1. Erklärt ein Finanzamt oder Sozialversicherungsträger als Gläubiger seinen Insolvenzantrag nach Erfüllung der Antragsforderung… (Beschluss des BGH 9. Zivilsenat)

BGH 9. Zivilsenat, Beschluss vom 24.09.2020, AZ IX ZB 71/19, ECLI:DE:BGH:2020:240920BIXZB71.19.0

§ 14 Abs 1 InsO, § 91a Abs 1 ZPO

Leitsatz

1. Erklärt ein Finanzamt oder Sozialversicherungsträger als Gläubiger seinen Insolvenzantrag nach Erfüllung der Antragsforderung für erledigt, obwohl der Antrag nicht durch die Erfüllung unzulässig geworden ist, rechtfertigt dieser Umstand allein nicht den Schluss auf einen unzulässigen Druckantrag.

2. Es unterliegt tatrichterlicher Würdigung, ob die Erledigterklärung eines Gläubigerantrags, der durch Erfüllung der Antragsforderung nicht unzulässig geworden ist, den Schluss auf einen Druckantrag erlaubt, wenn weitere Umstände hinzutreten, die als besondere Anhaltspunkte für einen Druckantrag dienen können.

Verfahrensgang

vorgehend LG Köln, 11. Oktober 2019, Az: 1 T 340/19
vorgehend AG Köln, 7. August 2019, Az: 71 IN 44/19

Tenor

Auf die Rechtsmittel der weiteren Beteiligten werden der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 11. Oktober 2019 aufgehoben und der Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 7. August 2019 abgeändert. Die Schuldnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 349,07 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Schuldnerin beschäftigte einen Arbeitnehmer. Die Gesamtsozialversicherungsbeiträge für die Monate November 2017 bis Februar 2019 blieb sie der weiteren Beteiligten (fortan: Gläubigerin) schuldig. Diese hat nach erfolglosen Vollstreckungsmaßnahmen am 19. März 2019 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin beantragt. Das Insolvenzgericht hat einen Sachverständigen beauftragt, der zwei Berichte erstattet hat. Nach Begleichung der Beitragsrückstände und Abmeldung des einzigen Arbeitnehmers ist der Insolvenzantrag übereinstimmend für erledigt erklärt worden.

2

Das Insolvenzgericht hat die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufgehoben. Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin hat das Landgericht nach Übertragung auf die Kammer zurückgewiesen. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde will die Gläubigerin erreichen, dass die Kosten des Verfahrens der Schuldnerin auferlegt werden.

II.

3

Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2008 – IX ZB 131/07, WM 2008, 2176 Rn. 7) und auch sonst zulässig. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde durch das Beschwerdegericht ist für den Senat nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO unabhängig davon bindend, ob es die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO zutreffend beurteilt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2008 – XI ZB 24/07, WM 2008, 2201 Rn. 9; vom 8. Mai 2012 – VIII ZB 91/11, WuM 2012, 332 Rn. 3; vom 30. Januar 2018 – VIII ZB 74/16, NJW-RR 2018, 524 Rn. 6).

III.

4

Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, die Beschwerde sei zulässig, jedoch nicht begründet. Die vom Insolvenzgericht nach § 4 InsO, § 91a ZPO vorgenommene Kostenaufhebung begegne keinen rechtlichen Bedenken. Wie das Insolvenzgericht mit Recht festgestellt habe, sei zum Zeitpunkt der Erledigungserklärung offen gewesen, ob der Insolvenzantrag in der Sache Erfolg gehabt hätte. Allein die Zahlung der Schuldnerin und Entlassung des Arbeitnehmers führe nicht dazu, dass der Insolvenzantrag zwingend erfolglos geworden wäre. Der einmal eingetretene Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit werde nur beseitigt, wenn die geschuldeten Zahlungen insgesamt wieder aufgenommen würden. Alternativ habe der Bundesgerichtshof es ausreichen lassen, wenn die Forderung des Gläubigers erfüllt werde, sämtliche Arbeitnehmer gekündigt würden und die wirtschaftliche Tätigkeit des Schuldners eingestellt werde. Es reiche jedoch nicht aus, wenn nur die Forderung beglichen werde und keine Arbeitnehmer mehr gemeldet seien. Zusätzliche Mindestvoraussetzung sei, dass die wirtschaftliche Tätigkeit insgesamt und vorbehaltlos eingestellt worden sei. Dies sei nicht vorgetragen. Aufgrund dessen sei sogar denkbar, dass es sich bei dem Antrag der Gläubigerin um einen von vornherein unzulässigen Druckantrag gehandelt habe. Hierfür spreche, dass der Antrag nach der Zahlung nicht weiterverfolgt werde, was den Anschein erwecke, der Gläubigerin sei es mit dem Antrag mehr um die Begleichung ihrer individuellen Forderung gegangen als darum, dass ein Insolvenzverfahren gegen die Schuldnerin eröffnet werde.

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2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

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a) Rechtsfehlerfrei ist das Beschwerdegericht davon ausgegangen, dass über die Kosten des Eröffnungsverfahrens gemäß § 4 InsO, § 91a ZPO durch Beschluss zu entscheiden war, weil die Gläubigerin und die Schuldnerin den Gläubigerantrag wirksam für erledigt erklärt haben. Die Erledigungserklärung der Gläubigerin ist nicht wegen Rechtsmissbrauchs unwirksam.

8

aa) Ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann vom antragstellenden Gläubiger für erledigt erklärt werden. Schließt sich der Schuldner der Erledigung an, ist nur noch eine Kostenentscheidung gemäß § 4 InsO, § 91a ZPO zu treffen (BGH, Urteil vom 20. November 2001 – IX ZR 48/01, BGHZ 149, 178, 181 f; Beschluss vom 25. September 2008 – IX ZB 131/07, WM 2008, 2176 Rn. 6 f).

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bb) Es bedarf keiner Entscheidung, inwieweit eine Erledigungserklärung ausnahmsweise wegen Rechtsmissbrauchs unzulässig und damit unwirksam sein kann, wenn sie dazu dient, dem Antragsteller einen Vorteil zu sichern, der offenkundig und schwerwiegend gegen das Gebot der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung verstößt (vgl. MünchKomm-InsO/Vuia, 4. Aufl., § 13 Rn. 141; Uhlenbruck/Wegener, InsO, 15. Aufl., § 14 Rn. 179; ablehnend Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2018, § 13 Rn. 243). Das Beschwerdegericht hat keine entsprechenden Tatsachen festgestellt.

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cc) Entgegen einer vereinzelt vertretenen Ansicht (Webel, ZInsO 2017, 2261, 2262 f) ist die Erledigungserklärung eines Sozialversicherungsträgers nach Erfüllung der Antragsforderung kein im Lichte des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO gesetzlich geregelter Fall einer rechtsmissbräuchlichen Erledigungserklärung (AG Köln, ZVI 2019, 97; Uhlenbruck/Wegener, aaO § 14 Rn. 135; Foerste/Helte, ZInsO 2017, 2722, 2723 f; Zipperer, ZVI 2018, 299, 300; Willmer/Berner, NZI 2019, 255, 258; Spiekermann, ZIP 2019, 749, 753; vgl. Pape, aaO § 13 Rn. 243; Zöller/Althammer, ZPO, 33. Aufl., § 91a Rn. 58.23; Laroche/Meier/Pruskowski/Schöttler/Siebert/Vallender, ZIP 2013, 1456, 1457).

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Nach dieser Vorschrift wird der Gläubigerantrag nicht allein dadurch unzulässig, dass die Forderung erfüllt wird. Das begründet jedoch keine Pflicht des Gläubigers zur Aufrechterhaltung seines Antrags. Der mit Gesetz vom 9. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1885) neu eingeführte § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO sollte nach seiner Entstehungsgeschichte in bestimmten Fällen dem Fiskus oder den Sozialversicherungsträgern eine Möglichkeit eröffnen, das Entstehen neuer Verbindlichkeiten zu verhindern; die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung spricht in diesem Zusammenhang von einem Initiativrecht des Gläubigers (vgl. BT-Drucks. 17/3030, S. 42). Das Gesetz vom 29. März 2017 (BGBl. I S. 654), durch das die Vorschrift ihre heutige Fassung erhalten hat, sollte eine Stärkung des Gläubigerantragsrechts bewirken (vgl. BT-Drucks. 18/7054, S. 14 und 16). Die Vorschrift gibt dem Gläubiger ein Wahlrecht, den Antrag weiterlaufen zu lassen (vgl. AG Leipzig, NZI 2017, 846, 847 f mit Anm. Schädlich; Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2011, § 14 Rn. 135; Nerlich/Römermann/Mönning, InsO, 2017, § 14 Rn. 94; Uhlenbruck/Wegener, aaO § 14 Rn. 98, 130, 135 mwN; Foerste, ZInsO 2017, 1263, 1266; Brzoza, jurisPR-InsR 1/2019 Anm. 4 unter C). Wenn der Gesetzgeber dem Gläubiger die Möglichkeit eröffnet, seinen Antrag weiterlaufen zu lassen, und insoweit von einem Recht spricht, legt er dem Gläubiger keine entsprechende Pflicht auf und nimmt ihm nicht die Möglichkeit der Erledigungserklärung gemäß § 4 InsO, § 91a ZPO. Die Neufassung des Gesetzes schließt weder die Erledigterklärung noch die Rücknahme des Antrags ausdrücklich aus. Dies kann ihr auch nicht entnommen werden, würde es doch für die betroffenen Fälle praktisch bedeuten, dass nicht mehr der Dispositionsgrundsatz im Eröffnungsverfahren gälte, sondern dieses gleichsam von Amts wegen fortgeführt würde, was dem deutschen Recht fremd ist (vgl. Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2018, § 13 Rn. 243; Zipperer, aaO).

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b) Rechtsfehlerhaft hat sich das Beschwerdegericht bei seiner Entscheidung über die Aufhebung der Kosten auf die bloß denkbare Möglichkeit gestützt, dass es sich bei dem Gläubigerantrag um einen von vornherein unzulässigen Druckantrag gehandelt haben könnte.

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aa) Über die Kosten eines Rechtsstreits ist nach der übereinstimmend erfolgten Erledigungserklärung der Parteien nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes auf der Grundlage einer summarischen Prüfung zu entscheiden. Insoweit kommt es vornehmlich darauf an, wem die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen gewesen wären, wenn die Hauptsache nicht einvernehmlich für erledigt erklärt worden wäre (BGH, Beschluss vom 7. Mai 2007 – VI ZR 233/05, NJW 2007, 3429 Rn. 7; vom 30. Januar 2018 – VIII ZB 74/16, NJW-RR 2018, 524 Rn. 10). Die mindestens überwiegende Wahrscheinlichkeit des Unterliegens in der Hauptsache reicht gemäß § 91a ZPO aus, einer Partei die Kosten aufzuerlegen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. September 1993 – V ZR 246/92, BGHZ 123, 264, 266; MünchKomm-ZPO/Schulz, 5. Aufl., § 91a Rn. 52; Zöller/Althammer, ZPO, 33. Aufl., § 91a Rn. 27).

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Eine Kostenaufhebung kommt in Betracht, wenn die Prozessaussichten nicht vorherzusagen sind (Stein/Jonas/Muthorst, ZPO, 23. Aufl., § 91a Rn. 33). Dies kann auf rechtlichen oder tatsächlichen Unwägbarkeiten beruhen. Grundlage der Kostenentscheidung ist lediglich eine summarische Prüfung, bei der das Gericht grundsätzlich davon absehen kann, in einer rechtlich schwierigen Sache nur wegen der Verteilung der Kosten alle für den hypothetischen Ausgang bedeutsamen Rechtsfragen zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 15. September 2009 – IX ZB 36/08, ZVI 2010, 22 Rn. 3). Bei nicht hinreichend geklärter Rechtslage sind die Kosten gegeneinander aufzuheben (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juni 2005 – XII ZR 177/03, BGHZ 163, 195, 197 und 201; Zöller/Althammer, ZPO, 33. Aufl., § 91a Rn. 27). Eine weitere Beweiserhebung ist auf Ausnahmefälle beschränkt (Stein/Jonas/Muthorst, aaO Rn. 31 mwN). Kommt es nicht mehr zur Durchführung einer Beweisaufnahme, die ohne die Erledigung geboten gewesen wäre, so sind die Kosten in der Regel gegeneinander aufzuheben (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2011 – IX ZR 244/09, NJW-RR 2012, 688 Rn. 14 ff). Steht dagegen die Unaufklärbarkeit einer Tatsache fest (non liquet), sind die Kosten nach allgemeinen Grundsätzen der beweisbelasteten Partei aufzuerlegen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Mai 2007 – VI ZR 233/05, NJW 2007, 3429 Rn. 7 ff; Zöller/Althammer, aaO Rn. 26; Foerste/Helte, ZInsO 2017, 2722, 2725).

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Nach übereinstimmender Erledigterklärung eines Insolvenzantrags haben aufwendige Ermittlungen zum Insolvenzgrund zu unterbleiben (LG Köln, Beschluss vom 21. Juni 2012 – 13 T 83/12, juris Rn. 5; AG Köln, NZI 2000, 94, 95). Als bisheriger Sach- und Streitstand wird in der Regel nur der glaubhaft gemachte Sachverhalt zu beurteilen sein, während sonstige Umstände, die für die Begründetheit des Antrags erheblich sein könnten, nur berücksichtigt werden können, soweit der Sachverhalt schon ausermittelt war (vgl. HK-InsO/Sternal, 9. Aufl., § 14 Rn. 62). War der Insolvenzantrag im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses zulässig, ein Eröffnungsgrund mithin glaubhaft gemacht, sind die Kosten des Verfahrens in der Regel dem Schuldner aufzuerlegen (vgl. AG Köln, ZVI 2019, 97; Uhlenbruck/Wegener, InsO, 15. Aufl., § 14 Rn. 175; Waltenberger, ZInsO 2017, 2690, 2692; Spiekermann, aaO; vgl. auch LG Göttingen, ZVI 2005, 78 f; AG Göttingen, ZIP 2007, 295 f; Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2018, § 13 Rn. 236). Eine Kostenentscheidung zu Lasten des antragstellenden Gläubigers kommt hingegen in Betracht, wenn sich eine Zurückweisung des Eröffnungsantrags abzeichnete, oder wenn die gerichtlichen Ermittlungen schwerwiegende Zweifel daran ergeben haben, dass bei Antragstellung ein Eröffnungsgrund vorlag (vgl. LG Köln, aaO; ZVI 2017, 67; MünchKomm-InsO/Vuia, 4. Aufl., § 13 Rn. 134 f; Frege/Keller/Riedel, Insolvenzrecht, 8. Aufl., Rn. 480 f).

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bb) Diese Grundsätze hat das Beschwerdegericht im Ansatz beachtet. Seine Annahme, es sei offen, ob der Antrag der Gläubigerin Erfolg gehabt hätte, wird jedoch nicht von der Erwägung getragen, es sei denkbar, dass es sich bei dem Antrag der Gläubigerin um einen unzulässigen Druckantrag gehandelt habe. Die gegebenen Umstände rechtfertigen einen solchen Schluss nicht.

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(1) Ein Gläubiger, dem eine Forderung zusteht und der einen Eröffnungsgrund glaubhaft macht, hat in aller Regel ein rechtliches Interesse an der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011 – IX ZB 214/10, WM 2011, 1087 Rn. 5). Dies gilt auch für öffentliche Gläubiger (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2008 – IX ZB 195/07, juris Rn. 2). Ausnahmsweise fehlt es an einem Rechtsschutzinteresse, wenn der Gläubiger mit dem Antrag ausschließlich insolvenzwidrige Zwecke verfolgt (BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011, aaO; Braun/Bußhardt, InsO, 8. Aufl., § 14 Rn. 13; HmbKomm-InsO/Linker, 7. Aufl., § 14 Rn. 45; MünchKomm-InsO/Vuia, 4. Aufl., § 14 Rn. 29). Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn der Gläubiger kein gemeinschaftliches Befriedigungsverfahren anstrebt, sondern nur die bevorzugte Befriedigung seiner eigenen Forderung (Uhlenbruck/Wegener, InsO, 15. Aufl., § 14 Rn. 71), und den Antrag lediglich als Druckmittel hierfür einsetzt (LG Köln, ZVI 2017, 67; LG Ulm, ZVI 2019, 94 f; vgl. AG Göttingen, ZIP 2018, 992, 993; AG Köln, ZVI 2019, 97, 98; HK-InsO/Sternal, 9. Aufl., § 14 Rn. 33 f; Foerste, ZInsO 2017, 1263, 1265; Zipperer, ZVI 2018, 299, 301; Brzoza, NJW 2019, 335, 336; Willmer/Berner, NZI 2019, 255, 256 f). Die Voraussetzungen des insolvenzzweckwidrigen Verhaltens hat der Schuldner glaubhaft zu machen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2006 – IX ZB 245/05, WM 2006, 1632 Rn. 12).

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(2) Erklärt ein Finanzamt oder Sozialversicherungsträger als Gläubiger seinen Insolvenzantrag nach Erfüllung der Antragsforderung für erledigt, obwohl der Antrag nicht durch die Erfüllung unzulässig geworden ist, rechtfertigt dieser Umstand allein nicht den Schluss, es habe sich um einen unzulässigen Druckantrag gehandelt.

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Manche Gerichte und Teile des Schrifttums betrachten es als erhebliches und für sich schon hinreichendes Indiz, das den Schluss auf einen unzulässigen Druckantrag rechtfertige, wenn ein „Zwangsgläubiger“, also das Finanzamt oder ein Sozialversicherungsträger, seinen Insolvenzantrag für erledigt erklärt, nachdem die Antragsforderung erfüllt worden ist, obwohl der Antrag gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht durch die Erfüllung unzulässig geworden ist (so LG Köln, ZVI 2017, 67; ZIP 2018, 1610; LG Ulm, ZVI 2019, 94; LG Wuppertal, ZIP 2020, 1528; AG Hamburg, ZIP 2012, 1044; AG Köln, ZVI 2019, 97; 2019, 462; HmbKomm-InsO/Linker, 7. Aufl., § 14 Rn. 74; Frind, NZI 2017, 417, 420). Nach der Gegenansicht kann dieser Schluss nicht gezogen werden (so AG Leipzig, NZI 2017, 846, 848 f mit Anm. Schädlich; AG Hannover, ZIP 2019, 1080 f; Braun/Bußhardt, InsO, 8. Aufl., § 14 Rn. 39; Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2018, § 13 Rn. 236, 239 Fn. 668, Rn. 244a; Foerste, ZInsO 2017, 1263, 1265 f; Foerste/Helte, ZInsO 2017, 2722, 2724 f; Harder, NJW-Spezial 2018, 277, 278; Zipperer, ZVI 2018, 299; Willmer/Berner, NZI 2019, 255, 257; vgl. auch AG Göttingen, ZIP 2018, 992, 993 f; MünchKomm-InsO/Vuia, 4. Aufl., § 14 Rn. 29; Frege/Keller/Riedel, Insolvenzrecht, 8. Aufl., Rn. 2565; Waltenberger, ZInsO 2017, 2690, 2692; Fuhst, jurisPR-InsR 25/2017 Anm. 5 unter C; Spiekermann, ZIP 2019, 749, 754).

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Zutreffend ist die zuletzt genannte Ansicht. Dass ein Zwangsgläubiger seinen Insolvenzantrag nach Erfüllung der Forderung nicht weiterverfolgt, erlaubt noch keinen Rückschluss darauf, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung sein einziges Motiv für den Antrag war, eine Erfüllung außerhalb der Gesamtvollstreckung herbeizuführen. Der Fiskus und die Sozialversicherungsträger verfolgen bei Antragstellung regelmäßig ein Motivbündel. Als Vertreter der öffentlichen Hand erfüllen sie in erster Linie die ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben, die sie zum Einzug von Steuern (§ 85 AO) und Beiträgen (§ 76 SGB IV) verpflichten. Sozialversicherungsträger können durch einen Insolvenzantrag sicherstellen, im Insolvenzfall wenigstens den nach § 175 Abs. 1 Satz 1 SGB III als Insolvenzgeld abgesicherten Anteil der Rückstände von der Bundesagentur für Arbeit erstattet zu bekommen (AG Leipzig, aaO S. 848; Willmer/Berner, aaO). Mit einem Insolvenzantrag kann der Zwangsgläubiger mehrere Ziele verfolgen, so etwa das Verhindern weiterer auflaufender Forderungen sowie die zumindest teilweise Realisierung der rückständigen Abgaben, welche die Gesamtvollstreckung ermöglicht. Zu den Zielen des Gläubigers kann auch das mit § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO verfolgte Anliegen gehören, die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners möglichst frühzeitig abzuklären (vgl. BT-Drucks. 17/3030, S. 42; 18/7054, S. 14 und 16).

21

Der Gläubiger muss aber kein zwangsläufiges Interesse haben, sämtliche Unternehmen vom Markt zu entfernen, die über längere Zeit ihre Abgaben nicht gezahlt haben. § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO hält den Gläubiger dazu nicht an, sondern eröffnet ihm ein Wahlrecht (Uhlenbruck/Wegener, InsO, 15. Aufl., § 14 Rn. 135 mwN). Kein Gläubiger ist gehalten, im Interesse der Gläubigergesamtheit die Fortsetzung eines Verfahrens zu betreiben, an dem er selbst kein Interesse mehr hat (Harder, aaO). Die anderen Gläubiger tragen selbst die Verantwortung dafür, wegen ihrer Forderungen die Vollstreckungsinitiative zu ergreifen, zu der auch ein Insolvenzantrag rechnet (Zipperer, aaO S. 302 f).

22

Deshalb kann und darf die Begleichung der Forderung für den Zwangsgläubiger vernünftiger Anlass sein, den ursprünglich mit mehreren Zielen gestellten Antrag für erledigt zu erklären (vgl. AG Hannover, aaO S. 1081). Ein Gläubiger kann verschiedene, nicht zu missbilligende Motive dafür haben, von der Durchführung eines Insolvenzverfahrens Abstand nehmen zu wollen, etwa die Vermeidung von Anfechtungsansprüchen, die Vermeidung administrativen Aufwands oder die Sorge, eigene Forderungen durch eine Restschuldbefreiung des Schuldners einzubüßen, wenn dieser eine natürliche Person ist (Harder, aaO), ebenso die Sorge vor der Belastung mit den Verfahrensauslagen, falls der Eröffnungsantrag gemäß § 26 InsO mangels Masse abgewiesen wird (Willmer/Berner, aaO S. 257, 259; vgl. BeckOK-KostR/Semmelbeck, 2020, § 23 GKG Rn. 5 f). Lässt die Abgabe einer Erledigungserklärung in Kenntnis der Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO schon nicht den Schluss darauf zu, sie sei missbräuchlich motiviert, so erlaubt sie erst recht nicht den Schluss darauf, der Zwangsgläubiger habe den Eröffnungsantrag allein zu insolvenzwidrigen Zwecken gestellt.

23

(3) Es unterliegt tatrichterlicher Würdigung, ob die Erledigterklärung eines Gläubigerantrags, der durch Erfüllung der Antragsforderung nicht unzulässig geworden ist, den Schluss auf einen Druckantrag erlaubt, wenn weitere Umstände hinzutreten, die als besondere Anhaltspunkte für einen Druckantrag dienen können. Solche Umstände sind hier aber nicht festgestellt.

24

3. Die angefochtene Entscheidung ist danach aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil diese zur Endentscheidung reif ist (§ 577 Abs. 5 ZPO). Weitere Feststellungen sind nicht zu erwarten.

25

Die Kosten des Verfahrens sind der Schuldnerin aufzuerlegen. Der Antrag der Gläubigerin auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens war ursprünglich zulässig. Insbesondere war der Eröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit glaubhaft gemacht. Bei dem Eröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit im Sinne von § 17 InsO kann eine starke Indizwirkung von der mindestens sechsmonatigen Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen ausgehen (BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2014 – IX ZB 34/14, WM 2015, 291 Rn. 6, 10 mwN). Nach dem Antrag der Gläubigerin war die Schuldnerin mit Abgaben zur Sozialversicherung für die Zeit von November 2017 bis Februar 2019 in Rückstand. Bestand mithin eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Eröffnungsgrunds, hätte der Antrag voraussichtlich auch in der Sache Erfolg gehabt. Umstände, die dies in Zweifel ziehen könnten, sind nicht ersichtlich.

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