BVerwG 4. Senat, Beschluss vom 20.10.2025, AZ 4 BN 34.24, ECLI:DE:BVerwG:2025:201025B4BN34.24.0
Verfahrensgang
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 2. Oktober 2024, Az: 1 KN 2/20, Urteil
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 2. Oktober 2024 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 40 000 € festgesetzt.
Gründe
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Die allein auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist jedenfalls unbegründet.
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Grundsätzlich bedeutsam ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), also näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des revisiblen Rechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. April 2025 – 4 B 19.24 – juris Rn. 3). Soll die grundsätzliche Bedeutung aus der Klärungsbedürftigkeit von Unionsrecht und der Notwendigkeit, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen, hergeleitet werden, ist darzulegen, dass in dem erstrebten Revisionsverfahren zur Auslegung einer entscheidungsrelevanten unionsrechtlichen Regelung voraussichtlich eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen sein wird und keine hinreichenden Gründe vorliegen, die die Einholung einer Vorabentscheidung entbehrlich erscheinen lassen. Die bloße Behauptung unionsrechtlicher Zweifelsfragen reicht hierfür nicht aus; vielmehr bedarf es einer nachvollziehbaren Ableitung des für möglich gehaltenen Regelungsgehalts der Vorschrift unter Durchdringung des normativen Umfelds und einer Auseinandersetzung mit der themenrelevanten Rechtsprechung, um ernsthafte Auslegungsschwierigkeiten darzutun (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 13. Juni 2023 – 4 BN 33.22 – BRS 91 Nr. 10 S. 95 f. m. w. N. und vom 28. März 2019 – 1 B 7.19 – juris Rn. 4).
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Daran gemessen rechtfertigen die von der Beschwerde aufgeworfenen Fragen zur Auslegung von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (im Folgenden: DL-RL) die Zulassung der Revision nicht.
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1. Die Fragen, ob
a) Art. 15 Abs. 3 Buchst. b DL-RL dahingehend auszulegen ist, dass ein Einzelhandelsausschluss in einem Bebauungsplan nur begrenzt insoweit gerichtlich überprüfbar ist, dass er nur in Fällen einigermaßen offensichtlicher Missgriffe nicht erforderlich ist, und
b) Art. 15 Abs. 3 Buchst. c DL-RL dahingehend auszulegen ist, dass ein Einzelhandelsausschluss in einem Bebauungsplan nur begrenzt insoweit gerichtlich überprüfbar ist, dass er nur in den Fällen von Abwägungsfehlern – wenn überhaupt keine Abwägung stattfindet, wenn die relevanten Belange nicht ermittelt oder nicht in die Abwägung eingestellt wurden, wenn die objektive Gewichtung der Belange verkannt oder die Belange nicht entsprechend ihrer objektiven Gewichtung in Ausgleich gebracht wurden – unverhältnismäßig ist,
unterstellen, dass die Vorinstanz die Vereinbarkeit des angegriffenen Änderungsbebauungsplans mit Art. 15 Abs. 3 DL-RL unter Anwendung der Rechts- bzw. Prüfungsmaßstäbe für die städtebauliche Erforderlichkeit im Sinne von § 1 Abs. 3 BauGB und das Abwägungsgebot nach § 1 Abs. 7 BauGB geprüft hat. Für diese Annahme bietet das angegriffene Urteil keine Grundlage. Das Oberverwaltungsgericht hat Art. 15 Abs. 3 DL-RL im Anschluss an die städtebauliche Erforderlichkeit (UA S. 15 ff.) sowie das Abwägungsgebot (UA S. 22 ff.) unter einem selbstständigen Prüfungspunkt (UA S. 27 ff.) behandelt, seiner Prüfung die – wörtlich zitierten – Definitionen für die Begriffe Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit in Art. 15 Abs. 3 Buchst. b und c DL-RL zugrunde gelegt und das Kohärenzgebot in den Blick genommen (UA S. 28 f.). Der Umstand, dass es im Rahmen dieser Prüfung teilweise auch auf seine Ausführungen zum Einzelhandelskonzept und zum Inhalt der Abwägung verwiesen hat, rechtfertigt nicht den Schluss auf eine „Gleichsetzung“ der Rechts- bzw. Überprüfungsmaßstäbe. Dass die Begriffe der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im Bauplanungsrecht und im Unionsrecht keine Gemeinsamkeiten aufweisen, ist im Übrigen nicht dargetan. Das Vorbringen der Beschwerde, die Erforderlichkeit nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB beziehe sich nur auf die Bauleitplanung als solche und nicht auf die einzelne Festsetzung, trifft zudem nicht zu. Richtig ist, dass § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB die Einzelheiten einer konkreten planerischen Lösung nicht betrifft. Dagegen muss nach der ständigen Rechtsprechung des Senats den Anforderungen der Erforderlichkeit nicht allein die Planung als Ganzes genügen, vielmehr muss jede ihrer Festsetzungen angesichts der von ihr verfolgten Ziele städtebaulich gerechtfertigt sein (vgl. zuletzt BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2024 – 4 CN 1.24 – BauR 2025, 440 <440> m. w. N.).
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2. Für die Fragen, ob
a) Art. 15 Abs. 3 Buchst. b und c DL-RL dahingehend auszulegen sind, dass es an der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eines Einzelhandelsausschlusses in einem Bebauungsplan fehlt, wenn der Bebauungsplan zur Umsetzung eines übergeordneten Konzepts zur Steuerung des Einzelhandels zum Schutz der städtischen Umwelt zwar einen Beitrag leistet, aber dieses Konzept zugleich nicht kohärent umgesetzt wird, weil ein nach dem Konzept nicht vorgesehener Standort durch einen anderen nach dem Konzept ebenfalls nicht vorgesehenen Standort ersetzt wird, und
b) Art. 15 Abs. 3 Buchst. b und c DL-RL dahingehend auszulegen sind, dass die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eines Einzelhandelsausschlusses in einem Bebauungsplan für den konkreten Fall nachzuweisen sind und dafür insbesondere gutachterlich die konkreten Auswirkungen der Planung und möglicher Planungsalternativen auf zwingende Gründe des Allgemeinwohls, namentlich den Schutz der städtischen Umwelt, zu untersuchen sind,
ist nicht den o. g. Anforderungen entsprechend dargelegt, dass – soweit sie auf einen verallgemeinerungsfähigen Kern zurückgeführt werden können – im Revisionsverfahren voraussichtlich eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union veranlasst wäre.
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In der von der Vorinstanz zugrunde gelegten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist geklärt, dass der Einzelhandel mit Waren eine Dienstleistung im Sinne von Art. 4 Nr. 1 DL-RL ist und die Bestimmungen in Kapitel III der DL-RL auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte anwendbar sind. Die Rechtmäßigkeit eines Einzelhandelsausschlusses in einem Bebauungsplan ist daher als territoriale Beschränkung (Art. 15 Abs. 2 Buchst. a DL-RL) unmittelbar an Art. 15 Abs. 3 DL-RL zu messen. Ob die dort genannten Bedingungen der Nicht-Diskriminierung, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit erfüllt sind, haben die nationalen Gerichte zu prüfen. Das Ziel des Schutzes der städtischen Umwelt – etwa zur Erhaltung der Lebensqualität im Stadtzentrum und zur Vermeidung von Leerstand im Stadtgebiet – kann ein zwingender Grund des Allgemeininteresses im Sinne von Art. 15 Abs. 3 Buchst. b DL-RL sein, der eine solche Regelung zu rechtfertigen vermag (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2018 – C-360/15 und C-31/16 [ECLI:EU:C:2018:44] – NVwZ 2018, 307 Rn. 97, 98 ff. und 126 ff.; BVerwG, Beschluss vom 30. Mai 2013 – 4 B 3.13 – Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 132 Rn. 4 m. w. N.). Eine nationale Regelung ist nur dann geeignet, die Erreichung eines angestrebten legitimen Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (zu Art. 15 Abs. 3 DL-RL vgl. EuGH, Urteil vom 4. Juli 2019 – C-377/17 [ECLI:EU:C:2019:562] – NVwZ 2019, 1120 Rn. 89 m. w. N.).
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a) Der Frage 2. a) ist bei wörtlichem Verständnis die Annahme unterlegt, dass der angegriffene Änderungsbebauungsplan den Anforderungen des Kohärenzgebots nicht gerecht wird, weil er einen im Einzelhandelszentren- und Nahversorgungskonzept der Antragsgegnerin von 2011 nicht vorgesehenen Standort durch einen anderen, im Konzept ebenfalls nicht vorgesehenen Standort ersetzt. Auch das geht am Urteil der Vorinstanz vorbei. Das Oberverwaltungsgericht hat einen Verstoß gegen das Kohärenzgebot verneint. Dass die Planung dem Einzelhandelskonzept diene, könne nicht schon deshalb verneint werden, weil sie das Konzept nicht vollständig umsetze. Mangels Bindungswirkung des Konzepts sei notwendig, aber auch ausreichend, dass die Planung den Zielen diene und diese insbesondere nicht konterkariere. An der Kohärenz fehle es nur, wenn die Planung der Gesamtkonzeption der Einzelhandelsverteilung widersprechen würde (UA S. 28). Dies hat das Oberverwaltungsgericht unter Hinweis auf die Unterschiede zwischen den beiden Standorten hinsichtlich ihrer städtebaulichen Integration verneint (UA S. 28, S. 20 ff.). Die Antragsgegnerin sei zu Recht davon ausgegangen, dass der neue Standort städtebaulich zumindest teilweise integriert sei und deshalb eine Ausnahme nach Leitsatz 4 des Konzepts angenommen werden könne. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die im Einzelhandelskonzept vorgesehene Planung des Nahversorgungszentrums „S.“ bislang nicht umgesetzt worden sei. Dementsprechend fehle in dieser Umgebung ein nach dem Konzept zentraler Versorgungsbereich, so dass negative Auswirkungen durch die Zulassung von Nahversorgungssortimenten außerhalb eines zentralen Versorgungsbereichs eher nicht zu erwarten seien und die Planung der Sicherung eines dichten Nahversorgungsnetzes diene. Die Planung stehe daher trotz der Abweichung von Leitsatz 5 im Einklang mit den Zielen des Konzepts. Hiermit setzt die Beschwerde sich nicht auseinander; Verfahrensrügen gegen die Tatsachenfeststellungen zur städtebaulichen Teilintegration des Standorts „B.“ und dem bislang nicht umgesetzten Nahversorgungszentrum „S.“ hat sie nicht erhoben.
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Vor diesem Hintergrund hält die Beschwerde bei wohlwollender Auslegung für grundsätzlich klärungs- und vorlagebedürftig, ob Art. 15 Abs. 3 Buchst. b und c DL-RL so auszulegen sind, dass jede Abweichung von einem städtebaulichen Einzelhandelskonzept zu einem Verstoß gegen die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im Sinne dieser Bestimmung führt. Sie zeigt aber keine Anhaltspunkte dafür auf, dass ein Verständnis des Kohärenzgebots im Sinne einer strikten Bindung der Gemeinde an das Einzelhandelskonzept bzw. eines Alles-oder-nichts-Prinzips normativ in der Dienstleistungsrichtlinie oder in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union angelegt ist. Der Gerichtshof hat die Prüfung, ob die in Art. 15 Abs. 3 Buchst. a bis c DL-RL genannten Anforderungen erfüllt sind, den nationalen Gerichten überlassen (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2018 – C-360/15 und C-31/16 – NVwZ 2018, 307 Rn. 133, 136). Ob ein unionsrechtlich legitimes Ziel (noch) in kohärenter Weise verfolgt wird und den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügt ist, kann nur anhand der gesamten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Es bedarf nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren, dass nicht jede Abweichung von einem Einzelhandelskonzept dieses als Leitlinie der Planung für das gesamte Gemeindegebiet hinfällig werden lässt. Allerdings bestimmt das Ausmaß der Durchbrechungen das Gewicht, das dem Konzept in der Abwägung zukommt: Je häufiger und je umfangreicher ein Entwicklungskonzept in der Vergangenheit missachtet worden ist, desto geringer ist sein Gewicht als wesentlicher Belang bei der Entscheidung über die Zulassung von Einzelhandelsstandorten im Gemeindegebiet (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. Januar 2009 – 4 C 16.07 – BVerwGE 133, 98 Rn. 28 und vom 27. März 2013 – 4 CN 7.11 – juris Rn. 12).
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Dass der zur Konkretisierung des Kohärenzgebots vom Oberverwaltungsgericht zugrunde gelegte Maßstab des „Konterkarierens“ bzw. eines Widerspruchs zur Gesamtkonzeption der Einzelhandelsverteilung (UA S. 28) unionsrechtlichen Bedenken begegnet, denen mittels Vorlage an den des Gerichtshof der Europäischen Union nachzugehen wäre, legt die Beschwerde nicht dar. Das Kohärenzgebot verlangt, dass das unionsrechtlich legitime Ziel tatsächlich verfolgt und die Geeignetheit der Maßnahme nicht konterkariert wird (vgl. zum Glücksspielrecht BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 8 C 17.12 – Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 286 Rn. 41 f. m. w. N. aus der Rechtsprechung des EuGH; zum Konterkarieren bei nur teilweiser Umsetzung des Planungskonzepts vgl. auch BVerwG, Urteile vom 27. März 2013 – 4 CN 7.11 – juris Rn. 13, 16 und – 4 C 13.11 – BVerwGE 146, 137 Rn. 12).
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b) Schließlich ist auch für die Frage 2. b) die Klärungsbedürftigkeit und Notwendigkeit einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nicht dargetan. Nach dessen Rechtsprechung bedarf es zum Beleg dafür, dass eine innerstaatliche restriktive Maßnahme den sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Anforderungen genügt, nicht zwingend einer Untersuchung, die dieser Maßnahme zugrunde lag (vgl. EuGH, Urteile vom 8. September 2010 – C-316/07 u. a. [ECLI:EU:C:2010:504] – NVwZ 2010, 1409 Rn. 72 und 107 und vom 4. Juli 2019 – C-377/17 – NVwZ 2019, 1120 Rn. 64 f., 85; zu den Anforderungen an die Eignung eines festgesetzten Einzelhandelsausschlusses vgl. auch BVerwG, Urteile vom 27. März 2013 – 4 CN 7.11 – juris Rn. 19 und – 4 C 13.11 – BVerwGE 146, 137 juris Rn. 19). Unionsrechtliche Anknüpfungspunkte dafür, dass abweichend davon die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eines Einzelhandelsausschlusses den konkreten Nachweis durch sachverständige Begutachtung verlangen, dass ein Einzelhandelsbetrieb, würde er außerhalb eines zentralen Versorgungsbereichs zugelassen, die zentralen Versorgungsbereiche im Gemeindegebiet schädigen würde, legt die Beschwerde nicht dar. Der Hinweis, der Raad van State habe nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 30. Januar 2018 in der Rechtssache C-31/16 in einem Zwischenurteil vom 20. Juni 2018 festgehalten, es sei Sache der planenden Gemeinde, die Wirksamkeit der Maßnahme auf der Grundlage einer Analyse mit konkreten Daten zu belegen, reicht dafür nicht aus. Der Gerichtshof hat entsprechende Vorgaben in seinem Urteil nicht aufgestellt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
