BGH 5. Strafsenat, Urteil vom 19.12.2024, AZ 5 StR 588/24, ECLI:DE:BGH:2024:191224U5STR588.24.0
Verfahrensgang
vorgehend BGH, 19. November 2024, Az: 5 StR 588/24, Beschluss
vorgehend LG Zwickau, 16. Mai 2024, Az: 1 Ks 300 Js 14196/23
Tenor
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Zwickau vom 16. Mai 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten dieses Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbenannte Urteil wird verworfen.
Er hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
– Von Rechts wegen –
Gründe
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wenden sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen Revision und der Angeklagte mit seinem Rechtsmittel. Während die Revision der Staatsanwaltschaft Erfolg hat, ist diejenige des Angeklagten unbegründet.
I.
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1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der bislang unbestrafte Angeklagte mit etwa 15 Jahren im Jahr 1999 Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch seinen damaligen Fußballtrainer, den später getöteten H. . Nach dem anschließenden Realschulabschluss und Grundwehrdienst war der Angeklagte in verschiedenen Berufszweigen tätig. Ausgelöst durch einen Autounfall erkrankte er im Januar 2011 an einer dissoziativen Amnesie mit vollständigem Verlust seines episodischen und semantischen Gedächtnisses. Seit 2012 arbeitete er bis zu seiner Verhaftung in verschiedenen Bereichen, zuletzt als Vermessungstechniker.
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Die Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch blieben dem Angeklagten seit 2011 verborgen. Teile seines Gedächtnisses kehrten nur bruchstückhaft zurück. Allerdings hatte er Träume, in denen eine männliche Person vorkam, die sich – wie im erlebten Missbrauchsgeschehen – von hinten an ihn heranlegte. Durch sein Umfeld wurde dem Angeklagten schließlich bekannt, dass H. in der Jugendzeit sein Fußballtrainer gewesen war und eine Freiheitsstrafe wegen Straftaten mit pädophilem Hintergrund verbüßte. Der Angeklagte gelangte daher immer mehr zu der Annahme, dass H. der ihm in seinen Träumen erschienene Mann sei. Im Juni 2023 wollte er dies genauer herausfinden und entschloss sich, zu H. Kontakt aufzunehmen.
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Auf seinem Mobiltelefon hatte der Angeklagte bereits ab Mitte April 2023 zum Thema sexuellen Missbrauch und zu Hilfsorganisationen, aber auch zu Sexualstraftätern und deren Verurteilung recherchiert. Seiner Freundin W. schrieb der Angeklagte am 19. Juni 2023 unter anderem: „Das was ich mache, ist keine Arbeit, wie bei dir, das was ich mache gegen den sexuellen Kindesmissbrauch auf dieser Welt, ist mein Leben. Die Kinder den ich jeden Tag helfe, haben was schreckliches erlebt und werden wahrscheinlich nie ein normales Leben haben, wie wir es haben. Aber durch meine Arbeit, kann ich viele Täter daran hindern, dass sie dies noch mehr Kindern antun. Diese Kinder werden ein normales Leben haben. Diese Aufgabe, die ich mein Leben verschrieben habe, bedeutet mir alles und werde ich bis zum letzten Atemzug machen.“ Dass der Angeklagte tatsächlich aktiv Kindern geholfen hat, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind, hat das Landgericht nicht festgestellt; er beabsichtigte aber, eine Stiftung zu gründen.
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Am 25. Juni 2023 suchte der Angeklagte im Internet nach Anwälten wegen Kindesmissbrauchs und wegen Mordes. Zudem rief er an diesem Tag die Webseite der Juristischen Fakultät der Universität Hannover zum Thema Strafzumessung für Mord auf und recherchierte zu Selbstjustizprozessen sowie zu Rizin, K.O.-Tropfen und tödlichem Gift. Am 28. Juni 2023 gab er den Namen „ H. “ in die Personensuche eines elektronischen Telefonbuchs und einer Webseite zur Personensuche ein und informierte sich über das Einwohnermeldeamt. Am 1. Juli 2023 rief er eine Reportage über ein Leben in Sicherungsverwahrung auf, am Abend desselben Tages suchte er nach verschiedenen Anwälten. Schließlich rief er am 2. Juli 2023 die Webseite der Polizei Z. auf.
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Mit H. nahm der Angeklagte erstmals am 26. Juni 2023 Kontakt auf, nachdem er bereits am 13. und 18. April und am 25. Juni 2023 dessen Facebook-Profil aufgerufen hatte. Er erklärte dabei wahrheitswidrig, eine Abschiedsfeier vom aktiven Fußball mit allen Beteiligten zu planen, die in seinem Leben als Fußballspieler eine Rolle gespielt hätten, und bat H. , ihm aufgrund seines Erinnerungsverlustes über die damalige Zeit zu berichten. Tatsächlich wollte der Angeklagte Gewissheit darüber haben, ob H. ihn damals missbraucht hatte. Beide verabredeten schließlich ein Treffen am 3. Juli 2023, das auf Vorschlag des Angeklagten in seinem Haus stattfinden sollte.
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Bei diesem erkannte der Angeklagte seinen Besucher H. als den ihm im Traum erschienenen Mann. Aufgrund einer Verflachung seiner Emotionen in Folge der dissoziativen Amnesie konnte er keinen Groll gegen diesen hegen, sondern fand ihn nett und sympathisch. Beide unterhielten sich zwei Stunden über die frühere Zeit und verabredeten ein weiteres Treffen für den 5. Juli 2023 beim Angeklagten. Dabei wollte dieser H. auf den sexuellen Missbrauch ansprechen. Er plante aber nicht, ihn für das Geschehene zu bestrafen oder zu töten, sondern er wollte nur Gewissheit finden.
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Bei dem Treffen am 5. Juli 2023 unterhielten sich beide zunächst, H. erklärte, dass er wieder als Jugendtrainer bei einer U12-Mannschaft tätig sei. Der Angeklagte erklärte nun, er glaube, sich erinnern zu können, was H. ihm angetan habe. Dieser blickte nach unten und entschuldigte sich. Der Körper des Angeklagten fing an zu kribbeln, er bekam keine Luft mehr, rang um Atem und ging nach draußen. Vor der Haustür sackte er kurz zusammen, schnappte nach Luft und setzte sich auf eine Bank. Er dachte an die von H. trainierten Kinder und erblickte eine vor dem Haus stehende Axt.
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„Aufgrund einer Konfrontation mit einer Situation, die für das Entstehen der dissoziativen Amnesie beim Angeklagten verantwortlich war – der sexuelle Missbrauch durch H. –, kam es zu einer Bewusstseinsstörung beim Angeklagten. Das atavistische Paleobewusstsein übernahm das Kommando in der Psyche des Angeklagten, sein Hemmungsvermögen war erheblich vermindert. Der Angeklagte war nur noch eingeschränkt in der Lage, aus rationaler Überlegung heraus zu handeln, sich und sein Tun zu regulieren und seinen Willen zu steuern. In diesem Zustand ergriff der Angeklagte – dessen motorische Fähigkeiten uneingeschränkt erhalten blieben – die Axt und begab sich zurück ins Haus. Als der Angeklagte das Wohnzimmer betrat, saß H. auf der im Wohnzimmer freistehenden Couch mit dem Rücken zur Wohnzimmertür. Er bemerkte den hereinkommenden Angeklagten nicht und versah sich keines Angriffs. Für den Angeklagten war dieser Umstand jedoch nicht relevant. Von seinem steinzeitlichen Bewusstsein getrieben, schlug der affektiv hoch erregte Angeklagte ohne bewusste Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Geschädigten gegen 16.50 Uhr von hinten mindestens fünfmal mit der Axt auf dessen Hinterkopf ein. Nach dem letzten Schlag blieb die Axt im Schädel stecken. H. verstarb sofort.“
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Nachdem der Angeklagte nach der Tat im Bad wieder zu sich gekommen war und sich die Situation im Wohnzimmer noch einmal angeschaut hatte, brachte er anschließend seinen Hund zu seiner Mutter, kehrte noch einmal in das Haus zurück, weil er nicht wahrhaben konnte, dass er H. wirklich getötet hatte. Um 17.54 Uhr schrieb er seiner Freundin noch eine „letzte Nachricht“, in der er erklärte, etwas ganz Schlimmes gemacht zu haben und wahrscheinlich lange weg zu sein. Er fuhr zur Polizeidirektion Z. , stellte sich dort gegen 18 Uhr und gestand die Tat.
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2. Das Schwurgericht hat die Tat als Totschlag nach § 212 StGB gewertet und nach Anhörung dreier Sachverständiger angenommen, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei wegen eines Affekts im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert gewesen. Der Angeklagte habe zwar objektiv heimtückisch gehandelt, ihm fehle es aber wegen seiner starken affektiven Erregung an dem erforderlichen Ausnutzungsbewusstsein, insbesondere weil es ihm affektbedingt völlig gleichgültig gewesen sei, ob sein Opfer arg- und wehrlos gewesen sei oder nicht. Ein Handeln aus niedrigen Beweggründen liege ebenfalls nicht vor, denn aufgrund seines krankheitsbedingt verflachten Affekts sei er zur Bildung emotional aufgeladener Tatmotive wie Rache, Hass oder Selbstjustiz überhaupt nicht in der Lage gewesen. Er habe allenfalls aus Sorge um die vom Getöteten trainierten Kinder gehandelt. Dieses Motiv stehe sittlich nicht auf tiefster Stufe. Jedenfalls habe er aber ohne das erforderliche Motivbeherrschungspotential gehandelt, denn aufgrund seiner starken affektiven Erregung sei er im Tatzeitpunkt nicht in der Lage gewesen, die Motive seines Handelns zu erkennen und zu steuern.
II.
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Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.
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1. Die Staatsanwaltschaft bemängelt zu Recht, dass die Beweiswürdigung in Bezug auf eine mögliche Tatplanung Lücken aufweist, was sich sowohl auf den Schuldspruch als auch auf die Schuldfähigkeitsbeurteilung auswirkt.
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a) Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht Zweifel an dem Vorliegen eines den Angeklagten belastenden Sachverhalts nicht zu überwinden vermag. Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich deshalb darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. November 2021 – 5 StR 127/21 mwN). Lückenhaft ist eine Beweiswürdigung aber, wenn sich nach den Umständen des Einzelfalls aufdrängende Erörterungen unterbleiben; das Maß der gebotenen Darlegung hängt dabei von der jeweiligen Beweislage ab (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2022 – 5 StR 309/22). An die Bewertung der Einlassung eines Angeklagten sind dabei die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel. Entlastende Angaben des Angeklagten sind nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Wie auch im Übrigen hat sich das Tatgericht aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme eine Überzeugung von ihrer Richtigkeit oder Unrichtigkeit zu bilden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 16. August 2023 – 5 StR 434/22 mwN).
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b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht.
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aa) Die Strafkammer hat zu den Internetrecherchen des Angeklagten ausgeführt, seine Erklärung hierzu sei plausibel, dass er sich lediglich im Allgemeinen über die Themen habe informieren wollen. Selbst wenn man darin ein Spielen mit Mord- oder Tötungsgedanken im Hinblick auf den Geschädigten zu erkennen vermöge, auch unter Berücksichtigung einer gewissen zeitlichen Nähe zur Tat, folge daraus aber noch kein konkreter Tatplan. Gedankenspiele seien noch keine Mordabsichten. Zwar könnten derartige Recherchen im Internet durchaus ein Indiz für kriminelle Absichten liefern, jedoch habe der Angeklagte lediglich allgemein zum Thema Mord und Strafzumessung gesucht. Seine Suchanfragen ließen mangels Abfrage spezifischer Details keine bestimmten Tatplanungen erkennen. Er habe etwa nicht recherchiert, wie genau man mit einer Axt töte oder wie man einen Mord verschleiern könne. Zudem seien seine Suchanfragen nicht von einer besonderen Häufigkeit geprägt.
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Auch aus dem Umstand, dass sich der Angeklagte intensiv mit dem Thema Kindesmissbrauch beschäftigt und die Gründung einer Stiftung geplant habe, ließen sich keine konkreten Planungen zur Tötung des Geschädigten ableiten. Daraus folge lediglich, dass das Thema Kindesmissbrauch in den Gedanken des Angeklagten sehr präsent gewesen sei und dieser im Kampf gegen Kindesmissbrauch ein persönliches Anliegen für sich gesehen habe, was auch in seiner Nachricht an W. am 19. Juni 2023 zum Ausdruck komme.
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Schließlich sei seine Einlassung nachvollziehbar, er habe die Axt zufällig vor dem Haus stehen gehabt, weil er sie einen Tag zuvor zum Hacken von Feuerholz zwecks Verbrennen in einer Feuertonne benutzt habe. Das Haus des Angeklagten verfüge über eine solche Feuerstelle und es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Angeklagte am Tag vor der Tat nicht in seinem Garten gesessen und Feuerholz gehackt haben könnte.
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Zwar habe der Angeklagte bereits im April/Mai 2023 der Zeugin Wi. vom Verein „Gemeinsam gegen Missbrauch“ berichtet, dass er aufgrund eines Zeitungsartikels herausgefunden habe, wer ihn als Kind missbraucht habe, nämlich sein Jugendtrainer. Er habe gegenüber der Zeugin zudem angegeben, er sei sich sehr sicher, dass der im Zeitungsartikel geschilderte Täter und der Täter seines sexuellen Missbrauchs identisch sei. Jedoch folge aufgrund der besonderen persönlichen Krankengeschichte des Angeklagten daraus nicht, dass er – entgegen seiner Einlassung – schon vor der Tat am 5. Juli 2023 sichere Gewissheit darüber gehabt habe, dass es den sexuellen Missbrauch im Jahr 1999 gegeben habe und wer der Täter gewesen sei. Vielmehr sei vor dem Hintergrund des Gedächtnisverlustes die Suche nach der Wahrheit eine plausible Erklärung dafür, weshalb der Angeklagte den Geschädigten treffen wollte.
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Der vom Angeklagten berichtete Verlust der Erinnerung an den Tathergang sei ebenfalls plausibel. Er habe zwar anschließend bei der Polizeidirektion Z. angegeben, den Geschädigten mit mehreren Axthieben getötet zu haben. Dies erkläre sich aber dadurch, dass er beim Betrachten des Getöteten im Anschluss an die Tat festgestellt habe, dass er mehr als einmal zugeschlagen haben müsse.
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bb) Das Landgericht hat damit die für eine vorherige Tatplanung sprechenden Umstände in ihrem Beweiswert lediglich isoliert, nicht aber in der gebotenen Gesamtschau behandelt. Wie auch sonst bei Indizien erlangen derartige Umstände ihre relevante Beweisbedeutung aber erst, wenn sie zueinander in Beziehung gesetzt werden (vgl. nur BGH, Urteil vom 25. September 2024 – 5 StR 60/24 mwN). Eine umfassende Gesamtwürdigung mag zwar bei der Vorgeschichte der Tat nicht immer geboten sein. Erlangt die Frage, ob die Tat geplant war oder nicht, aber – wie hier – entscheidendes Gewicht für die gesamte Beurteilung des Falls, muss die Beweiswürdigung dem gerecht werden, wenn die Umstände des Einzelfalls dazu drängen. Dies war hier nach den Feststellungen des Landgerichts zu möglichen Indizien für eine Tatplanung der Fall: Angabe des Angeklagten gegenüber einer Zeugin im April/Mai 2023, er sei sich sehr sicher, wer ihn missbraucht habe; wenige Wochen später eine Nachricht gegenüber seiner Freundin, der Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch bedeute ihm alles und durch seine Arbeit könne er viele Täter daran hindern, dass sie dies noch mehr Kindern antun; anschließende Recherchen zu Sexualstraftätern, zu Mord- und Betäubungsmitteln, zu Selbstjustiz, zur Strafzumessung bei Mord, zum Leben in der Sicherungsverwahrung, zu Anwälten und zu der Polizeistation, wo er sich schließlich gestellt hat; Einladung des später Getöteten unter einem Vorwand; Tötung mit einer unmittelbar verfügbaren Axt nur wenige Tage nach der letzten Internetrecherche. Diese einzelnen Umstände hätte die Strafkammer zunächst zueinander in Beziehung setzen müssen, um vor diesem Hintergrund die gegen eine vorherige Tatplanung sprechenden Angaben des Angeklagten und gegebenenfalls weitere gegenläufige Indizien zu bewerten. Eine von der bisherigen Beurteilung abweichende Bewertung der Angaben des Angeklagten hätte auch geeignet sein können, seine übrigen Angaben (etwa zu einer Erinnerungslücke beim Kerngeschehen, vgl. hierzu Kröber FPPK 2024, 348, 352 mwN, aber auch BGH, Beschluss vom 28. Februar 1989 – 1 StR 32/89, BGHR StGB § 20 Affekt 2) in einem anderen Licht zu sehen.
22
c) Das Urteil beruht insgesamt auf dem Rechtsfehler. Der Schuldfähigkeitsbeurteilung liegt die Annahme zugrunde, dass die Tat nicht geplant, sondern ganz spontan in einem zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung führenden Affekt (vgl. hierzu BGH, Urteile vom 23. Januar 2020 – 3 StR 332/19; vom 21. August 1996 – 2 StR 212/96, NStZ 1997, 81; vom 7. September 1994 – 2 StR 285/94, BGHR StGB § 20 Affekt 3; sowie einerseits Saß in Kröber/Dölling/Leygraf/Saß, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band II, 2010, 343 ff., und andererseits Kröber FPPK 2024, 348 ff.) mit einem zufällig gefundenen Tatmittel begangen wurde. Ausgehend hiervon hat die Strafkammer die Voraussetzungen der Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe verneint.
23
2. Es kommt deshalb nicht mehr darauf an, dass das Urteil weitere Rechtsfehler zu Gunsten des Angeklagten aufweist.
24
a) Bei der Prüfung möglicher Affektkriterien hat der Sachverständige S. , dem das Landgericht insoweit gefolgt ist, unter anderem ausgeführt, es gebe keine Hinweise für ein aggressives Vorgestalten der Tat in der Phantasie des Angeklagten. Wie sich dies mit den Feststellungen zu Internetrecherchen des Angeklagten und der Erwägung der Kammer zu seinem möglichen Spielen mit Mord- und Tötungsgedanken hinsichtlich des Geschädigten vereinbaren lässt, erschließt sich nicht.
25
b) Die den Ausführungen des Sachverständigen M. (früherer Inhaber eines Lehrstuhls für Physiologische Psychologie) folgende Feststellung des Landgerichts, bei der Tatbegehung habe das „atavistische Paleobewusstsein“ das „Kommando über die Psyche des Angeklagten“ übernommen, steht in einem nicht näher aufgelösten Spannungsverhältnis zu den Ausführungen des forensisch-psychiatrischen Sachverständigen S. , denen das Landgericht hinsichtlich der Annahme einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung in Form eines Affekts gefolgt ist. Denn ein Affekt und die vom M. geschilderte Übernahme der Handlungskontrolle durch ein „atavistisches Paleobewusstsein“ bei gleichzeitig erhaltener motorischer Steuerungsfähigkeit sind nicht deckungsgleich. Dies gilt umso mehr, als das Landgericht unter Hinzuziehung des weiteren neurologischen Sachverständigen Ho. gerade diejenigen Ausführungen des Sachverständigen M. als widerlegt angesehen hat, in denen er die Auswirkungen der von ihm aufgrund seiner Diagnose einer dissoziativen Amnesie angenommenen Bewusstseinsreaktion auf die Psyche des Angeklagten dargestellt hat (non-convulsiver epileptischer Anfall in Form einer sehr plötzlichen unkontrollierbaren Reaktion des emotionalen Zentrums, die zu einer „Freischaltung“ der bis dahin blockierten Erinnerungen geführt habe).
26
c) Die Ausführungen des Schwurgerichts zum Ausnutzungsbewusstsein verfehlen den rechtlich gebotenen Maßstab. Danach ist nicht entscheidend (worauf allerdings das Landgericht maßgeblich abgestellt hat), ob es dem Täter gerade darauf ankommt, ein arg- und wehrloses Opfer zu töten, sondern nur, ob er die hierfür relevanten Umstände wahrnimmt und in dem Bewusstsein handelt, einen infolge der Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2019 – 5 StR 299/19, NStZ 2020, 348, 349 mwN). Hierfür ist relevant, ob die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, beeinträchtigt ist (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 2017 – 2 StR 10/17, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 41). Das Ausnutzungsbewusstsein kann dabei im Einzelfall bereits dem objektiven Bild des Geschehens entnommen werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt (vgl. BGH, Urteil vom 20. Oktober 1993 – 5 StR 473/93, BGHSt 39, 353, 369 f.; Beschluss vom 30. Juli 2013 – 2 StR 5/13, NStZ 2013, 709, 710; Urteil vom 15. November 2017 – 5 StR 338/17, NStZ 2018, 97, 98; Beschluss vom 16. Mai 2018 – 1 StR 123/18). Bei erhaltener Unrechtseinsicht ist die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt (vgl. BGH, Urteile vom 9. Oktober 2019 – 5 StR 299/19, NStZ 2020, 348, 349; vom 15. November 2017 – 5 StR 338/17, NStZ 2018, 97, 98; Beschlüsse vom 16. August 2018 – 1 StR 370/18, NStZ 2019, 142; vom 5. April 2022 – 1 StR 81/22, NStZ 2023, 33). All dem werden die Ausführungen der Schwurgerichtskammer nicht gerecht.
27
d) Die Ablehnung niedriger Beweggründe mangels Motivationsbeherrschungspotentials hat das Landgericht insbesondere auch auf die von ihm geteilte Einschätzung des Sachverständigen M. gestützt. Dieser habe ausgeführt, „dass es sich bei der Handlung des Angeklagten um einen Automatismus gehandelt habe, bei dem er null Kontrolle über sein Tun gehabt hätte.“ Dies steht in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis dazu, dass die Strafkammer lediglich von einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit ausgegangen und den Ausführungen dieses Sachverständigen zu den Auswirkungen seiner Diagnose auf den Zustand und die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Tatzeitpunkt gerade nicht gefolgt ist (siehe oben).
III.
28
Die mit der Sachrüge begründete Revision des Angeklagten zeigt keinen ihn belastenden Rechtsfehler auf und bleibt deshalb erfolglos.
Cirener Mosbacher Köhler
von Häfen Werner