Nichtannahmebeschluss: Missachtung des § 275 FamFG (Verfahrensfähigkeit des Betroffenen unabhängig von Geschäftsfähigkeit) im betreuungsgerichtlichen Verfahren verletzt Rechtsschutzgarantie (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) – allerdings Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Begründung (Nichtannahmebeschluss des BVerfG 1. Senat 2. Kammer)

BVerfG 1. Senat 2. Kammer, Nichtannahmebeschluss vom 23.05.2022, AZ 1 BvR 842/22, ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220523.1bvr084222

Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 1896 BGB

Verfahrensgang

vorgehend LG Hamburg, 14. März 2022, Az: 301 T 61/22, Beschluss

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil kein zwingender Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 BVerfGG vorliegt und auch sonst kein Grund für ihre Annahme besteht. Sie ist mangels Begründung, die den aus § 92 und § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVerfGG folgenden Anforderungen genügt, unzulässig; damit hat die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).

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1. Zwar dürfte das Beschwerdegericht durch die unterbliebene Anwendung von § 275 FamFG in der angegriffenen Entscheidung die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt haben.

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§ 275 FamFG soll sicherstellen, dass die Betroffene in allen betreuungsrechtlichen Verfahren ohne Rücksicht auf ihre Geschäftsfähigkeit als verfahrensfähig zu behandeln ist. Die von der Geschäftsfähigkeit unabhängige Verfahrensfähigkeit soll die Rechtsposition der Betroffenen im Betreuungsverfahren stärken. Sie soll nicht bloßes Verfahrensobjekt sein, sondern vielmehr als Verfahrenssubjekt ihren Willen selbst im Verfahren äußern und ihre Interessen selbst vertreten können. Die Verfahrensfähigkeit der Betroffenen ist damit Ausdruck der Anerkennung ihrer Menschenwürde und ihres Persönlichkeitsrechts (vgl. BTDrucks 11/4528, S. 89, 170 zur Vorgängervorschrift § 66 FGG). Dabei befähigt § 275 FamFG die betroffene Person unter anderem dazu, eine Verfahrensvollmacht auch bei Fehlen eines natürlichen Willens zu erteilen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 6. Juli 2020 – 1 BvR 2843/17 -, Rn. 19, 21 m.w.N.).

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Indem das Landgericht die Beschwerden der Beschwerdeführerin mangels wirksamer Einlegung als unzulässig verwarf, weil die Betroffene nach den Erkenntnissen des zwischenzeitlich erstatteten Gutachtens der medizinischen Sachverständigen nicht geschäftsfähig sei, mithin den mit der Beschwerdeeinlegung betrauten Rechtsanwalt nicht habe bevollmächtigen können, hat es den Anspruch der Beschwerdeführerin auf effektiven (Eil-)Rechtsschutz verletzt. Dass das Beschwerdegericht § 275 FamFG, der einen Teil der grundrechtlichen Rechtsschutzgarantie einfachrechtlich verbürgt, in dem angegriffenen Beschluss weder erwähnt noch anwendet, ist schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar. Darin kommt eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung der Rechtsschutzgarantie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zum Ausdruck. Nach der Anschauung des Landgerichts wäre es ihr nämlich auch in Zukunft, das heißt auch in der ausstehenden Hauptsache, verwehrt, im gerichtlichen Betreuungsverfahren – neben oder anstelle eines gerichtlich bestellten Verfahrenspflegers – einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung ihrer Interessen zu betrauen.

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2. Dennoch ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Beschwerdeführerin das am 16. Februar 2022 erstattete Gutachten der medizinischen Sachverständigen nicht vorgelegt oder seinen wesentlichen Inhalt mitgeteilt hat. Zu der ordnungsgemäßen Begründung einer Verfassungsbeschwerde, die den Anforderungen aus § 92 und § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVerfGG genügt, gehört aber, dass die Beschwerdeführerin innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG alle zum Verständnis notwendigen Unterlagen in Ablichtung vorlegt oder zumindest ihrem wesentlichen Inhalt nach so mitteilt, dass eine verantwortbare verfassungsrechtliche Beurteilung möglich ist (vgl. BVerfGE 78, 320 <327>; 88, 40 <45>; 93, 266 <288>).

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Eine verantwortbare Beurteilung durch das Bundesverfassungsgericht ist wegen den bestehenden Lücken im Vortrag der Beschwerdeführerin, der die Ausführungen der Sachverständigen im Gutachten zum Gesamtkrankheitsbild, zur Geschäftsunfähigkeit sowie insbesondere zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 1896 BGB bei der Beschwerdeführerin ausspart, hier nicht möglich, da das Beschwerdegericht seine Entscheidung auf die Unbegründetheit der Beschwerde gestützt hat.

7

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

8

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.