsort eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise zur Folge hat, nicht pauschal beantworten. Maßgeblich sind die Umstände des jeweiligen Falls, insbesondere die Gefahren, die dem Reisenden bei Durchführung der Reise drohen. Von Bedeutung ist insbesondere, ob die Durchführung der Reise dem Reisenden trotz der außergewöhnlichen Umstände und der daraus resultierenden Risiken zumutbar ist. Die Beurteilung dieser Frage obliegt im Wesentlichen dem Tatrichter (vgl. nur BGH, Urteil vom 15. Oktober 2024 – X ZR 79/22, MDR 2024, 1570 Rn. 26).

20

Die tatrichterliche Würdigung ist in der Revisionsinstanz lediglich darauf zu überprüfen, ob ein zutreffender rechtlicher Maßstab angelegt wurde, alle maßgeblichen Umstände des konkreten Einzelfalls in die Würdigung eingeflossen sind, Denkgesetze und Erfahrungssätze berücksichtigt wurden und keinem Umstand eine offensichtlich unangemessene Bedeutung beigemessen worden ist (Senat, Beschluss vom 2. August 2022 – X ZR 53/21, RRa 2022, 278 Rn. 21 f.).

21

c)    Wie der Senat bereits im Vorlagebeschluss ausgeführt hat, erweist sich die Entscheidung des Berufungsgerichts bei Anlegung dieses Maßstabs als fehlerhaft (BGH, Beschluss vom 2. August 2022 – X ZR 53/21, RRa 2022, 278 Rn. 25 ff.).

22

Wie der Senat im Einzelnen dargelegt hat, kann die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung nicht allein deshalb verneint werden, weil es im Zeitpunkt des Rücktritts noch nicht zu einer erheblichen Zahl von Infektionen in Japan gekommen war und die dort getroffenen Maßnahmen vor allem der Verhinderung von Infektionen gedient haben.

23

Das Berufungsgericht hätte sich vielmehr mit der Frage befassen müssen, ob die ungewöhnliche Art und Anzahl dieser Maßnahmen schon damals hinreichende Anhaltspunkte dafür begründeten, dass eine erhebliche Infektionsgefahr bestand, und nicht sicher war, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichen würden, um diese Gefahr abzuwenden.

24

Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass eine Reise nach Japan schon aus damaliger Sicht mit ernsthaften und gravierenden Gesundheitsrisiken behaftet war, deren Eingehung einem besonnenen Reisenden nicht zuzumuten war.

25

III.    Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).

26

1.    Wie der Gerichtshof der Europäischen Union inzwischen mehrfach entschieden hat, ist allerdings davon auszugehen, dass eine weltweite gesundheitliche Notlage wie die Covid-19-Pandemie unter den Begriff „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 fallen kann (EuGH, Urteil vom 8. Juni 2023 – C-407/21, RRa 2023, 183 Rn. 45 – UFC – Que choisir; Urteil vom 29. Februar 2024 – C-584/22, RRa 2024, 62 Rn. 32 – Kiwi Tours Rn. 48).

27

Besondere Umstände, die im Streitfall zu einer abweichenden Beurteilung führen könnten, ergeben sich aus dem bisherigen Sach- und Streitstand nicht.

28

2.    Der Senat kann aber nicht abschließend darüber entscheiden, ob diese Umstände im Streitfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung vorlagen.

29

Die vom Kläger vorgetragenen Vorsorgemaßnahmen, die in Japan bereits bis Ende Februar 2020 ergangen waren und die hierdurch und zahlreiche andere Faktoren im Zeitpunkt des Rücktritts begründete Ungewissheit über die weitere Entwicklung bilden allerdings ein starkes Indiz dafür, dass die Durchführung der Reise schon aus damaliger Sicht nicht zumutbar war. Hierbei sind gegebenenfalls auch individuelle Gesundheitsrisiken zu berücksichtigen, denen die Reisenden bei Durchführung der Reise ausgesetzt wären (BGH, Urteil vom 30. August 2022 – X ZR 66/21, NJW 2022, 3707 = RRa 2022, 283 Rn. 62 ff.; Urteil vom 23. Januar 2024 – X ZR 4/23, NJW-RR 2024, 466 Rn. 31 ff.). Wie der Senat bereits entschieden hat, ist dem Reisenden auch nicht ohne weiteres zuzumuten, mit einer Entscheidung über den Rücktritt bis kurz vor Reisebeginn zuzuwarten (BGH, Urteil vom 15. Oktober 2024 – X ZR 79/22, MDR 2024, 1570 Rn. 43 ff.).

30

Dennoch kann der Senat nicht ausschließen, dass der Streitfall bislang nicht vorgetragene oder nicht berücksichtigte Besonderheiten aufweist, die in tatrichterlicher Würdigung zu einer abweichenden Beurteilung führen können.

Bacher                        Hoffmann                        Deichfuß

                     Marx                         von Pückler

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