Ist das Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen davon ausgegangen, dass dieser der Einrichtung einer Betreuung… (Beschluss des BGH 12. Zivilsenat)

BGH 12. Zivilsenat, Beschluss vom 04.05.2022, AZ XII ZB 50/22, ECLI:DE:BGH:2022:040522BXIIZB50.22.0

§ 1896 Abs 1a BGB, § 68 Abs 3 FamFG, § 278 FamFG

Leitsatz

Ist das Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen davon ausgegangen, dass dieser der Einrichtung einer Betreuung zustimmt und hat es sich deshalb nicht die Frage vorgelegt, ob eine Betreuung gegen den Willen des Betroffenen angeordnet werden kann, hat das Beschwerdegericht den Betroffenen erneut anzuhören, wenn dieser mit seiner Beschwerde gegen den Betreuungsbeschluss zu erkennen gegeben hat, dass er mit der Betreuung tatsächlich nicht oder nicht mehr einverstanden ist (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 31. Juli 2019 – XII ZB 108/19, FamRZ 2019, 1736).

Verfahrensgang

vorgehend LG München II, 20. Januar 2022, Az: 6 T 4627/21
vorgehend AG Miesbach, 12. November 2021, Az: XVII 312/21

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts München II vom 20. Januar 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Eine Festsetzung des Beschwerdewerts (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.

Gründe

I.

1

Das Amtsgericht hat für die 1939 geborene Betroffene wegen einer dementiellen Erkrankung nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens und nach persönlicher Anhörung eine Betreuung mit umfassendem Aufgabenkreis eingerichtet. Im Betreuungsbeschluss ist ausgeführt, dass die Betreuerbestellung „nicht gegen den Willen“ der Betroffenen erfolgt sei. Die auf den Wegfall des „Entmündigungsbeschlusses“ zielende Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen, ohne diese erneut anzuhören. Mit ihrer dagegen gerichteten Rechtsbeschwerde erstrebt die Betroffene weiterhin die vollständige Aufhebung ihrer Betreuung.

II.

2

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

3

1. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass die Beschwerdeentscheidung verfahrensfehlerhaft ergangen ist. Das Beschwerdegericht hätte die Betroffene erneut anhören müssen.

4

a) Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits durch das Gericht des ersten Rechtszugs ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Neue Erkenntnisse sind nach ständiger Rechtsprechung des Senats insbesondere dann zu erwarten, wenn der Betroffene an seinem in der amtsgerichtlichen Anhörung erklärten Einverständnis mit einer Betreuung im Beschwerdeverfahren nicht mehr festhält (vgl. Senatsbeschlüsse vom 31. Juli 2019 – XII ZB 108/19 – FamRZ 2019, 1736 Rn. 6 f. und vom 24. Juni 2015 – XII ZB 98/15 – FamRZ 2015, 1603 Rn. 5 f. mwN).

5

b) Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht nicht von der persönlichen Anhörung der Betroffenen absehen.

6

Ausweislich des amtsgerichtlichen Betreuungsbeschlusses erfolgte die Bestellung der Betreuerin „nicht gegen den Willen“ der Betroffenen. Auch in seinem ausführlich begründeten Nichtabhilfebeschluss hat das Amtsgericht ausgeführt, dass die Betroffene im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung „zu keinem Zeitpunkt geäußert“ habe, mit der Betreuung nicht einverstanden zu sein, sie vielmehr dazu bereit gewesen sei, mit der vorgesehenen Betreuerin zusammenzuarbeiten. Mit der Einlegung der Beschwerde hat die Betroffene indessen unmissverständlich zu erkennen gegeben, mit der Anordnung einer Betreuung nicht mehr einverstanden zu sein.

7

Wenn das Beschwerdegericht darauf abstellen will, dass die Betroffene schon in erster Instanz nur mit der Person der Betreuerin, nicht aber mit der Betreuungsanordnung als solcher (ausdrücklich) einverstanden gewesen sei, lässt dies seine Verpflichtung zur erneuten persönlichen Anhörung der Betroffenen nicht entfallen. Denn für diese Beurteilung ist allein maßgebend, dass es aus der maßgeblichen Sicht des Amtsgerichts nicht entscheidungserheblich war, ob eine Betreuung auch gegen den Willen der Betroffenen angeordnet werden durfte (vgl. § 1896 Abs. 1a BGB) und dementsprechend für das Amtsgericht auch keine Veranlassung bestand, sich auf der Grundlage des von ihm in der Anhörung gewonnenen persönlichen Eindrucks von der Betroffenen mit den Ausführungen der Sachverständigen Dr. W. zur krankheitsbedingt aufgehobenen freien Willensbildung und zur fehlenden Krankheitseinsicht auseinanderzusetzen. Legt sich deshalb – wie hier – das Beschwerdegericht erstmals im Rechtsmittelverfahren die Frage vor, ob der Betroffene zur Bildung eines freien Willens in der Lage ist, sind durch eine erneute persönliche Anhörung regelmäßig zusätzliche Erkenntnisse im Sinne des § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG zu erwarten, weil sie die nunmehr erforderlich werdende kritische Würdigung des Sachverständigengutachtens zu diesem Punkt ermöglichen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 16. Oktober 2013 – XII ZB 320/13 – BtPrax 2014, 38 Rn. 6 und vom 22. August 2012 – XII ZB 141/12 – FamRZ 2012, 1796 Rn. 14 mwN).

8

2. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

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