Beschluss des BGH 5. Zivilsenat vom 11.07.2024, AZ V ZR 164/23

BGH 5. Zivilsenat, Beschluss vom 11.07.2024, AZ V ZR 164/23, ECLI:DE:BGH:2024:110724BVZR164.23.0

Verfahrensgang

vorgehend OLG Frankfurt, 19. Juli 2023, Az: 17 U 184/22
vorgehend LG Frankfurt, 18. Juli 2022, Az: 2-17 O 234/20

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juli 2023 aufgehoben, soweit die Beklagte über die in der Anlage K1 aufgelisteten Gegenstände zu den Positionen 701, 702, 706, 711, 715, 722, 724, 725, 728, 738, 739, 741, 745 (1 Regal), 755, 761, 762, 767 und 768 sowie die in der Anlage K2 aufgelisteten Gegenstände zu den Positionen 807, 814 (nur Geschirrspülmaschine Winterhalter GS302) und 817 hinaus zur Herausgabe verurteilt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 24.778 €.

Gründe

I.

1

Der Kläger ist seit dem 1. November 2017 Insolvenzverwalter über das Vermögen einer GmbH (nachfolgend: Schuldnerin). Die Schuldnerin betrieb u.a. ein Restaurant und eine Bar in Frankfurt am Main. Die Beklagte ist seit dem 1. November 2017 Betreiberin beider Lokale. Am 23. Oktober 2017 ließ der Kläger über die in den Lokalen vorhandene Betriebs- und Geschäftsausstattung und deren Wert Inventarlisten durch einen Sachverständigen erstellen. Zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung befanden sich alle dort aufgeführten Gegenstände in den Räumen der Lokale.

2

Mit seiner Klage verlangt der Kläger Herausgabe in den Inventarlisten aufgelisteter Gegenstände und nimmt die Beklagte darüber hinaus wegen gezogener Nutzungen auf Zahlung von insgesamt 13.300 € in Anspruch. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat das Urteil des Landgerichts – soweit von Interesse – bestätigt. Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde, deren Zurückweisung der Kläger beantragt.

II.

3

Nach Auffassung des Berufungsgerichts kann der Kläger gemäß § 985 BGB Herausgabe verlangen. Die Beklagte habe nicht bewiesen, dass das Eigentum an den herausverlangten Gegenständen durch die Sicherungsübereignung vom 2. Januar 2017 auf sie übergegangen sei. Sie habe zunächst nur eine Kopie des Sicherungsübereignungsvertrags vorgelegt. Nachdem der Kläger schon in erster Instanz die Echtheit der Urkunde bestritten gehabt habe, habe die Beklagte die Urkunde, auf deren Kopie sie sich zuvor bezogen habe, nicht gemäß § 420 ZPO im Original vorgelegt. Der in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht vorgelegte Sicherungsübereignungsvertrag vom 2. Januar 2017 stimme zwar nach Wortlaut und Schriftbild, nicht aber im Schriftbild der Unterschriften mit der Kopie überein. Zwar habe die Beklagte erläutert, über den Vertrag zur Sicherungsübereignung seien drei gleichlautende Urkunden errichtet worden, und das Original zu der zunächst vorgelegten Kopie müsse der Kläger in Besitz haben. Dieses Vorbringen sei aber unerheblich, da es der Kläger sogleich in Abrede gestellt habe, ohne dass die Beklagte einen Antrag nach § 421 ZPO gestellt habe. Auf die im Termin vorgelegte Urkunde könne sich die Beklagte gemäß § 531 Abs. 2 ZPO nicht berufen.

III.

4

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Das angefochtene Urteil ist gemäß § 544 Abs. 9 ZPO aufzuheben, weil das Berufungsgericht den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.

5

1. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze findet, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (st. Rspr, vgl. Senat, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 170/22, BeckRS 2023, 40073 Rn. 4). Diese Grenze ist bei Anwendung einer Präklusionsvorschrift erreicht, wenn sie in offenkundig unrichtiger Weise angewandt wird (Senat, Beschluss vom 16. Juni 2016 – V ZR 238/15, BeckRS 2016, 13390 Rn. 6). So liegt es hier. Das Berufungsgericht hat in offenkundig fehlerhafter Anwendung von § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO die zum Beweis der Sicherungsübereignung vom 2. Januar 2017 in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Originalurkunde als verspätet zurückgewiesen.

6

a) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass es sich bei der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Originalurkunde um ein neues Verteidigungsmittel handelt. Neu i.S.d. § 531 Abs. 2 ZPO ist ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel, wenn es bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz nicht vorgebracht worden und daher im erstinstanzlichen Urteil unberücksichtigt geblieben ist. Ein erstmals im zweitinstanzlichen Verfahren angetretener Beweis für einen schon in erster Instanz gehaltenen Vortrag bildet stets ein neues Angriffs- oder Verteidigungsmittel (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2016 – VIII ZR 178/15, NJW-RR 2017, 72 Rn. 20, 22 zum Zeugenbeweis). Dies ist hier der Fall. Denn die Beklagte hat die Originalurkunde erstmals in der Berufungsverhandlung vorgelegt. Entgegen der von der Beschwerde vertretenen Auffassung finden die für die Konkretisierung eines bereits gehaltenen Vortrags geltenden Grundsätze keine Anwendung, weil der Urkundenbeweis gemäß § 420 ZPO erst dann angetreten ist, wenn die Originalurkunde vorgelegt wird (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 1992 – XI ZR 71/91, NJW 1992, 829, 830).

7

b) Zu Unrecht meint das Berufungsgericht jedoch, die erstmals in der Berufungsverhandlung vorgelegte Originalurkunde sei nicht zuzulassen.

8

aa) Nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zuzulassen, wenn sie einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs findet diese Vorschrift allerdings nur unter der ungeschriebenen Voraussetzung Anwendung, dass die Rechtsansicht des Gerichts den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei beeinflusst hat und daher, ohne dass deswegen ein Verfahrensfehler gegeben wäre, (mit-)ursächlich dafür geworden ist, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert hat (BGH, Beschluss vom 27. September 2023 – VII ZR 113/22, juris Rn. 16). Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs die Partei durch seine Prozessleitung oder seine erkennbare rechtliche Beurteilung des Streitverhältnisses davon abgehalten hat, zu bestimmten Gesichtspunkten vorzutragen. So kann das Gericht eine Partei etwa durch die Erteilung von Hinweisen veranlassen, in erster Instanz von weiterem Vorbringen abzusehen. Das erstinstanzliche Gericht kann aber auch durch das Unterlassen von Hinweisen den Eindruck erwecken, der bisherige Parteivortrag sei ausreichend (BGH, Beschluss vom 27. September 2023 – VII ZR 113/22, aaO).

9

bb) Gemessen hieran macht die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend, dass die in der Berufungsverhandlung vorgelegte Originalurkunde als neues Beweismittel zuzulassen war.

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(1) Aus Sicht des Landgerichts war unerheblich, ob es zum Abschluss des Sicherungsübereignungsvertrags vom 2. Januar 2017 gekommen ist. Die Beklagte sei, so das Landgericht, bereits deswegen nicht Eigentümerin der in den Inventarlisten bezeichneten Gegenstände geworden, weil der Sicherungsfall nicht eingetreten sei, es an der erforderlichen Bestimmtheit der von der Sicherungsübereignung betroffenen Gegenstände fehle und eine Beweisaufnahme mangels konkreter Benennung der übertragenen Gegenstände nicht durchgeführt werden könne. Hätte das Landgericht hingegen den Vortrag zum Abschluss des Sicherungsübereignungsvertrags und die Echtheit der vorgelegten Kopie als entscheidungserheblich angesehen, so wäre es nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO verpflichtet gewesen, die Beklagte hierauf hinzuweisen und die Vorlage nach §§ 142 Abs. 1, 273 Abs. 2 Nr. 5 ZPO anzuordnen. Da der Hinweis erst durch das Berufungsgericht erfolgte, war das auf den Hinweis vorgelegte Beweismittel zuzulassen (vgl. Senat, Urteil vom 9. Oktober 2009 – V ZR 178/08, NJW 2010, 363 Rn. 26 mwN).

11

(2) Deshalb ist – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – in diesem Zusammenhang unerheblich, dass die Originalurkunde nicht mit der in erster Instanz vorgelegten Kopie übereinstimmt. Dieser Umstand steht nicht der Zulassung des neuen Beweismittels entgegen, sondern kann im Rahmen der Beweiswürdigung hinsichtlich der Echtheit der Urkunde zu berücksichtigen sein.

12

2. Der Gehörsverstoß ist entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht unter Berücksichtigung der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Originalurkunde zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beklagte das Eigentum an den Gegenständen durch die Sicherungsübereignung vom 2. Januar 2017 erlangt hat und der Kläger deshalb keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Herausgabe hat.

IV.

13

Der Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör der Beklagten führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, soweit die Beklagte das Urteil angegriffen hat. Das Berufungsgericht muss den angebotenen Beweis erheben. Dabei wird es in den Blick nehmen müssen, dass sich aus dem Vortrag der Beklagten, über den Vertrag zur Sicherungsübereignung seien drei gleichlautende Urkunden errichtet worden, eine Erklärung für die Unterschiede der beiden Dokumente ergeben kann. Bei seiner neuen Entscheidung wird das Berufungsgericht gegebenenfalls auch den Vortrag aus der Beschwerdeerwiderung zu berücksichtigen haben.

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