BFH 5. Senat, Beschluss vom 18.07.2024, AZ V B 68/23, ECLI:DE:BFH:2024:B.180724.VB68.23.0
§ 122 Abs 1 AO, § 218 Abs 2 S 1 AO, § 122 Nr 2.8.3.2. AEAO, § 40 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO
Leitsatz
NV: Die Neubestellung eines Liquidators ist zur Bekanntgabe eines Bescheides nicht erforderlich, wenn eine gelöschte Kapitalgesellschaft durch einen Bevollmächtigten vertreten wird, der bereits vor Löschung bestellt wurde und dessen Bevollmächtigung die Entgegennahme von Entscheidungen der Finanzbehörde umfasst. Eine vor Löschung erteilte Vollmacht wirkt insoweit fort (vgl. Anwendungserlass zur Abgabenordnung zu § 122 Nr. 2.8.3.2.).
Verfahrensgang
vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 17. Oktober 2023, Az: 6 K 817/21, Urteil
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 17.10.2023 – 6 K 817/21 aufgehoben.
Die Sache wird an das Sächsische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
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Im April 1997 lehnte das Amtsgericht A die Eröffnung des Verfahrens der Gesamtvollstreckung über das Vermögen der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) mangels Masse ab. Im November 2011 wurde die Klägerin im Handelsregister wegen Vermögenslosigkeit gelöscht. Ein vom früheren Liquidator der Klägerin beantragter Nachtragsliquidator wurde nicht bestellt.
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Der frühere Liquidator der Klägerin hatte sich im Januar 1996 für Steuerschulden der Klägerin verbürgt. Die für die Vollstreckung beim Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt –FA–) zuständige Behörde erwirkte im September 2000 beim Amtsgericht B hinsichtlich der Bürgschaft einen –rechtskräftigen– Vollstreckungsbescheid und ließ auf dieser Grundlage im Juli 2010 und im Juni 2011 Zwangssicherungshypotheken im Grundbuch auf Grundstücken des früheren Liquidators der Klägerin eintragen.
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Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragte mit Schreiben vom 11.04.2020 beim FA die Erteilung eines Abrechnungsbescheides für sämtliche Steuerschulden der Klägerin, „vertr.d.d. [früheren] Liquidator“, sowie die Herausgabe der „Originalbürgschaft“. Dem Antrag war eine Vollmacht vom 03.09.2011 beigefügt, die der frühere Liquidator der Klägerin als deren Geschäftsführer unterzeichnet hatte und die unter anderem auch die Entgegennahme von Zustellungen, Ladungen und sonstigen Mitteilungen umfasste. Das FA lehnte den Erlass eines Abrechnungsbescheides mit Bescheid vom 21.07.2021 ab, da nicht die Klägerin als Steuerschuldnerin, sondern der frühere Liquidator der Klägerin als Bürge den Antrag auf Erlass eines Abrechnungsbescheides für sämtliche Steuerschulden der Klägerin gestellt habe. Die Vollmacht werde durch den Liquidationszweck beschränkt, die Liquidation der Klägerin sei indes wegen ihrer Löschung im Handelsregister und mangels Bestellung eines Nachtragsliquidators abgeschlossen. Es liege auch keine öffentlich-rechtliche Streitigkeit über eine Abgabenangelegenheit vor, da der frühere Liquidator als Bürge Einwendungen gegen seine Inanspruchnahme erhebe, für die der Zivilrechtsweg gegeben sei.
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Die hiergegen von der Klägerin, „vertr.d.d. [früheren] Liquidator“, erhobene Sprungklage, der das FA zustimmte, wies das Finanzgericht (FG) als unzulässig ab, da der Klägerin ein Rechtsschutzinteresse für den Erlass eines Abrechnungsbescheides fehle. Verfahrensrechtlich setze der Erlass eines Abrechnungsbescheides voraus, dass ein solcher im Fall eines Obsiegens gegenüber der im Handelsregister gelöschten Klägerin, die mangels Nachtragsliquidation über keinen gesetzlichen Vertreter verfüge, erlassen werden könne, was nicht möglich sei. Es sei auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen sich ein Steuerrechtsverhältnis der Klägerin zum FA ergeben sollte, und es bestehe –wegen der Löschung der vermögenslosen und nicht unternehmerisch tätigen Klägerin– kein (umsatz-)steuerrechtliches Verhältnis der Klägerin zum FA mehr, so dass die Klägerin nicht beteiligtenfähig sei. Die erteilte Prozessvollmacht betreffe nicht die Existenz eines Inhaltsadressaten. Die Klägerin habe danach kein schutzwürdiges Interesse an der vorliegenden Verpflichtungsklage. Das Interesse des Bürgen im zivilrechtlichen Verfahren führe zu keinem Rechtsschutzinteresse der Klägerin im finanzgerichtlichen Verfahren.
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Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das FG.
Entscheidungsgründe
II.
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Die Beschwerde ist begründet. Die von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensmängel im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegen vor.
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1. Das FG hat ein Rechtsschutzbedürfnis in verfahrensfehlerhafter Weise verneint.
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a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) liegt ein Verfahrensmangel vor, wenn über eine zulässige Klage nicht in der Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird. Dabei genügt es für die formgerechte Geltendmachung von Verfahrensmängeln, wenn in der Beschwerdebegründung die Tatsachen vorgetragen werden, die den Verfahrensmangel ergeben; die verletzte Vorschrift des Verfahrensrechts muss hingegen nicht zwingend ausdrücklich bezeichnet werden (BFH-Beschluss vom 30.08.2023 – X B 58/23, BFH/NV 2023, 1327, Rz 10 und 11).
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b) Gemäß § 40 Abs. 2 FGO ist die (Anfechtungs- oder Verpflichtungs-)Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt (oder dessen Unterlassung) in seinen Rechten verletzt zu sein. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Klagebefugnis gegeben, wenn es nach dem Klagevorbringen als zumindest möglich erscheint, dass das Behördenhandeln eigene subjektiv-öffentliche Rechte des Klägers verletzt (Möglichkeitstheorie). Umgekehrt fehlt die Klagebefugnis, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger geltend gemachten Rechte bestehen oder ihm zustehen können (vgl. BFH-Urteil vom 25.09.2019 – I R 82/17, BFHE 266, 516, BStBl II 2020, 229, Rz 29; BFH-Beschluss vom 30.08.2023 – X B 58/23, BFH/NV 2023, 1327, Rz 12). Zudem gehört zu den ungeschriebenen Sachentscheidungsvoraussetzungen einer jeden Anrufung des Gerichts das Rechtsschutzbedürfnis. Dieses fehlt unter anderem dann, wenn es für den Rechtsbehelfsführer einen verfahrensmäßig einfacheren und/oder schnelleren Weg gibt, das angestrebte Rechtsschutzziel zu erreichen (BFH-Urteil vom 21.08.2018 – X S 23/18, BFH/NV 2019, 35, Rz 12 und 13).
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c) Danach hat das FG im Streitfall sowohl die das Rechtsschutzbedürfnis konkretisierende Klagebefugnis (vgl. BFH-Urteil vom 25.11.2015 – I R 85/13, BFHE 252, 217, BStBl II 2016, 479, Rz 15) als auch das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin verfahrensfehlerhaft verneint. Die Klagebefugnis ergibt sich bereits aufgrund der durch Verwaltungsakt erfolgten Ablehnung der Erteilung eines Abrechnungsbescheides, der nach § 218 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) bei Streitigkeiten, die die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis betreffen, zu erteilen ist. Dem liegt zugrunde, dass das steuerrechtliche Verhältnis zwischen der Klägerin und dem FA jedenfalls aufgrund eines Anspruchs auf Herausgabe der Bürgschaftsurkunde (vgl. auch Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 244 AO Rz 22) noch nicht endgültig abgewickelt ist und deshalb über einen zwischen den Beteiligten bestehenden Streit über das Bestehen einer Steuerschuld, für die die Bürgschaft als Sicherheit dient, zu entscheiden ist. Das angestrebte Rechtsschutzziel der Klägerin, Klarheit über das Bestehen der für die Bürgschaft maßgebenden Steuerschuld zu erreichen, lässt sich auch nicht anders als durch den nach § 218 Abs. 2 AO für derartige Streitigkeiten vorgesehenen Abrechnungsbescheid auf einfachere oder schnellere Weise erreichen.
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d) Soweit das FG in diesem Zusammenhang darauf verweist, ein etwaiger Abrechnungsbescheid könne verfahrensrechtlich nicht mehr gegenüber der Klägerin mangels Nachtragsliquidator erlassen werden, übersieht es, dass die Neubestellung eines Liquidators zur Bekanntgabe eines Bescheides nicht erforderlich ist, wenn eine gelöschte Kapitalgesellschaft durch einen Bevollmächtigten vertreten wird, der bereits vor Löschung bestellt wurde und dessen Bevollmächtigung die Entgegennahme von Entscheidungen der Finanzbehörde umfasst. Eine vor Löschung erteilte Vollmacht wirkt insoweit fort (vgl. Anwendungserlass zur Abgabenordnung zu § 122 Nr. 2.8.3.2.). Das FG geht nicht darauf ein, dass steuerrechtlich eine gelöschte GmbH als fortbestehend angesehen wird, solange sie noch steuerrechtliche Pflichten zu erfüllen hat oder gegen sie ergangene Steuerbescheide oder Haftungsbescheide angreift, und behauptet auf Seite 5 seines Urteils bloß floskelhaft, die Beteiligungsfähigkeit der Klägerin werde durch die Löschung nicht berührt, ohne sich weiter damit auseinanderzusetzen, dass eine erteilte Prozessvollmacht über den Zeitpunkt der Löschung der GmbH und des Verlustes der gesetzlichen Vertretungsmacht ihres Geschäftsführers fortdauert und dies (auch) für die Prozess- und Postulationsfähigkeit genügt (vgl. BFH-Urteil vom 27.04.2000 – I R 65/98, BFHE 191, 494, BStBl II 2000, 500, unter III.1., III.2. und III.3.; vgl. auch BFH-Beschluss vom 15.02.2006 – I B 38/05, BFH/NV 2006, 1049, unter II.2.a).
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e) Die Klägerin hat diesen Verfahrensfehler zwar unter der Überschrift der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht. Sie hat aber alle Tatsachen vorgetragen, aus denen sich der Verfahrensfehler ergibt. Dies reicht für die Erfüllung der an eine Verfahrensrüge zu stellenden Darlegungsanforderungen noch aus.
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2. Die Entscheidung des FG ist zudem verfahrensfehlerhaft nicht im Sinne des § 119 Nr. 6 FGO mit Gründen versehen.
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a) Von einem Verstoß gegen das Begründungsgebot (§ 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO) und damit vom Vorliegen eines Verfahrensmangels im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 6 FGO ist (nur) dann auszugehen, wenn den Beteiligten –zumindest in Bezug auf einen der wesentlichen Streitpunkte– die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Dabei hat sich die Abgrenzung zwischen erheblichen und nicht wesentlichen Begründungsmängeln am Zweck der Urteilsbegründung zu orientieren, der darin besteht, für den Ausspruch der Urteilsformel den Nachweis der Rechtmäßigkeit zu liefern (vgl. BFH-Beschluss vom 19.12.2016 – XI B 57/16, BFH/NV 2017, 599, Rz 22). Ein Urteil enthält unter anderem dann keine hinreichenden Entscheidungsgründe, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergeht oder einen bestimmten Sachverhaltskomplex überhaupt nicht berücksichtigt (BFH-Beschluss vom 10.01.2024 – XI B 13/22, BFH/NV 2024, 401, Rz 14). Unter selbständigen Ansprüchen und selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln sind dabei die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- und Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (BFH-Urteil vom 14.11.2018 – XI R 32/17, BFH/NV 2019, 280, Rz 22).
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b) Danach hat das FG bei der Abweisung der Klage durch Prozessurteil mangels Rechtsschutzbedürfnisses –wie die Klägerin rügt und hinreichend geltend macht– übersehen, dass ein Rechtsschutzbedürfnis auf Erteilung eines Abrechnungsbescheides auf einem öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und dem FA beruhen kann, das aufgrund der Annahme der Bürgschaft des ehemaligen Liquidators der Klägerin als Sicherheitsleistung für die Steuerschulden der Klägerin bestand und aus dem die Klägerin die Rückgabe der Bürgschaftsurkunde verlangen kann, falls ihr gegenüber keine dadurch gesicherten Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis mehr bestehen. Dies hat die Klägerin als selbständiges Angriffsmittel bereits mit ihrem Schreiben vom 11.04.2020 und im finanzgerichtlichen Verfahren vorgebracht. Die Annahme einer Bürgschaft als Sicherheitsleistung nach § 241 Abs. 1 Nr. 7, § 244 AO erfolgt im Verhältnis zwischen dem Sicherungsgeber, hier der Klägerin, und dem FA durch Verwaltungsakt, so dass zwischen diesen beiden eine öffentlich-rechtliche Beziehung besteht (Heuermann in HHSp, § 244 AO Rz 22). Das FG hat sich –trotz des Vorbringens der Klägerin– hiermit überhaupt nicht auseinandergesetzt, sondern lediglich floskelhaft behauptet, es sei nicht ersichtlich, woraus sich ein Steuerrechtsverhältnis der Klägerin zum FA ergeben sollte, und dass „aufgrund der Löschung der (…) Klägerin (…) auch kein (umsatz-)steuerliches Verhältnis“ zum FA mehr bestehe.
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3. Der Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Streitfall an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
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4. Von einer weitergehenden Begründung wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.
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5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.