Urteil des BVerwG 3. Senat vom 04.07.2024, AZ 3 CN 15/22

BVerwG 3. Senat, Urteil vom 04.07.2024, AZ 3 CN 15/22, ECLI:DE:BVerwG:2024:040724U3CN15.22.0

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, 15. September 2022, Az: 2 C 140/20, Urteil

Tenor

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 15. September 2022 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

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Die Antragstellerin betreibt in S. ein Warenhaus in der Rechtsform einer Personengesellschaft (GmbH & Co. KG) mit einer Verkaufsfläche im Haupthaus von 9 500 qm. Sie wendet sich mit ihrem am 22. April 2020 beim Oberverwaltungsgericht des Saarlandes eingegangenen Normenkontrollantrag gegen § 5 Abs. 4 und 5 der Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vom 30. März 2020 (Amtsblatt des Saarlandes Teil I <Amtsbl. I> S. 196B) i. d. F. der Bekanntmachung vom 17. April 2020 (Amtsbl. I S. 262B; im Folgenden: VO-CP). Die Verordnung der Landesregierung galt vom 20. April 2020 (Art. 3 der Zweiten Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vom 16. April 2020 <Amtsbl. I S. 258>) bis zum 3. Mai 2020 (§ 17 VO-CP). Die angegriffenen Vorschriften enthielten Regelungen über die Untersagung der Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels jeder Art mit mehr als 800 qm Verkaufsfläche (§ 5 Abs. 4 VO-CP), über Ausnahmen von dem Öffnungsverbot (§ 5 Abs. 5 Satz 1 VO-CP) und über die Zulassung des Verkaufs von Mischsortimenten (§ 5 Abs. 5 Satz 2 und 3 VO-CP). Nach dem Außerkrafttreten der Verordnung hat die Antragstellerin beantragt festzustellen, dass § 5 Abs. 4 und 5 VO-CP im Zeitpunkt seines Erlasses unwirksam war.

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Das Oberverwaltungsgericht hat den Normenkontrollantrag durch Urteil vom 15. September 2022 als unzulässig zurückgewiesen. Die Antragstellerin habe kein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung. Die Voraussetzungen für ein Präjudizinteresse wegen eines beabsichtigten Staatshaftungsprozesses lägen nicht vor. Es fehlten hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin eine Schadensersatz- bzw. Entschädigungsklage gegen den Antragsgegner vor den Zivilgerichten ernsthaft anstrebe. Sie habe Art und Höhe des behaupteten Schadens infolge der beanstandeten Verordnungsvorschrift nicht hinreichend substantiiert. Das Feststellungsinteresse ergebe sich auch nicht daraus, dass die Antragstellerin einen erheblichen Eingriff in ihre Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG) geltend mache. Das Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit habe neben der erwerbswirtschaftlichen Seite auch einen Persönlichkeitsbezug. Bei einer inländischen juristischen Person des Privatrechts wie der Antragstellerin beschränke sich die Grundrechtsverwirklichung jedoch auf wirtschaftliche Erwerbszwecke. Diesem Interesse werde hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass sie durch die substantiierte Darlegung der Absicht, einen Schadensersatz- oder Entschädigungsanspruch geltend zu machen, die Überprüfung der außer Kraft getretenen Norm erreichen könne. Die Voraussetzungen für ein Feststellungsinteresse wegen einer Wiederholungsgefahr lägen ebenfalls nicht vor.

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Zur Begründung ihrer Revision trägt die Antragstellerin vor: Das angefochtene Urteil beruhe auf der Verletzung von § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO und Art. 19 Abs. 4 GG. Der Normenkontrollantrag sei zulässig. Sie habe ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass § 5 Abs. 4 und 5 VO-CP unwirksam war, weil die begehrte Feststellung Präjudizwirkung für den von ihr in Aussicht genommenen Staatshaftungsprozess habe. Das Oberverwaltungsgericht habe die Anforderungen an die Darlegung von möglichen Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüchen überspannt. Das Feststellungsinteresse ergebe sich zudem aus dem erheblichen Eingriff in ihre Berufsausübungsfreiheit. Aufgrund der angegriffenen Verordnungsvorschrift habe sie ihr Warenhaus über zwei Wochen fast vollständig schließen müssen. Dass es in der Rechtsform einer Personengesellschaft betrieben werde, stehe der Annahme des Feststellungsinteresses wegen eines gewichtigen Grundrechtseingriffs nicht entgegen. Der Antrag sei auch begründet. Die verordnete Betriebsschließung habe sie in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. In ihrem großflächigen, mehrstöckigen Warenhaus habe die Virusübertragung durch Hygieneschutzmaßnahmen wirksam unterbunden werden können. Das Öffnungsverbot für den überwiegenden Teil ihres Betriebs sei daher nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig gewesen. Die Differenzierung zwischen Ladengeschäften des Einzelhandels mit bis zu 800 qm Verkaufsfläche und mit mehr als 800 qm sei willkürlich gewesen. Die Ausnahmen vom Öffnungsverbot in § 5 Abs. 5 VO-CP für unter anderem Gartenmärkte, Fahrradhändler und Buchhandlungen seien nicht nachvollziehbar. Für die Privilegierung von Geschäften mit einem Mischsortiment habe es keinen sachlichen Grund gegeben. Außerdem fänden die angegriffenen Verordnungsregelungen in § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 27. März 2020 keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage.

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Der Antragsgegner verteidigt das angegriffene Urteil und tritt dem Revisionsvorbringen entgegen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision der Antragstellerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i. V. m. § 125 Abs. 1 und § 141 VwGO), ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Normenkontrollantrag der Antragstellerin ist – entgegen der Annahme des Oberverwaltungsgerichts – zulässig (1.). Für eine abschließende Entscheidung über die Wirksamkeit der angegriffenen Verordnungsregelungen fehlen dem Senat die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen. Das führt gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (2.).

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1. Der gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO statthafte Normenkontrollantrag ist zulässig. Die Antragstellerin hat – was insoweit allein streitig ist – das erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung, dass § 5 Abs. 4 und 5 VO-CP unwirksam war.

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a) Ist die angegriffene Norm – wie hier – während der Anhängigkeit eines Normenkontrollantrags außer Kraft getreten, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels unter anderem dann fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2023 – 3 CN 5.22 – NVwZ 2023, 1846 Rn. 15 und vom 21. Juni 2023 – 3 CN 1.22 – BVerwGE 179, 168 Rn. 13, jeweils m. w. N.). Das ist hier der Fall. Innerhalb der Geltungsdauer der Verordnung war Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren nicht zu erlangen. Der von der Antragstellerin geltend gemachte Eingriff in ihre durch Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG gewährleistete Berufsfreiheit hatte ein Gewicht, das die nachträgliche Klärung der Wirksamkeit der angegriffenen Verordnungsvorschrift rechtfertigt. Aufgrund dieser Vorschrift durfte sie in der Zeit vom 20. April bis 3. Mai 2020 ihr Warenhaus über eine Verkaufsfläche von 800 qm hinaus und mit Ausnahme des Lebensmittelbereichs nicht öffnen. Dass die Antragstellerin in der Rechtsform einer Personengesellschaft (GmbH & Co. KG) beruflich tätig ist, führt – anders als vom Oberverwaltungsgericht angenommen – nicht zu einer anderen Bewertung (vgl. BVerwG, Urteile vom 15. Februar 2024 – 3 CN 17.22 – juris Rn. 10 <GmbH & Co. KG> und vom 16. Mai 2023 – 3 CN 4.22 – BVerwGE 178, 298 Rn. 18 <Gesellschaft bürgerlichen Rechts> und – 3 CN 6.22 – BVerwGE 178, 322 Rn. 12, 16 <GmbH>; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. März 2022 – 1 BvR 1295/21 – NJW 2022, 1672 Rn. 25 <GmbH>).

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b) Auf die Frage, ob die Antragstellerin zudem im Hinblick auf die Präjudizwirkung der begehrten Feststellung für einen Staatshaftungsprozess ein berechtigtes Interesse hat, kommt es damit nicht an. Ein solches Präjudizinteresse ist allerdings nicht bereits deshalb zu verneinen, weil ein Entschädigungs- oder Schadensersatzanspruch für einen Eingriff durch eine rechtswidrige Verordnungsvorschrift von vornherein ausgeschlossen wäre. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst der Entschädigungsanspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs zwar nicht die Fälle legislativen Unrechts, in denen durch eine rechtswidrige oder verfassungswidrige gesetzliche Norm oder auf ihrer Grundlage – u. a. durch eine untergesetzliche Norm – in eine durch Art. 14 GG geschützte Rechtsposition eingegriffen wird. Wie der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 3. August 2023 – III ZR 54/22 – (BGHZ 238, 105 Rn. 29) klargestellt hat, gilt dies jedoch nicht, wenn der Eingriff durch rechtswidrige untergesetzliche Normen erfolgt, die – wie die Antragstellerin hier auch geltend macht – an eigenen, nicht auf ein Parlamentsgesetz zurückgehenden Nichtigkeitsgründen leiden.

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2. Über die Begründetheit des Normenkontrollantrags kann der Senat nicht abschließend entscheiden.

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a) Allerdings war § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045) i. d. F. des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) eine verfassungsgemäße Grundlage für die Schließung von Einzelhandelsbetrieben durch § 5 Abs. 4 VO-CP (vgl. BVerwG, Urteile vom 22. November 2022 – 3 CN 1.21 – BVerwGE 177, 60 Rn. 15 ff., 34 ff. und vom 16. Mai 2023 – 3 CN 6.22 – BVerwGE 178, 322 Rn. 17 ff. <jeweils zur Schließung von Gastronomiebetrieben und Sporteinrichtungen>).

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b) Ob indes die von der Antragstellerin geltend gemachten weiteren Einwände gegen die Wirksamkeit des § 5 Abs. 4 und 5 VO-CP durchgreifen, kann der Senat im Hinblick auf die vom Oberverwaltungsgericht vorzunehmende Auslegung irrevisiblen Landesrechts und mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen nicht abschließend entscheiden.

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c) Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts ist damit nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

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