BFH 11. Senat, Urteil vom 17.07.2024, AZ XI R 18/22, ECLI:DE:BFH:2024:U.170724.XIR18.22.0
§ 10d Abs 4 S 4 EStG 2009, § 10d Abs 4 S 5 EStG 2009, § 35b Abs 2 S 2 GewStG 2002, § 35b Abs 2 S 3 GewStG 2002, § 40 Abs 2 FGO
Leitsatz
NV: Die Klage gegen einen auf 0 € lautenden Steuer- beziehungsweise Steuermessbescheid ist zulässig, wenn geltend gemacht wird, eine den verbleibenden Verlustvortrag beziehungsweise vortragsfähigen Gewerbeverlust erhöhende Besteuerungsgrundlage sei in ihm nicht (mehr) berücksichtigt (Beseitigung der negativen Bindungswirkung; Anschluss an BFH-Urteil vom 30.06.2020 – IX R 3/19, BFHE 269, 314, BStBl II 2021, 859).
Verfahrensgang
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 3. Mai 2022, Az: 8 K 8168/20, Urteil
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 03.05.2022 – 8 K 8168/20 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
1
Streitig ist die Zulässigkeit der Klage gegen Nullfestsetzungen.
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Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine GmbH; Gegenstand des Unternehmens der Klägerin ist … Im Rahmen einer Außenprüfung wurde festgestellt, dass die Klägerin im Jahr 2011 eine Rückstellung gebildet und diese unverändert auf die Jahre 2012 und 2013 vorgetragen hatte. Der Nachweis eines Rückstellungsbedarfes oder einer Verbindlichkeit sei nach Auffassung des Außenprüfers indes nicht erbracht worden; nach den Ausführungen im Prüfungsbericht sei die Rückstellung daher im Jahr 2012 gewinnerhöhend aufzulösen.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt –FA–) folgte der Auffassung des Außenprüfers und erließ am 23.01.2017 und 25.01.2017 geänderte Bescheide über Körperschaftsteuer und den Gewerbesteuermessbetrag und setzte die Körperschaftsteuer 2012 und den Gewerbesteuermessbetrag 2012 jeweils auf 0 € fest. Er erließ ferner Änderungsbescheide über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Körperschaftsteuer zum 31.12.2012 und zur Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31.12.2012 und stellte in beiden Bescheiden den verbleibenden beziehungsweise vortragsfähigen Verlustvortrag auf … € fest.
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Die Klägerin legte gegen die Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuermessbescheide 2011 bis 2014 Einspruch ein und machte unter anderem geltend, die Rückstellungen seien beizubehalten, da es sich um Zinsen bereits getilgter Darlehen handele, die bislang nicht ausgezahlt worden seien.
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Den Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 24.01.2019, die sich nach dem Rubrum –soweit für das vorliegende Verfahren relevant– auf die Körperschaftsteuer 2012 und den Gewerbesteuermessbetrag 2012 bezieht, als unbegründet zurück.
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Im Klageverfahren vor dem Finanzgericht (FG) wendete sich die Klägerin gegen die gewinnerhöhende Auflösung der Rückstellung. Das FG setzte mit Beschluss vom 15.12.2020 das Verfahren bis zum Abschluss des gegen die Bescheide über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Körperschaftsteuer zum 31.12.2012 und zur Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31.12.2012 gerichteten Einspruchsverfahrens aus und vertrat die Auffassung, über die Höhe des festzustellenden Verlustes könne wegen der Regelung in § 10d Abs. 4 Satz 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) bzw. § 35b Abs. 2 Satz 3 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) nur im Rahmen eines gegen die Verlustfeststellungsbescheide gerichteten Rechtsbehelfsverfahrens entschieden werden. Das FA hat die Einsprüche gegen die Verlustfeststellungsbescheide mit Einspruchsentscheidung vom 26.01.2021 als unbegründet zurückgewiesen. Die Verlustfeststellungsbescheide sind formell in Bestandskraft erwachsen.
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Das FG hat mit Urteil vom 03.05.2022 – 8 K 8168/20 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2022, 1467) die Klage wegen Körperschaftsteuer 2012 und Gewerbesteuermessbetrag 2012 als unzulässig abgewiesen. Über die Höhe des Verlustes im Falle der Nullfestsetzung wegen der Regelung in § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 KStG bzw. § 35b Abs. 2 Satz 3 GewStG könne ausschließlich im Rahmen eines gegen die Verlustfeststellungsbescheide gerichteten Rechtsbehelfsverfahrens entschieden werden. Diese Bescheide seien in Bestandskraft erwachsen. Es fehle daher für die Klage gegen die Nullfestsetzungen am Rechtsschutzinteresse. Dies entspreche zwar nicht der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), wonach auch bei einer Nullfestsetzung über die Höhe des Verlustes im Steuerfestsetzungsverfahren und nicht im Verlustfeststellungsverfahren zu entscheiden sei. Dem vermöge aber das FG nicht zu folgen.
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Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, nach der Rechtsprechung des BFH sei die Klage zulässig.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
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Das FA tritt der Revision nicht entgegen.
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Auch nach seiner Auffassung hätte das FG die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen.
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Die Beteiligten stimmen einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zu.
Entscheidungsgründe
II.
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Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –;FGO–). Das FG hat die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen.
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1. Gemäß § 40 Abs. 2 FGO ist eine Anfechtungsklage nur dann zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies ist bei der Anfechtung eines Nullbescheids regelmäßig nicht der Fall (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 08.11.1989 – I R 174/86, BFHE 158, 540, BStBl II 1990, 91; vom 30.06.2020 – IX R 3/19, BFHE 269, 314, BStBl II 2021, 859, Rz 15; jeweils m.w.N.). Ausnahmsweise kann die Klage gegen einen Nullbescheid jedoch zulässig sein, wenn der Bescheid sich für den Kläger deshalb nachteilig auswirkt, weil in ihm angesetzte Besteuerungsgrundlagen im Rahmen anderer Verfahren verbindliche Entscheidungsvorgaben liefern (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 07.12.2016 – I R 76/14, BFHE 256, 314, BStBl II 2017, 704, m.w.N.; vom 30.06.2020 – IX R 3/19, BFHE 269, 314, BStBl II 2021, 859, Rz 15, m.w.N.; vom 15.03.2023 – I R 41/19, BFHE 280, 131, Rz 16; vom 23.01.2024 – IX R 7/22, BStBl II 2024, 406, Rz 20).
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a) Eine Beschwer liegt vor, wenn die verlusterhöhende Besteuerungsgrundlage im angefochtenen Steuer- beziehungsweise Steuermessbescheid (nach Ansicht des Klägers) nicht oder nicht in vollem Umfang berücksichtigt ist, mithin der Gesamtbetrag der Einkünfte beziehungsweise der Gewerbeertrag zu hoch ist (vgl. BFH-Urteile vom 07.12.2016 – I R 76/14, BFHE 256, 314, BStBl II 2017, 704; vom 28.11.2018 – I R 41/18, BFH/NV 2019, 1109, Rz 19 ff.). Dann entfaltet der Steuerbescheid beziehungsweise Steuermessbescheid für die Verlustfeststellung aufgrund der Verweisung in § 10d Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 EStG i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 KStG bzw. in § 35b Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 GewStG auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) eine negative Bindungswirkung, die es verhindert, den Verlustvortrag beziehungsweise vortragsfähigen Gewerbeverlust in zutreffender Höhe festzustellen. Das Klagebegehren ist in diesem Fall darauf gerichtet, die negative Bindungswirkung zu beseitigen und eine positive Bindungswirkung zu erreichen (vgl. BFH-Urteil vom 30.06.2020 – IX R 3/19, BFHE 269, 314, BStBl II 2021, 859, Rz 18).
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b) Bei Anwendung dieser Grundsätze kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Das FG hat danach die Klage zu Unrecht für unzulässig erachtet.
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Die Klägerin hat für ihre Klage gegen die Bescheide über Körperschaftsteuer 2012 und den Gewerbesteuermessbetrag 2012 eine Beschwer in obigem Sinne geltend gemacht. Es geht ihr um die Beseitigung der negativen Bindungswirkung der nämlichen Bescheide gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 EStG bzw. § 35b Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 GewStG i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, die es verhindert, den Verlustvortrag aus seiner Sicht in zutreffender Höhe festzustellen (vgl. BFH-Urteil vom 30.06.2020 – IX R 3/19, BFHE 269, 314, BStBl II 2021, 859, Rz 18). Entgegen der Rechtsauffassung des FG stehen die Bestimmungen des § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG bzw. § 35b Abs. 2 Satz 3 GewStG der Annahme einer Beschwer nicht entgegen. Denn gerade diese Vorschriften erlauben die Berücksichtigung der zutreffenden Besteuerungsgrundlagen, auch wenn die Aufhebung, Änderung oder Berichtigung der Festsetzung der Steuer beziehungsweise des Steuermessbetrags unterbleibt (vgl. BFH-Urteile vom 07.12.2016 – I R 76/14, BFHE 256, 314, BStBl II 2017, 704, Rz 15; vom 10.12.2019 – I R 58/17, BFHE 271, 514, BStBl II 2021, 945; vom 30.06.2020 – IX R 3/19, BFHE 269, 314, BStBl II 2021, 859, Rz 17; vom 03.05.2022 – IX R 7/21, BFHE 277, 158, BStBl II 2023, 104, Rz 15; vom 04.05.2022 – I R 25/19, BFH/NV 2022, 1313, Rz 25). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.
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2. Die Sache ist nicht spruchreif und daher an das FG zurückzuverweisen. Das FG hat sich mit dem inhaltlichen Vorbringen der Beteiligten nicht befasst. Der Senat kann mangels hinreichender Feststellungen nicht in der Sache entscheiden (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 04.07.2007 – VIII R 77/05, BFH/NV 2008, 53, unter II.3.b; vom 22.06.2016 – V R 49/15, BFH/NV 2016, 1754, Rz 23; vom 18.10.2023 – XI R 39/22, BFHE 282, 216, BStBl II 2024, 490, Rz 9).
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3. Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 121 Satz 1, § 90 Abs. 2 FGO).
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4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.