Pressemitteilung Nr. 102/2022 vom 2. Dezember 2022
Beschluss vom 20. Oktober 2022
1 BvR 201/20
Mit am heutigen Tag veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde eines Musikers nicht zur Entscheidung angenommen, der sich gegen die Indizierung eines dem Genre „Gangsta-Rap“ zuzuordnenden Musikalbums aus Jugendschutzgründen wendet. Die Indizierung des Musikalbums verletzt den Beschwerdeführer nicht in seiner Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (GG).
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist ein Musiker, dessen Werke dem Genre „Gangsta-Rap“ zuzuordnen sind. Sein Album „S.“ erschien im Februar 2014. Dessen namensgebende Filmfigur soll zugleich ein Alias des Beschwerdeführers sein. Es besteht aus 15 Titeln, deren Texte ganz überwiegend vom Beschwerdeführer stammen.
Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien leitete im Oktober 2014 ein Indizierungsverfahren ein. Sie beschloss, das Trägermedium „S.“ nach § 18 Abs. 1 des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) in Teil A der Liste der jugendgefährdenden Medien einzutragen. Damit verbunden ist das Verbot, das Album gegenüber Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen, zu bewerben und zu verbreiten.
Die Bundesprüfstelle begründete die Indizierung unter Bezugnahme auf seine ständige Spruchpraxis und die höchstrichterliche Rechtsprechung damit, dass der Inhalt der CD „S.“, dem Trägermedium, geeignet sei, Kinder und Jugendliche sozialethisch zu desorientieren. Insbesondere wirkten die Texte des Albums verrohend, verherrlichten einen kriminellen Lebensstil und insbesondere den Drogenhandel, und diskriminierten Frauen und homosexuelle Menschen.
Der Beschwerdeführer ersuchte gegen die Indizierung vor den Verwaltungsgerichten um Rechtsschutz, der im verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren letztinstanzlich vor dem Bundesverwaltungsgericht erfolglos blieb.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich eine Verletzung seiner Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Die durch die Indizierung erfolgten Eingriffe in den Wirkbereich seiner Kunstfreiheit seien nicht gerechtfertigt, weil die angegriffenen Entscheidungen auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruhten, das zudem in verfassungswidriger Weise angewandt worden sei.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen der Bundesprüfstelle und des Bundesverwaltungsgerichts verletzen die Kunstfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht.
1. Anhaltspunkte dafür, dass die §§ 15, 18 JuSchG verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen könnten, sind der Verfassungsbeschwerde nicht zu entnehmen. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit ergeben sich insbesondere nicht aus dem Argument, aufgrund eines veränderten Musiknutzungsverhaltens über das Internet sei das aktuelle Indizierungsverfahren nicht mehr geeignet, den Jugendschutz umfassend zu gewährleisten. Gleiches gilt für das Argument, das Jugendschutzgesetz müsse als milderes Mittel gegenüber der Indizierung eines gesamten Trägermediums auch die Indizierung nur einzelner Titel vorsehen. Denn für die Verhältnismäßigkeit kommt es im Rahmen der Eignung nicht darauf an, dass das vom Gesetzgeber gewählte Mittel am besten geeignet ist, einen umfassenden Jugendschutz zu gewährleisten, sondern lediglich auf die Förderung des legitimen Zwecks des Jugendschutzes durch die Indizierung. Auch an der Erforderlichkeit eines Indizierungsverfahrens, das auf den jugendgefährdenden Gesamtcharakter eines Trägermediums abstellt, bestehen verfassungsrechtlich keine Zweifel.
2. Die angegriffene fachgerichtliche Entscheidung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung der Bundesprüfstelle den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechend umfassend überprüft und dabei die berührten Grundrechte hinreichend berücksichtigt. Es ist ebenso wie die Bundesprüfstelle zutreffend davon ausgegangen, dass das Album des Beschwerdeführers in den sachlichen Schutzbereich der Kunstfreiheit fällt und dass seine Indizierung einen schwerwiegenden Eingriff in den Wirkbereich der Kunstfreiheit darstellt.
b) Die angegriffenen Entscheidungen gehen, ohne dass dies zu beanstanden wäre, davon aus, dass dieser Eingriff zu rechtfertigen ist. Die vom Bundesverwaltungsgericht bestätigte Abwägung der Bundesprüfstelle ist verfassungsrechtlich nicht zu bemängeln. Beide haben sich ausführlich mit den zu gewichtenden Belangen der Kunstfreiheit und des Jugendschutzes befasst.
Das Kunstwerk muss vorliegend im Licht des Genres „Gangsta-Rap“ und seiner typischen Eigenschaften – musikalisch unterlegte und geführte Auseinandersetzung in harter Sprache als selbstermächtigende Reaktion auf Marginalisierung, die unter anderem auf antikonventionelle Stilmittel wie Übertreibung, Gewaltphantasien, Abwertung anderer Personen und Gruppen, Provokation und sogenanntes „Posing“ als betonte Selbstermächtigung setzt – betrachtet werden. Eine solche werkgerechte Interpretation des indizierten Tonträgers haben die Bundesprüfstelle und das Bundesverwaltungsgericht vorgenommen.
Sie haben das Kunstwerk auch keiner kunstfreiheitswidrigen Niveau-, Stil- oder Inhaltskontrolle unterworfen. Bundesprüfstelle und Bundesverwaltungsgericht haben vielmehr unter Bezugnahme auf die Wertschätzung des Werkes in Kritik und Wissenschaft das Gewicht der Kunstfreiheit im konkreten Fall bestimmt und in die Abwägung eingestellt.
Maßgeblich für die Entscheidung, hier dem Jugendschutz gegenüber der Kunstfreiheit Vorrang einzuräumen, ist die nachvollziehbare und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Erwägung, dass sich der Beschwerdeführer in dem indizierten Album von den dem Wortlaut nach unbestritten frauenverachtenden, homophoben und gewaltverherrlichenden Textpassagen nicht etwa durch Verfremdung oder satirische Überspitzung oder gar ausdrücklich distanziert hat. Dass es sich bei den Texten um im Genre des „Gangsta-Rap“ typische Wortspielereien handeln soll, die keinen Realitätsbezug aufweisen, ist jedenfalls nicht ohne Weiteres erkennbar. Durch die Bezugnahme auf autobiografische Details und durch das künstlerische Konzept von „S.“ als Alias seiner selbst stärkt der Beschwerdeführer im Gegenteil die Identifikation mit diesem Charakter und dessen Verhalten.
Die in dem vom Beschwerdeführer in Auftrag gegebenen Privatgutachten zum Ausdruck kommende Argumentation, dass bei werkgerechter Interpretation mit den Texten keine Herabwürdigung von Frauen, Homosexuellen oder Schwachen verbunden sei, Gewalt nicht glorifiziert werde und bei Aufrechterhaltung der Indizierung das gesamte Genre „Gangsta-Rap“ verboten werden müsste, dass alles nur Fiktion sei, „S.“ ein lyrisches Ich, dessen Aussagen die Rezipienten, die den „Gangsta-Rap“ verstanden hätten, einzuordnen wüssten, erscheint nicht zwingend. Gegen diese Deutung sprechen vielmehr die in den Texten des indizierten Albums benutzten, für sich genommen eindeutig abwertenden Begriffe und klar gewaltverherrlichenden Aussagen. Die Texte lassen auch erkennen, dass dem Beschwerdeführer die Möglichkeit einer solchen Rezeption bewusst ist und er sein künstlerisches Wirken auch darauf anlegt. Insofern darf die Abwägung nicht allein auf werkgerechter Interpretation beruhen, sondern muss auch die realen Auswirkungen eines Kunstwerks berücksichtigen. Die angegriffenen Entscheidungen stützen sich insoweit auf Erkenntnisse dazu, dass Kinder und Jugendliche den Wortlaut der Texte ernst nehmen, die besungenen Worte adaptieren, Taten nachahmen und dem Alias „S.“ insgesamt als Vorbild nacheifern können. Das ist verfassungsrechtlich jedenfalls nicht fehlsam.