BPatG München 23. Senat, Beschluss vom 22.06.2022, AZ 23 W (pat) 2/22, ECLI:DE:BPatG:2022:220622B23Wpat2.22.0
Tenor
In der Beschwerdesache
…
betreffend die Patentanmeldung 10 2015 110 770.8
hat der 23. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2022 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dr. Strößner und der Richter Dr. Friedrich, Dr. Nielsen und Dr. Kapels
beschlossen:
1. Der Beschluss der Prüfungsstelle für Klasse H01L des Deutschen Patent- und Markenamts vom 16. November 2021 wird aufgehoben.
2. Es wird ein Patent erteilt mit der geänderten Bezeichnung „Optoelektronische Vorrichtung” mit dem Anmeldetag 3. Juli 2015 unter Inanspruchnahme der Priorität TW 103123102 vom 3. Juli 2014 auf der Grundlage folgender Unterlagen:
– Patentansprüche 1 bis 10, übergeben in der mündlichen Verhandlung am 22. Juni 2022,
– Beschreibungsseiten 1, 2 und 2a, 3 bis 21, übergeben in der mündlichen Verhandlung am 22. Juni 2022,
– 12 Blatt Zeichnungen mit Figuren 1, 2, 3A bis 3C, 4A bis 4D, 5A bis 5C, 6A, 6B und 7, vom und eingegangen beim DPMA am 22. September 2015.
Gründe
I.
1
Die vorliegende Anmeldung mit dem Aktenzeichen 10 2015 110770.8 und der geänderten Bezeichnung „Optoelektronische Vorrichtung“ wurde am 3. Juli 2015 unter Inanspruchnahme der Priorität TW 103123102 vom 3. Juli 2014 beim Deutschen Patent- und Markenamt mit englischsprachigen Unterlagen elektronisch eingereicht. Mit Eingabe vom 22. September 2015 wurde eine deutsche Übersetzung der Anmeldungsunterlagen vorgelegt, und mit Schreiben vom 2. August 2018 wurden ein neuer Anspruchssatz eingereicht und Prüfungsantrag gestellt.
2
Die Prüfungsstelle für Klasse H01L hat im Prüfungsverfahren auf den Stand der Technik gemäß den Druckschriften
3
D1 US 6 573 537 B1,
4
D2 CN 103 490 000 A,
5
D3 US 2013 / 0 146 929 A1,
6
D4 US 2008 / 0 185 606 A1,
7
D5 DE 10 2008 011 848 A1,
8
D6 DE 10 2007 022 947 A1,
9
D7 DE 101 47 886 A1,
10
D8 US 8 309 971 B2,
11
D9 US 2012 / 0 326 171 A1,
12
D10 DE 10 2012 108 883 A1,
13
D11 DE 10 2008 062 933 A1,
14
D12 KR 10 1 368 720 B1 und
15
D13 US 2014 / 0 217 439 A1
16
verwiesen und im ersten Prüfungsbescheid vom 12. November 2018 ausgeführt, dass der mit Eingabe vom 2. August 2018 eingereichte geänderte Anspruchssatz unzulässig erweitert sei und der Gegenstand des Anspruchs 1 dem Fachmann durch den ermittelten Stand der Technik gemäß den Druckschriften D1 bis D4 nahegelegt werde. Um die Bedenken der Prüfungsstelle auszuräumen, hat die Anmelderin mit Eingabe vom 19. März 2019 einen neuen Anspruchssatz und angepasste Beschreibungsseiten 1 bis 2a vorgelegt, woraufhin die Prüfungsstelle eine Anhörung für den 16. November 2021 terminiert und im zugehörigen Ladungszusatz vom 18. Juni 2021 die Druckschriften D5 bis D9 in das Verfahren eingeführt sowie ausgeführt hat, dass auch der geänderte Anspruchssatz gegenüber den ursprünglichen Unterlagen unzulässig erweitert und der Gegenstand des Anspruchs 1 dem Fachmann durch Druckschrift D5 nahegelegt sei. Zum Schluss der am 16. November 2021 durchgeführten Anhörung, in der von der Prüfungsstelle die Dokumente D10 bis D13 als weiterer Stand der Technik vorgelegt und von der Anmelderin die Patenterteilung mit neuen Anspruchssätzen als Haupt- sowie 1., 2. und 3. Hilfsantrag beantragt wurde, hat die Prüfungsstelle die Anmeldung wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit bezüglich einer Kombination der Druckschriften D5 und D12 mit fachmännischem Wissen zurückgewiesen.
17
Der am 16. November 2021 verkündete und die Zurückweisungsgründe enthaltende Beschluss ist der Anmelderin mit Anschreiben vom 2. Dezember 2021 am 8. Dezember 2021 zugestellt worden.
18
Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2021 ist die Anmelderin ausführlich auf die nach ihrer Auffassung unsachgemäße Durchführung der Anhörung eingegangen und hat eine Korrektur der Niederschrift der Anhörung beantragt, was von der Prüfungsstelle mit Schreiben vom 11. Januar 2022 abgelehnt wurde, da aus der Schlussformel „v.u.g“ des Anhörungsprotokolls hervorgehe, dass die Vertreter der Anmelderin nach Vorlesen des Protokolls dieses genehmigt hätten.
19
Gegen die Zurückweisung der Anmeldung richtet sich die am 5. Januar 2022 beim Deutschen Patent- und Markenamt elektronisch eingegangene Beschwerde mit der nachgereichten Beschwerdebegründung vom 3. März 2022, in der die Anmelderin neben der Vorlage neuer Anspruchssätze die Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeregt hat.
20
Mit Schreiben vom 10. März 2022 hat der Senat der Anmelderin die Druckschrift
21
D2a US 2013 / 0 334 552 A1
22
als Übersetzung von Druckschrift D2 zugesandt und sie auf deren Relevanz hingewiesen, wobei die Anmelderin diesen Ausführungen in ihrer Eingabe vom 23. Mai 2022 widersprochen hat.
23
In der mündlichen Verhandlung am 22. Juni 2022 hat die Anmelderin einen neuen Anspruchssatz und geänderte Beschreibungsseiten vorgelegt.
24
Sie beantragt,
25
1. den Beschluss der Prüfungsstelle für Klasse H01L des Deutschen Patent- und Markenamts vom 16. November 2021 aufzuheben,
26
2. ein Patent zu erteilen mit der geänderten Bezeichnung „Optoelektronische Vorrichtung” mit dem Anmeldetag 3. Juli 2015 unter Inanspruchnahme der Priorität TW 103123102 vom 3. Juli 2014 auf der Grundlage folgender Unterlagen:
27
– Patentansprüche 1 bis 10, übergeben in der mündlichen Verhandlung am 22. Juni 2022,
28
– Beschreibungsseiten 1, 2 und 2a, 3 bis 21, übergeben in der mündlichen Verhandlung am 22. Juni 2022,
29
– 12 Blatt Zeichnungen mit Figuren 1, 2, 3A bis 3C, 4A bis 4D, 5A bis 5C, 6A, 6B und 7, vom und eingegangen beim DPMA am 22. September 2015.
30
Der in der mündlichen Verhandlung am 22. Juni 2022 eingereichte Anspruch 1 hat mit einer hinzugefügten Gliederung folgenden Wortlaut:
31
M1 Optoelektronische Vorrichtung, die umfasst:
32
M2 eine erste Halbleiterschicht (311) mit vier Grenzen, einer Ecke, die durch zwei der benachbarten Grenzen gebildet ist, einer ersten Oberfläche und einer zweiten Oberfläche entgegengesetzt zur ersten Oberfläche;
33
M3 eine zweite Halbleiterschicht (313), die auf der ersten Halbleiterschicht (311) ausgebildet ist;
34
M4 eine Elektrode (33) vom zweiten leitfähigen Typ, die auf der zweiten Halbleiterschicht (313) ausgebildet ist; und
35
M5 mehrere Elektroden (321, 324) vom ersten leitfähigen Typ, die auf der ersten Oberfläche ausgebildet sind, wobei die Elektroden (321, 324) vom ersten leitfähigen Typ getrennt sind und ein Muster bilden;
36
wobei das Muster umfasst:
37
M5.1 (i) einen oder mehrere erste Teile der Elektrode (321) vom ersten leitfähigen Typ, wobei der erste Teil der Elektrode (321) vom ersten leitfähigen Typ an der Ecke der ersten Halbleiterschicht (311) ausgebildet ist;
38
M5.2 (ii) einen oder mehrere weitere Teile der Elektrode (324) vom ersten leitfähigen Typ, wobei der weitere Teil der Elektrode (324) vom ersten leitfähigen Typ auf der ersten Halbleiterschicht (311) nahe einer oder mehrerer der Grenzen ausgebildet ist;
39
M5.3 wobei eine Form des ersten Teils der Elektrode (321) vom ersten leitfähigen Typ ein Kreis ist,
40
M5.4 wobei eine Form des weiteren Teils der Elektrode (324) vom ersten leitfähigen Typ eine verlängerte Form ist,
41
M6 wobei die Vorrichtung ferner eine dritte Elektrode (35) und eine vierte Elektrode (36) umfasst, wobei die dritte Elektrode (35) mit der Elektrode vom ersten leitfähigen Typ (321, 324) elektrisch verbunden ist und die vierte Elektrode (36) mit der Elektrode (33) vom zweiten leitfähigen Typ elektrisch verbunden ist,
42
M5.5 wobei der weitere Teil der Elektrode (324) vom ersten leitfähigen Typ einen Endabschnitt umfasst und der Endabschnitt nicht mit der vierten Elektrode (36) bedeckt ist,
43
M5.6 wobei der Endabschnitt nahe einer der Grenzen der ersten Halbleiterschicht (311) an der vierten Elektrode (36) vorbeigeführt ist;
44
M5.7 wobei in Draufsicht das Verhältnis der Fläche der dritten Elektrode (35) auf der ersten Halbleiterschicht (311) und der Fläche der vierten Elektrode (36) auf der ersten Halbleiterschicht (311) zwischen 80% und 100% liegt.
45
Hinsichtlich der abhängigen Ansprüche 2 bis 10 sowie der weiteren Unterlagen und Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II.
46
Die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde der Anmelderin ist zulässig und erweist sich nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung vom 22. Juni 2022 auch als begründet. Sie führt zur Aufhebung des Beschlusses der Prüfungsstelle für Klasse H01L vom 16. November 2021 und zur Erteilung des Patents gemäß dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag (§ 79 Abs. 1 PatG i. V. m. § 49 Abs. 1 PatG), denn die geltenden Patentansprüche sind zulässig (§ 38 PatG), und ihre gewerblich anwendbare Lehre (§ 5 PatG) ist auch patentfähig (§§ 1 bis 4 PatG).
47
Als Fachmann ist hier ein Physiker oder Elektrotechnikingenieur mit Hochschulabschluss und Erfahrung im Bereich der Entwicklung von Leuchtdioden zu definieren.
48
1. Die Anmeldung betrifft eine optoelektronische Vorrichtung mit einem Elektrodenmuster.
49
Das Funktionsprinzip einer Halbleiter-Leuchtdiode besteht darin, dass eine n-dotierte mit einer p-dotierten Halbleiterschicht in Kontakt gebracht und an der entstandenen pn-Halbleiterdiode in Durchlassrichtung eine Spannung angelegt wird, wodurch die Elektronen des n-Halbleiters mit den Löchern des p-Halbleiters rekombinieren und bei geeigneten Materialien Licht emittiert wird. Zur Erhöhung der Lichtemission wird bei hocheffizienten LEDs eine aktive Schicht an der Grenzfläche zwischen dem n- und p-Halbleiter eingefügt, die zur Unterstützung des Elektron-Loch-Rekombinationsprozesses eine Abfolge unterschiedlicher Halbleiterschichten umfasst, die sog. Heterostrukturen bilden.
50
In diesem Zusammenhang erläutert die Anmeldung anhand der nachfolgend wiedergegebenen Figuren 1 und 2 den herkömmlichen, schematischen Aufbau einer solchen LED-basierten Lichtemissionsvorrichtung (100). Diese umfasst ein transparentes Substrat (10) mit einem darauf aufgebrachten Halbleiterstapel (12) und einer Elektrode (14) auf dem Halbleiterstapel (12), wobei der Halbleiterstapel (12) von oben nach unten eine Halbleiterschicht (120) vom ersten leitfähigen Typ, eine aktive Schicht (122) und eine Halbleiterschicht (124) vom zweiten leitfähigen Typ aufweist.
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51
Zur elektrischen Kontaktierung ist die Lichtemissionsvorrichtung (100) mittels einer auf der Substratunterseite befindlichen Lötschicht (22) auf dem Schaltungsbereich (202) einer Montageeinheit (20) angeordnet und über eine bspw. als Bonddraht ausgebildete Verbindungsstruktur (24) mit einem weiteren Schaltungsbereich (202) elektrisch verbunden, vgl. Seite 1 bis Seite 2, erster Absatz der Beschreibung.
52
Vor diesem Hintergrund liegt der Anmeldung als technisches Problem die Aufgabe zugrunde, eine optoelektronische Vorrichtung mit einer homogenen lateralen Stromverteilung in der Halbleiterschicht bereitzustellen, vgl. Seite 5, erster Absatz der Beschreibung.
53
Gelöst wird diese Aufgabe durch die optoelektronische Vorrichtung des Anspruchs 1. Diese wird in der Anmeldung anhand der nachfolgend wiedergegebenen Figuren 3B und 4A beschrieben, wobei die relevanten Bezugszeichen durch Umrandung hervorgehoben sind. Figur 3B ist zwar eine Querschnittsdarstellung der in Figur 3A gezeigten Vorrichtung, jedoch gibt sie auch den grundlegenden Schichtaufbau der in Figur 4A dargestellten Vorrichtung wieder.
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54
Demnach umfasst die optoelektronische Vorrichtung (300) einen auf einem Substrat (30) ausgebildeten Epitaxiestapel (31) mit einer unteren ersten Halbleiterschicht (311), einer oberen zweiten Halbleiterschicht (313) und einer dazwischen ausgebildeten aktiven Schicht (312). Die erste Halbleiterschicht (311) ist in Draufsicht rechteckförmig und hat eine erste Oberfläche und eine zweite Oberfläche entgegengesetzt zur ersten Oberfläche sowie vier Seitenflächen, von denen zwei benachbarte an der Ecke eine Kante ausbilden. Mehrere Elektroden (321, 322, 323, 324) vom ersten leitfähigen Typ sind auf der ersten Oberfläche der ersten Halbleiterschicht (311) ausgebildet, wobei von Anspruch 1 nur die Elektroden mit Bezugszeichen 321 und 324 umfasst sind. Zusätzlich ist eine Elektrode (33) vom zweiten leitfähigen Typ auf der zweiten Halbleiterschicht (313) vorhanden. Da die Elektroden gemäß der Beschreibung auf Seite 7, Zeile 31 bis Seite 8, Zeile 3 nicht aus Halbleitermaterial, sondern aus Metall gebildet sind, kommt mit der Formulierung, dass die Elektroden vom ersten oder zweiten leitfähigen Typ sind, zum Ausdruck, dass die erste Halbleiterschicht (311) vom ersten und die zweite Halbleiterschicht (313) vom zweiten Leitfähigkeitstyp ist und dass die mehreren auf der ersten Oberfläche der ersten Halbleiterschicht (313) ausgebildeten Elektroden diese erste Halbleiterschicht vom ersten Leitfähigkeitstyp kontaktieren, während die auf der zweiten Halbleiterschicht (313) ausgebildete Elektrode (33) die zweite Halbleiterschicht vom zweiten Leitfähigkeitstyp kontaktiert. Zusätzlich sind eine dritte (35) und eine vierte (36) Elektrode über den Elektroden des ersten (321, 322, 323, 324) bzw. zweiten Leitfähigkeitstyps (33) ausgebildet. Dabei ist die dritte Elektrode (35) mit den mehreren Elektroden (321, 322, 323, 324) vom ersten leitfähigen Typ elektrisch verbunden, während die vierte Elektrode (36) mit der Elektrode (33) des zweiten leitfähigen Typs elektrisch verbunden ist. Eine erste und zweite Isolationsschicht (341, 342) dienen dabei der elektrischen Isolation der dritten (35) von der vierten (36) Elektrode und der Verhinderung einer unerwünschten Kontaktierung der ersten (311) bzw. zweiten (313) Halbleiterschicht.
55
Die dritte Elektrode (35) kontaktiert somit über die mehreren Elektroden (321, 322, 323, 324) vom ersten leitfähigen Typ die erste Halbleiterschicht (311), während die vierte Elektrode (36) über die Elektrode (33) vom zweiten leitfähigen Typ die zweite Halbleiterschicht (313) kontaktiert.
56
Die Vorrichtung des Anspruchs 1 zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die mehreren Elektroden (321, 322, 323, 324) vom ersten leitfähigen Typ auf der ersten Oberfläche der ersten Halbleiterschicht (311) getrennt sind und ein Muster bilden. Von diesen Elektroden gibt es vier Varianten, die in der Beschreibung als erster bis vierter Teil der Elektrode vom ersten leitfähigen Typ bezeichnet sind und von denen anspruchsgemäß zumindest der erste und vierte Teil vorhanden sein müssen, wobei der vierte Teil im Anspruchssatz als weiterer Teil der Elektrode vom ersten Leitfähigkeitstyp bezeichnet wird. Der erste Teil (321) der Elektrode ist kreisförmig und an der Ecke der ersten Halbleiterschicht (311) ausgebildet, wohingegen der vierte Teil (324) der Elektrode vom ersten leitfähigen Typ nahe einer oder mehreren der Grenzen ausgebildet ist und eine verlängerte Form mit einem Endabschnitt aufweist, der nicht mit der vierten Elektrode (36) bedeckt ist und nahe einer der Grenzen der ersten Halbleiterschicht (311) an der vierten Elektrode (36) vorbeigeführt wird. In Draufsicht liegt das Verhältnis der Fläche der dritten Elektrode (35) auf der ersten Halbleiterschicht (311) und der Fläche der vierten Elektrode (36) auf der ersten Halbleiterschicht (311) zwischen 80 und 100 Prozent, d. h. von oben betrachtet unterscheiden sich die Flächen der dritten und vierten Elektrode um maximal 20 Prozent.
57
In den Figuren 3B und 4A sind noch zwei andere Teile (322, 323) der Elektrode vom ersten leitfähigen Typ dargestellt, die jedoch nicht Gegenstand des Anspruchs 1 sind. Dabei ist der sog. zweite Teil (322) der Elektrode von der zweiten Halbleiterschicht (313) umgeben, d. h. er ist nicht an der Ecke oder am Rand, sondern im inneren Bereich ausgebildet, vgl. in Fig. 3C das Bezugszeichen 322. Der dritte bzw. zusätzliche Teil (323) der Elektrode hat eine andere Form als der vierte Teil und ist nahe einer anderen der vier Grenzen, d. h. nicht an der Grenze, wo der vierte Teil vorhanden ist, ausgebildet, vgl. Fig. 4A, Bezugszeichen 323.
58
2. Der in der Verhandlung überreichte Anspruchssatz ist zulässig (§ 38 PatG), da die beanspruchte Vorrichtung in den ursprünglichen Unterlagen offenbart ist.
59
Die Offenbarung der Merkmale M1 bis M5.5, M5.7 und M6 des Anspruchs 1 findet sich in den ursprünglichen Ansprüchen 1, 4, 5, 7, 9, 10 und 12, und das Merkmal M5.6 ergibt sich aus Fig. 4A. Die abhängigen Ansprüche 2 bis 10 sind die angepassten ursprünglichen Ansprüche 2 bis 4, 8, 11, 13 bis 15 und 17.
60
3. Die Lehre des Anspruchs 1 ist für den Fachmann ausführbar (§ 34 Abs. 4 PatG), da bereits dessen Wortlaut mit den Zeichnungen ausreichend ist, um dem Fachmann eine nacharbeitbare Lehre anzugeben und das Ausführungsbeispiel im Zusammenhang mit Figur 4A die beanspruchte Vorrichtung näher beschreibt.
61
4. Die gewerblich anwendbare (§ 5 PatG) optoelektronische Vorrichtung des Anspruchs 1 ist gegenüber dem ermittelten Stand der Technik neu (§ 3 PatG) und beruht diesem gegenüber auf einer erfinderischen Tätigkeit (§ 4 PatG) des Fachmanns, so dass sie gegenüber diesem Stand der Technik patentfähig ist (§ 1 Abs. 1 PatG).
62
Die den nächstkommenden Stand der Technik darstellende Druckschrift D2a offenbart anhand der nachfolgend wiedergegebenen Figuren 1, 2, 5A und 5B sowie der Beschreibung in den Absätzen [0048] bis [0075] eine optoelektronische Vorrichtung mit einer ersten (21) und einer zweiten (23) Halbleiterschicht sowie mehreren auf der Oberfläche der ersten Halbleiterschicht (21) ausgebildeten Elektroden (31), die getrennt sind und ein Muster bilden.
63
Im Einzelnen offenbart Druckschrift D2a in diesen Fundstellen mit den Worten des Anspruchs 1 eine (Unterschiede zum Anspruch 1 sind unter- bzw. durchgestrichen):
64
M1 Optoelektronische Vorrichtung
(light emitting element 100), die umfasst:
65
M2 eine erste Halbleiterschicht
(first conductivity type semiconductor layer 21) mit vier Grenzen, einer Ecke, die durch zwei der benachbarten Grenzen gebildet ist, einer ersten Oberfläche und einer zweiten Oberfläche entgegengesetzt zur ersten Oberfläche;
66
M3 eine zweite Halbleiterschicht
(second conductivity type semiconductor layer 23), die auf der ersten Halbleiterschicht
(21) ausgebildet ist;
67
M4 eine Elektrode
(second electrode layer 41) vom zweiten leitfähigen Typ, die auf der zweiten Halbleiterschicht
(23) ausgebildet ist; und
68
M5 mehrere Elektroden
(conductive via 31) vom ersten leitfähigen Typ, die auf der ersten Oberfläche ausgebildet sind, wobei die Elektroden
(31) vom ersten leitfähigen Typ getrennt sind und ein Muster bilden; wobei das Muster umfasst:
69
M5.1 (i) einen oder mehrere erste Teile der Elektrode
(31) vom ersten leitfähigen Typ, wobei der erste Teil der Elektrode
(31) vom ersten leitfähigen Typ an der Ecke der ersten Halbleiterschicht
(31) ausgebildet ist
(vgl. Fig. 2, 5B);
70
M5.2 (ii) einen oder mehrere weitere Teile der Elektrode
(31) vom ersten leitfähigen Typ, wobei der weitere Teil der Elektrode
(31) vom ersten leitfähigen Typ auf der ersten Halbleiterschicht
(21) nahe einer oder mehrerer der Grenzen ausgebildet ist
(vgl. Fig. 2, 5B);
71
M5.3 wobei eine Form des ersten Teils der Elektrode
(31) vom ersten leitfähigen Typ ein Kreis ist,
72
M5.4‘ wobei eine Form des weiteren Teils der Elektrode
(31) vom ersten leitfähigen Typ eine
verlängerteKreisform ist.
73
M6 wobei die Vorrichtung ferner eine dritte Elektrode
(first electrode connection part 32) und eine vierte Elektrode
(second electrode connection part 42) umfasst, wobei die dritte Elektrode
(32) mit der Elektrode vom ersten leitfähigen Typ
(31) elektrisch verbunden ist und die vierte Elektrode
(42) mit der Elektrode
(41) vom zweiten leitfähigen Typ elektrisch verbunden ist,
74
M5.5 wobei der weitere Teil der Elektrode (324) vom ersten leitfähigen Typ einen Endabschnitt umfasst und der Endabschnitt nicht mit der vierten Elektrode (36) bedeckt ist,
75
M5.6 wobei der Endabschnitt nahe einer der Grenzen der ersten Halbleiterschicht (311) an der vierten Elektrode (36) vorbeigeführt ist;
76
M5.7 wobei in Draufsicht das Verhältnis der Fläche der dritten Elektrode (35) auf der ersten Halbleiterschicht (311) und der Fläche der vierten Elektrode (36) auf der ersten Halbleiterschicht (311) zwischen 80% und 100% liegt.
77
Die optoelektronische Vorrichtung des Anspruchs 1 unterscheidet sich somit durch die Merkmale M5.5 bis M5.7 sowie durch die verlängerte Form des weiteren Teils der Elektrode vom ersten leitfähigen Typ von der in Druckschrift D2a offenbarten Vorrichtung. Zwar wird in Druckschrift D2a hervorgehoben, dass zur Verringerung des Kontaktwiderstands zwischen den Elektroden (31) und der ersten Halbleiterschicht (21) die Kontaktfläche dazwischen sowie die Anzahl und Form der Elektroden (31) angepasst werden können, vgl. Absatz [0066], wobei in den Absätzen [0075] und [0093] betont wird, dass durch die spezielle Ausbildung der Elektroden die Stromverteilung innerhalb der optoelektronischen Vorrichtung sowie deren Effizienz optimiert werden kann, was dem Fachmann die Anregung geben kann, die Elektroden (31) der in Druckschrift D2a offenbarten Vorrichtung entsprechend den Merkmalen M5.3 und M5.4 mit unterschiedlichen Formen und teilweise rund und teilweise mit verlängerter Form auszubilden, um dadurch die Stromverteilung innerhalb der optoelektronischen Vorrichtung und deren Effizienz zu verbessern. Doch gibt es für den Fachmann in Druckschrift D2a keinen Hinweis, den weiteren, verlängerten Teil der Elektrode vom ersten leitfähigen Typ so auszubilden, dass er einen nicht mit der vierten Elektrode bedeckten Endabschnitt umfasst, der nahe einer der Grenzen der ersten Halbleiterschicht an der vierten Elektrode vorbeigeführt ist, wobei gleichzeitig in Draufsicht das Verhältnis der Fläche der dritten Elektrode auf der ersten Halbleiterschicht und der Fläche der vierten Elektrode auf der ersten Halbleiterschicht zwischen 80% und 100% liegt.
78
Auch der übrige vorgelegte Stand der Technik kann dem Fachmann keine diesbezügliche Anregung geben. Zwar offenbaren die Druckschriften einzelne Merkmale der beanspruchten Vorrichtung, doch ist keiner dieser Druckschriften ein Hinweis zu entnehmen, die Elektroden so auszubilden, dass sie die Merkmale M5.1 bis M5.7 in Summe aufweisen.
79
5. Dem Anspruch 1 können sich die Unteransprüche 2 bis 10 anschließen, da sie die Vorrichtung des Anspruchs 1 vorteilhaft weiterbilden. Zudem sind in der geltenden Beschreibung mit Zeichnung die Gegenstände der Ansprüche ausreichend erläutert.
80
6. Bei dieser Sachlage war der angefochtene Beschluss der Prüfungsstelle für Klasse H01L vom 16. November 2021 aufzuheben und das Patent im beantragten Umfang zu erteilen.
81
7. Die Beschwerdegebühr ist nicht zurückzuzahlen.
82
Gemäß Anhörungsprotokoll vom 16. November 2021, das als öffentliche Urkunde gemäß § 415 Abs. 1 ZPO Beweiskraft hat (
vgl. Schulte/Rudloff-Schäffer, Patentgesetz, 11. Aufl. 2022, § 46 Rdn. 51), wurden im Laufe der Anhörung seitens der Prüfungsstelle vier neue Druckschriften und seitens des Vertreters der Anmelderin vier neue Anspruchssätze vorgelegt, wobei die Anhörung in diesem Zusammenhang mehrmals unterbrochen wurde. Dem Anhörungsprotokoll ist nicht zu entnehmen, dass die Prüfungsstelle oder der Vertreter der Anmelderin keine ausreichende Gelegenheit zur Durchsicht der Anspruchssätze bzw. Druckschriften gehabt hätten, was die Anmelderin durch den Zusatz „v.u.g.“, d. h. „vorgelesen und genehmigt“ bestätigt hat.
83
Der Prüfungsstelle ist es unbenommen, jederzeit eine neue Druckschrift in das Verfahren einzuführen, auch dann, wenn sich das Patentbegehren nicht geändert hat. Auch der Anmelderin ist es möglich, jederzeit neue Patentansprüche einzureichen. Ziel dieser Vorgehensweise ist es nämlich, ein Patent mit Patentansprüchen zu formulieren, die auch zukünftig Bestand haben, so dass eine bekannt gewordene Druckschrift nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn sie die Patentfähigkeit in Frage stellen kann. Der Vertreter der Anmelderin kann jedoch geltend machen, dass er mehr Zeit benötige, um eine Druckschrift genauer zu studieren und auch im Kontext zu bewerten. Dies muss er allerdings in der Anhörung deutlich zu erkennen geben und sich im Protokoll wiederfinden.
84
Prinzipiell kann der Vertreter der Anmelderin in Fällen, in denen seiner Ansicht nach nicht genügend Zeit zum Erfassen einer Druckschrift zur Verfügung gestellt wurde, mehr Zeit oder auch eine Vertagung der Verhandlung beantragen. Diesem Antrag wird die Prüfungsstelle, sofern es sich nicht um einfache Sachverhalte handelt, nachkommen müssen, so dass es im Interesse der Prüfungsstelle selbst liegt, die Anmelderin über neu einzuführende Druckschriften rechtzeitig in Kenntnis zu setzen. Eines weiteren Bescheids bedarf es dagegen nicht, denn es steht der Prüfungsstelle frei, ihre Argumentation im Vorfeld schriftlich mitzuteilen oder aber erst in der Anhörung in mündlicher Form, solange nicht auf Grund der Argumentation zu erwarten ist, dass die Anmelderin selbst Recherchen zum Sachverhalt durchführen muss.
85
Ein Recht auf Rückfragen an seine Mandantin hat der Vertreter der Anmelderin dagegen nicht, denn der Vertreter stellt gerade eine fach- und sachkundige Person dar, die an Stelle der Anmelderin zu unabhängigem Handeln befähigt und befugt ist. Es gehört zur Vorbereitung des Vertreters, im Vorfeld der Anhörung mögliche Rückzugspositionen mit der Anmelderin zu erörtern, so dass sich dahingehende Rückfragen erübrigen sollten.
86
Zusammengefasst hat die Prüfungsstelle das Recht auf rechtliches Gehör beachtet, auch wenn das Einführen einer weiteren, vorab bekannten Druckschrift in der Anhörung ohne Änderung der Ansprüche als eher ungünstig zu betrachten ist. Jedoch wurde diese Vorgehensweise seitens der Anmelderin durch die Genehmigung des Protokolls durch ihren Vertreter akzeptiert. Damit besteht kein Grund für eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
87
Bei dieser Sachlage war somit die Beschwerdegebühr nicht nach § 80 Abs. 3 PatG zurückzuzahlen, da eine Rückzahlung dem billigen Ermessen nicht entspricht (
vgl. Schulte/Püschel, Patentgesetz, a.a.O., § 80 Rdn. 114).