BSG 4. Senat, Beschluss vom 29.07.2025, AZ B 4 SF 12/25 S, ECLI:DE:BSG:2025:290725BB4SF1225S0
§ 17a Abs 2 S 3 GVG, § 58 Abs 1 Nr 4 SGG, § 57 SGG, § 98 S 1 SGG
Verfahrensgang
vorgehend SG Dortmund, 8. Juli 2025, Az: S 81 EG 12/21, Beschluss
Tenor
Das Sozialgericht Dortmund wird zum zuständigen Gericht bestimmt.
Gründe
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1. Die Voraussetzungen einer Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG („negativer Kompetenzkonflikt“) durch das BSG im vorliegenden Rechtsstreit liegen vor. Zwar sind rechtskräftige Verweisungsbeschlüsse für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, grundsätzlich bindend
(§ 98 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG). Die Bestimmung des zuständigen Gerichts hat aber zu erfolgen, wenn dies zur Wahrung einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Verweisungsbeschlusses kommt und keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten. Dies ist hier der Fall, nachdem sich sowohl das SG Karlsruhe als auch das SG Dortmund für örtlich unzuständig erklärt haben und das SG Dortmund zudem beim BSG beantragt hat, gemäß § 58 Abs 1 SGG das zuständige Gericht innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit zu bestimmen.
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2. Zuständig ist das SG Dortmund. Die Verweisung durch das SG Karlsruhe ist bindend.
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a) Das Gesetz schreibt in § 98 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG vor, dass eine Verweisung wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wird, bindend ist. Nur in seltenen Ausnahmefällen kommt eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Betracht, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichen Erwägungen beruht
(stRspr; zuletzt etwa BSG vom 14.6.2023 – B 11 SF 5/23 S – juris RdNr 2; BSG vom 16.10.2024 – B 4 SF 6/24 S – juris RdNr 3 mwN). Eine – aus Sicht des übergeordneten Gerichts – fehlerhafte Auslegung des Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Es kommt daher nicht darauf an, ob das übergeordnete Gericht die gleiche Rechtsauffassung vertreten würde, sondern ob die vom untergeordneten Gericht vertretene Rechtsauffassung noch vertretbar ist
(BSG vom 1.10.2024 – B 4 SF 4/24 S – juris RdNr 3; im Anschluss daran ebenso BFH vom 8.4.2025 – IX R 22/22 – juris RdNr 14). Unvertretbarkeit und damit Willkür im hiesigen Sinne liegt (erst) vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird und die vertretene Auffassung jedes sachlichen Grundes entbehrt, so dass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt
(stRspr; vgl nur BSG vom 21.2.2012 – B 12 SF 7/11 S – juris RdNr 9; BSG vom 1.10.2024 – B 4 SF 4/24 S – juris RdNr 3 mwN). Ist eine Entscheidung derart unverständlich, dass sie sachlich schlechthin unhaltbar ist, ist sie objektiv willkürlich
(BVerfG vom 7.4.1981 – 2 BvR 911/80 – BVerfGE 57, 39 [42] – juris RdNr 10; BVerfG [Kammer] vom 9.3.2020 – 2 BvR 103/20 – juris RdNr 64). Maßgeblich ist, ob die Entscheidung im Ergebnis objektiv vertretbar ist
(BVerfG [Kammer] vom 10.3.2022 – 1 BvR 484/22 – juris RdNr 10; BVerfG [Kammer] vom 18.7.2023 – 1 BvR 600/19 – juris RdNr 31; BVerfG [Kammer] vom 16.5.2024 – 1 BvR 1021/24 – juris RdNr 8;BSG vom 1.10.2024 – B 4 SF 4/24 S – juris RdNr 3 mwN). Es ist also nicht zu prüfen, ob die Entscheidung zutreffend begründet worden ist, sondern ob sie begründbar ist
(BVerfG [Kammer] vom 20.6.2023 – 1 BvR 524/22 – juris RdNr 20; BVerfG [Kammer] vom 16.5.2024 – 1 BvR 1021/24 – juris RdNr 8; BVerfG [Kammer] vom 24.4.2025 – 1 BvR 1902/24 – juris RdNr 9). Auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts kommt es hingegen nicht an
(BVerfG vom 7.4.1981 – 2 BvR 911/80 – BVerfGE 57, 39 [42] – juris RdNr 10; BVerfG [Kammer] vom 9.3.2020 – 2 BvR 103/20 – juris RdNr 64 mwN; BSG vom 1.10.2024 – B 4 SF 4/24 S – juris RdNr 3 mwN).
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b) Gemessen daran ist der Verweisungsbeschluss des SG Karlsruhe nicht willkürlich. Das SG Karlsruhe ist in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass die Kläger zum Zeitpunkt der Klageerhebung ihren Wohnsitz in D hatten, so dass das SG Dortmund örtlich zuständig sei. Diese Auffassung des SG Karlsruhe ist jedenfalls im Ergebnis nicht unvertretbar, weil angesichts der Angaben der Kläger in der Klageschrift die Annahme vertretbar war, dass sie zumindest ihren Aufenthaltsort
(§ 57 Abs 1 Satz 1 SGG; zum Begriff des Aufenthaltsorts BSG vom 27.9.2021 – B 11 SF 12/21 S – juris RdNr 6 mwN) zum Zeitpunkt der Klageerhebung in D und keinen (anderen) Wohnsitz im Inland hatten. Dies reicht zur vertretbaren Annahme, dass das SG Dortmund örtlich zuständig ist, aus. Denn auch die Auffassung, dass sich die örtliche Zuständigkeit bereits dann nach dem Aufenthaltsort des Klägers im Inland und nicht nach dem Sitz des Beklagten
(§ 57 Abs 3 SGG) richtet, wenn kein Wohnsitz im Inland, sondern allenfalls ein Wohnsitz im Ausland besteht, ist nicht unvertretbar
(vgl BSG vom 5.2.2025 – B 4 SF 1/25 S – juris RdNr 3 mwN zum Streitstand). Es kommt daher auf die Frage, ob die Kläger zum Zeitpunkt der Klageerhebung einen Wohnsitz oder Aufenthaltsort im Ausland hatten, nicht an.
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c) Der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses steht auch nicht entgegen, dass das SG Karlsruhe den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör
(Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt hätte. Zwar kann die Bindungswirkung des § 98 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG entfallen, wenn der Verweisungsbeschluss auf einer Verletzung des Anspruchs eines Beteiligten auf rechtliches Gehör beruht und dies – wie hier – von diesem Beteiligten innerhalb der für eine Anhörungsrüge geltenden Frist gerügt wird
(BSG vom 3.12.2009 – B 12 SF 18/09 S – SozR 4-1500 § 98 Nr 2 RdNr 7; BSG vom 21.2.2012 – B 12 SF 7/11 S – juris RdNr 9). Jedoch kann in der vorliegenden Konstellation keine Verletzung des Gehörsanspruch festgestellt werden.
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Der Hinweis des SG Karlsruhe auf den beabsichtigen Verweisungsbeschluss und die damit verbundene Gelegenheit zur Stellungnahme ist der Beklagten am 17.6.2021 zugegangen, ohne dass das SG Karlsruhe eine Frist zur Äußerung gesetzt hat. Zwar ist es sinnvoll und zweckmäßig, solche Gelegenheiten zur Stellungnahme mit einer Frist zu verbinden
(vgl BSG vom 14.10.2020 – B 4 AS 188/20 B – juris RdNr 14 mwN). Zwingend ist dies indes nicht
(vgl BVerfG [Kammer] vom 22.1.2019 – 2 BvR 93/19 – juris RdNr 5). Wird keine Frist gesetzt, muss aber eine angemessene Zeitspanne abgewartet werden, bevor das Gericht entscheidet
(BVerfG [Kammer] vom 22.1.2019 – 2 BvR 93/19 – juris RdNr 2 mwN). Die Frage, welche Frist angemessen ist, kann nicht abstrakt generell bestimmt werden, sondern hängt vom konkreten Einzelfall ab
(BVerfG [Kammer] vom 16.12.2002 – 2 BvR 654/02– juris RdNr 4; BVerfG [Kammer] vom 22.1.2019 – 2 BvR 93/19 – juris RdNr 4). Im vorliegenden Fall hat das SG Karlsruhe am 13.7.2021 entschieden, also knapp vier Wochen (26 Tage) nach Zugang des Hinweisschreibens beim Beklagten. Damit hat es eine noch ausreichende Zeit abgewartet. Eine generelle Vorgabe, dass in jedem Fall eine Zeitspanne von vier Wochen abgewartet müsse, wie dies die Beklagte meint, existiert nicht. Auch das BSG hat – in ohnehin nicht identischen Konstellationen – bislang nur entschieden, dass ein Abwarten von einem Monat „jedenfalls“ ausreicht
(BSG vom 29.11.2006 – B 6 KA 23/06 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 6) oder „regelmäßig“ vier Wochen zugewartet werden müssen
(BSG vom 31.3.2004 – B 4 RA 203/03 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 6 RdNr 9; BSG vom 2.7.2009 – B 14 AS 51/08 B – juris RdNr 10), also keine absolute Untergrenze umschrieben. Vielmehr hat es eine Äußerungsmöglichkeit auch von nur 18 Tagen
(BSG vom 16.12.2021 – B 9 V 32/21 B – juris RdNr 15) oder von „über drei Wochen“
(BSG vom 22.6.1998 – B 12 KR 85/97 B – juris RdNr 14) für ausreichend erachtet.
