BFH 8. Senat, Beschluss vom 10.05.2022, AZ VIII B 35/21, ECLI:DE:BFH:2022:B.100522.VIIIB35.21.0
§ 79 Abs 2 FGO, § 92 Abs 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 155 FGO
Leitsatz
NV: Hat das Gericht die Beteiligten über die Beiziehung der Akten von zivilgerichtlichen Verfahren nicht ordnungsgemäß informiert, verletzt es deren Anspruch auf rechtliches Gehör.
Verfahrensgang
vorgehend Thüringer Finanzgericht, 14. Oktober 2020, Az: 3 K 764/17, Urteil
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Thüringer Finanzgerichts vom 14.10.2020 – 3 K 764/17 aufgehoben, soweit die Entscheidung die Umsatzsteuer 2008 bis 2010 und die Einkommensteuer 2008 bis 2010 betrifft.
Im Übrigen wird die Beschwerde als unzulässig verworfen.
Die Sache wird an das Thüringer Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, soweit die Vorentscheidung aufgehoben wird.
Diesem wird die Entscheidung über die gesamten Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
1
Die Beschwerde ist teilweise begründet und teilweise als unzulässig zu verwerfen.
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Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht –FG– (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung –;FGO–), soweit die Vorentscheidung die Umsatzsteuer 2008 bis 2010 und die Einkommensteuer 2008 bis 2010 betrifft (s. unter 1.). Soweit die Vorentscheidung die Umsatzsteuer für 1999, Verspätungszuschläge, Solidaritätszuschlag und Zinsen zur Einkommensteuer 2008 bis 2010 sowie Verspätungszuschläge und Zinsen zur Umsatzsteuer 2008 und 2009 betrifft, ist die Beschwerde unzulässig, da der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) insoweit keine Zulassungsgründe den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügend darlegt (s. unter 2.). Die Zurückverweisung der Sache an einen anderen Senat des FG, soweit die Vorentscheidung aufgehoben wird, ist nicht veranlasst (s. unter 3.).
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1. Die vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) mehrfacher Verstöße gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, da das FG ihm die Beiziehung mehrerer Gerichtsakten aus zivilrechtlichen Streitigkeiten nicht mitgeteilt habe, liegen vor. Soweit die Vorentscheidung die Umsatzsteuer 2008 bis 2010 und die Einkommensteuer 2008 bis 2010 betrifft, kann die angefochtene Entscheidung auf diesen Fehlern auch beruhen.
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a) Nach § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Es handelt sich bei dieser Vorschrift um eine Ausgestaltung des durch Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör, dessen Verletzung einen absoluten Revisionsgrund i.S. des § 119 Nr. 3 FGO darstellt. Zieht das Gericht die Akten eines anderen Verfahrens bei, so sind die Beteiligten davon zu benachrichtigen (§ 79 Abs. 2, § 155 FGO i.V.m. § 273 Abs. 4 der Zivilprozessordnung –;ZPO–). Eine Mitteilung über die Beiziehung von Akten kann selbst dann nicht unterbleiben, wenn den Prozessbeteiligten der Inhalt der Akten vollständig bekannt ist. Denn diese Kenntnis bedeutet noch nicht, dass sich die Beteiligten zu diesen Tatsachen äußern konnten. Sie müssen im anhängigen Verfahren von der möglichen Verwertung der Akten erfahren. Nur dann besteht für sie ein Anlass zur Stellungnahme unter Berücksichtigung des Inhalts der beigezogenen Akten (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs –BFH–, vgl. z.B. Beschlüsse vom 20.08.1999 – VII B 4/99, BFH/NV 2000, 214; vom 14.12.1999 – IV B 101/99, BFH/NV 2000, 738; vom 26.07.2012 – IX B 164/11, BFH/NV 2012, 1643, Rz 3, und vom 28.02.2020 – X B 100/19, BFH/NV 2020, 914, Rz 28).
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b) Das FG hat zur Umsatzsteuer 2008 bis 2010 und zur Einkommensteuer 2008 bis 2010 verschiedene Gerichtsakten aus Zivilverfahren beigezogen, Teile davon kopiert und als Akteninhalt des FG-Verfahrens behandelt, ohne die Beteiligten darüber zu informieren oder ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu deren Inhalt zu geben. Das FG informierte den Kläger ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 14.10.2020 auch nicht in der mündlichen Verhandlung über die Aktenbeiziehung. Der Kläger erfuhr erst durch den Inhalt der Vorentscheidung von der Beiziehung und Auswertung des Akteninhalts durch das FG.
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aa) Der Berichterstatter des FG zog mit Anforderungsschreiben der FG-Geschäftsstelle vom 28.07.2020 beim Landgericht (LG) A-Stadt die Verfahrensakte zum Aktenzeichen …/14 und beim LG B-Stadt die Verfahrensakten zu den Aktenzeichen …/11 und …/12 bei. Mit weiterem Anforderungsschreiben der FG-Geschäftsstelle vom 30.07.2020 wurde beim LG B-Stadt die Akte zum Verfahren …/13 beigezogen. Durch Verfügung vom 06.08.2020 ordnete der Berichterstatter gegenüber der Geschäftsstelle an, ihm näher bezeichnete Blätter aus der Akte …/12 zu kopieren. Weitere Verfügungen des Berichterstatters zur Fertigung von Kopien bestimmter Aktenteile ergingen am 24.08.2020 zu den beigezogenen Akten der Verfahren …/14, …/11 und …/13. Hierüber hat der Berichterstatter den Kläger nicht informiert, obwohl die Aktenbeiziehung unmittelbar der Vorbereitung der bereits terminierten und geladenen mündlichen Verhandlung diente.
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bb) Eine Mitteilung über die Aktenbeiziehungen an den Kläger erfolgte auch nicht dadurch, dass der Berichterstatter in der mündlichen Verhandlung den Inhalt der Akten vortrug. Die Vorentscheidung enthält in ihrem Tatbestand keinen Hinweis auf die Beiziehung der genannten Verfahrensakten. Selbst wenn sich der wesentliche Inhalt der beigezogenen Akten und die daraus verwerteten Inhalte im Tatbestand des angefochtenen Urteils widerspiegeln sollten –was für den Senat nicht erkennbar ist–, liegt auch hierin keine Benachrichtigung über die Aktenbeiziehung. Aus der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung ist nur ersichtlich, dass der Berichterstatter den wesentlichen Inhalt der Akten vorgetragen hat. Zudem nimmt das FG erst in den Entscheidungsgründen der Vorentscheidung auf die Aktenzeichen der beigezogenen Verfahren und deren Inhalte Bezug.
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c) Das FG hat die genannten zivilgerichtlichen Akten nicht nur vorsorglich beigezogen, sondern Akteninhalte daraus auf S. 16, 20 und 23 für die klageabweisende Entscheidung zur Umsatzsteuer 2008 bis 2010 und zur Einkommensteuer für 2008 bis 2010, insbesondere zur Beurteilung von Zahlungseingängen als Umsätze und Betriebseinnahmen des Klägers, verwertet.
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d) Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist überdies schlüssig erhoben worden und enthält den substantiierten Vortrag des Klägers, zu welchem Inhalt der vom FG beigezogenen und ohne sein Wissen verwerteten Ermittlungsakten er sich nicht hat äußern können, was er bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch zusätzlich vorgetragen hätte und dass bei der Berücksichtigung des Vorbringens eine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre.
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e) Aufgrund der nur bestimmte Streitgegenstände betreffenden Verfahrensfehler hält es der beschließende Senat für sachgerecht, das FG-Urteil insoweit ohne sachliche Überprüfung aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).
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2. Soweit die Vorentscheidung die Umsatzsteuer für 1999, Verspätungszuschläge, Solidaritätszuschlag und Zinsen zur Einkommensteuer 2008 bis 2010 sowie Verspätungszuschläge und Zinsen zur Umsatzsteuer 2008 und 2009 betrifft, ist die Beschwerde unzulässig, da der Kläger insoweit keine Zulassungsgründe i.S. des § 115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 FGO den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügend darlegt.
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a) Zur Umsatzsteuer 1999 hat das FG die erhobene Klage als Untätigkeitsklage (§ 46 FGO) behandelt, die unbegründet sei. Der Kläger legt insoweit keinen Zulassungsgrund dar. Er rügt im Stile einer Revisionsbegründung, das FG habe ein Schreiben vom 30.12.2006 nach dem objektiven Empfängerhorizont als Einspruch auch gegen den Umsatzsteuerbescheid 1999 auslegen müssen. Mithin stützt der Kläger sich auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung des FG im Rahmen der Auslegung des Einspruchs, was keinen Zulassungsgrund i.S. des § 115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 FGO darstellt. Der weiterhin geltend gemachte Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, weil das FG dem Kläger nicht mitgeteilt habe, ob dem FG der Umsatzsteuerbescheid samt Zustellungsnachweis vorgelegen habe, wozu er dann weiter hätte vortragen können, ist als Rüge der Verletzung einer Hinweispflicht durch das FG (§ 76 Abs. 2 FGO) zu verstehen. Es wird vom Kläger hierzu aber nicht schlüssig dargelegt, warum die Entscheidung des FG, welche sich tragend nur mit der Auslegungsfrage befasst, ob ein Schriftsatz auch als Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid 1999 anzusehen sein könnte, auf dem gerügten Verstoß gegen die Hinweispflicht beruhen könnte.
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b) Zu den Verspätungszuschlägen zur Einkommensteuer 2008 bis 2010, zur Festsetzung des Solidaritätszuschlags 2008 bis 2010 und zu den Zinsen zur Einkommensteuer 2008 bis 2010 sowie für die Verspätungszuschläge und Zinsen zur Umsatzsteuer 2008 und 2009 legt der Kläger ebenfalls keine Zulassungsgründe dar. Das FG hat sich zu diesen Streitgegenständen in der Urteilsbegründung trotz der in der mündlichen Verhandlung gestellten Sachanträge des Klägers nicht ausdrücklich verhalten. Der Kläger hätte, wenn er insoweit von versehentlich übergangenen Sachanträgen ausgegangen wäre, eine nachträgliche Ergänzung der Vorentscheidung gemäß § 109 FGO beantragen können. Soweit ein Begründungsmangel der Entscheidung gemäß § 119 Nr. 6 FGO im Raum steht, macht der Kläger diesen Verfahrensfehler im Beschwerdeverfahren nicht geltend.
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3. Der Senat sieht keinen Anlass, die Sache gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO an einen anderen Senat des FG zurückzuverweisen. Allein der Umstand, dass eine vorinstanzliche Entscheidung wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben werden muss, reicht dazu grundsätzlich nicht aus. Hinzukommen muss vielmehr im Regelfall, dass ernstliche Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Vorinstanz bestehen (vgl. zum Ganzen BFH-Urteile vom 04.09.2002 – XI R 67/00, BFHE 200, 1, BStBl II 2003, 142, unter II.3., und vom 09.01.2018 – IX R 34/16, BFHE 260, 440, BStBl II 2018, 582, Rz 38; BFH-Beschluss in BFH/NV 2020, 914, Rz 46). Der Kläger beruft sich allein auf die aus seiner Sicht vorliegenden Verfahrensfehler, begründet jedoch nicht, warum ernstliche Zweifel an der Unvoreingenommenheit des 3. Senats des FG bestehen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.