BSG 8. Senat, Beschluss vom 19.05.2022, AZ B 8 SO 57/21 B, ECLI:DE:BSG:2022:190522BB8SO5721B0
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 158 S 1 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 67 Abs 1 SGG
Verfahrensgang
vorgehend SG München, 10. März 2021, Az: S 48 SO 305/19, Urteil
vorgehend Bayerisches Landessozialgericht, 21. Juli 2021, Az: L 8 SO 84/21, Beschluss
Tenor
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Juli 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
1
I. Zwischen den Beteiligten steht die Versagung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) im Streit.
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Die miteinander verheirateten Kläger beziehen beide eine Altersrente von der Beigeladenen. Nachdem der Beklagte die Kläger mehrfach unter Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung zur Einreichung von Unterlagen aufgefordert hatte, versagte der Beklagte die Leistungen der Grundsicherung
(Bescheid vom 5.3.2019). Widerspruch und Klage blieben erfolglos
(Widerspruchsbescheid vom 15.5.2019; Urteil Sozialgericht <SG> München vom 10.3.2021). Das Urteil des SG wurde den Klägern per Postzustellungsurkunde (PZU) am 20.3.2021 zugestellt. Hiergegen haben die Kläger mit einem am 23.4.2021 eingegangenen Einwurf-Einschreiben jeweils Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Nach gerichtlichem Hinweis haben sie mitgeteilt, dass die Berufungen innerhalb gesetzter Frist per Einschreiben abgesandt worden seien.
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Das LSG hat durch Beschluss vom 21.7.2021 die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ua ausgeführt, beide Berufungsschreiben seien zwar formgerecht, aber nicht mehr innerhalb der Monatsfrist gemäß § 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt worden. Die einmonatige Frist zur Einlegung der Berufung habe am Tag nach der laut PZU wirksamen Zustellung am 20.3.2021 zu laufen begonnen und die Frist damit am Dienstag, den 20.4.2021 geendet. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG komme nicht in Betracht. Es liege im Risiko und Verantwortungsbereich der Kläger als Rechtsmittelführer, fristwahrende Schreiben so rechtzeitig abzusenden, dass sie noch innerhalb laufender Fristen mit dem Eingang rechnen können.
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II. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Beschluss des LSG ist zulässig, denn sie haben einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet
(§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Der gerügte Mangel liegt auch vor. Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Das LSG hat zu Unrecht durch Prozessurteil und nicht in der Sache entschieden. Darin liegt ein Verfahrensmangel
(Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung
(stRspr; vgl nur BSG vom 15.6.2016 – B 4 AS 651/15 B – RdNr 5 – 6; BSG vom 5.6.2014 – B 4 AS 349/13 B – RdNr 9; BSG vom 8.9.2015 – B 1 KR 19/15 B – RdNr 5, jeweils mwN).
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Die Behandlung der Berufung der Kläger als verfristet begründet einen Verfahrensmangel. Zwar hat die Frist des § 151 Abs 1 SGG mit Zustellung des SG-Urteils, die laut PZU am 20.3.2021 (einem Samstag) erfolgt ist, zu laufen begonnen
(§ 64 Abs 1 SGG). Fristbeginn ist damit der 21.3.2021 und die Frist hat am Dienstag, den 20.4.2021 um 24.00 Uhr geendet
(§ 64 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 3 SGG). Der Eingang der Berufungsschrift am 23.4.2021 erfolgte damit nicht mehr innerhalb der Berufungsfrist, wovon auch das LSG ausgegangen ist.
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Die Kläger haben indes zutreffend einen Verstoß gegen § 67 SGG gerügt, auf dem der Beschluss des LSG beruhen kann. Das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern hätte Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewähren und sodann über die Berufung in der Sache entscheiden müssen. Nach § 67 Abs 1 SGG ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist
(BSG vom 8.10.2009 – B 8 SO 35/09 B – RdNr 4).
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Ein solcher Fall des Verschuldens liegt hier nicht vor. Ausweislich des frankierten aktenkundigen Einwurf-Einschreibens wurde die Berufungsschrift am 16.4.2021 (einem Freitag) adressiert und ausreichend frankiert an das LSG zur Post gegeben. Zwar ist entscheidend für die Wahrung der Frist der Eingang beim Rechtsmittelgericht, dennoch spricht für eine im Rahmen der Wiedereinsetzung zu beachtende Schuldlosigkeit der Wiedereinsetzung, wenn die Berufungsschrift so rechtzeitig abgesandt wurde, dass nach üblichen Postlaufzeiten zu erwarten war, dass sie noch innerhalb der Berufungsfrist bei dem Rechtsmittelgericht eingehen würde. Dies gilt nicht bei voraussehbarer Verzögerung wegen außergewöhnlicher Ereignisse, insbesondere wenn die Verzögerungsgefahren bekannt gemacht worden sind oder offenkundig waren und wenn die Beteiligten Kenntnis davon haben mussten, dass eine konkrete Gefahr von Verzögerungen bestand, wie dies zB bei längerfristigen Streiks der Fall ist
(BSG vom 19.10.2016 – B 14 AS 51/16 B – RdNr 6; vgl Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom 29.12.1994 – 2 BvR 106/93 – NJW 1995, 1210; Bundesgerichtshof <BGH> vom 9.12.1992 – VIII ZB 30/92 – NJW 1993, 1332, 1333; siehe dazu nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 67 RdNr 6c). Solche Umstände sind indes vorliegend nicht ersichtlich. Vielmehr durften die Kläger davon ausgehen, dass nach Aufgabe des Briefes bei der Deutschen Post AG am Freitag, den 16.4.2021 im Hinblick auf § 2 Nr 3 Satz 1 Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV) vom 15.12.1999
(BGBl I 2418) diese am folgenden Werktag (Samstag, den 17.4.2021), spätestens aber am folgenden Montag, den 19.4.2021 zugehen würde
(vgl BSG vom 27.11.2018 – B 2 U 17/18 B – RdNr 9).
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Die Entscheidung des LSG beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Wäre es nicht von einer Verfristung der Berufung ausgegangen, so hätte es den Rechtsstreit in der Sache entscheiden müssen. Insoweit gilt, dass eine für die Kläger günstigere Entscheidung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BSG
(vgl nur BSG vom 4.6.2014 – B 14 AS 30/13 R – BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18; daran anschließend BSG vom 18.11.2014 – B 4 AS 4/14 R – BSGE 117, 240 = SozR 4-4200 § 21 Nr 19; BSG vom 11.2.2015 – B 4 AS 27/14 R – vorgesehen in BSGE und SozR 4-4200 § 21 Nr 21) nicht ausgeschlossen erscheint.
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Bieresborn Luik Bieresborn
für die an der Unterschrift
gehinderte Vorsitzende
Richterin am BSG Krauß