Beschluss des BVerwG 7. Senat vom 03.01.2022, AZ 7 B 6/21

BVerwG 7. Senat, Beschluss vom 03.01.2022, AZ 7 B 6/21, ECLI:DE:BVerwG:2022:030122B7B6.21.0

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 12. November 2020, Az: 2 L 70/18, Urteil
vorgehend VG Magdeburg, 26. April 2018, Az: 4 A 328/16 MD

Tenor

Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 12. November 2020 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beklagten, der diese selbst trägt.

Unter Abänderung des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 12. November 2020 wird der Wert des Streitgegenstandes des Berufungsverfahrens und der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren auf 60 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1

Die Klägerin, eine Gemeinde, wendet sich gegen einen immissionsschutzrechtlichen Feststellungsbescheid für den Schweinemastbetrieb der Beigeladenen, mit dem die Zahl der zulässigen Tierplätze und der Großvieheinheiten festgesetzt wurde. Den Bescheid hatte der Beklagte nach zahlreichen Anzeige- und Änderungsgenehmigungsverfahren erlassen, um die in der Anlage nutzbaren Tierplätze klarzustellen.

2

Das Oberverwaltungsgericht hat den Feststellungsbescheid aufgrund der als zulässig angesehenen Klage aufgehoben. Der Bescheid sei mangels Durchführung eines immissionsschutzrechtlichen Änderungsgenehmigungsverfahrens nach § 16 Abs. 1 Satz 1 BImSchG, an dem die Klägerin zu beteiligen sei, rechtswidrig und verletze diese in ihren Rechten aus § 36 Abs. 1 BauGB.

3

Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Beschwerde der Beigeladenen.

II

4

Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 VwGO gestützte Beschwerde der Beigeladenen hat keinen Erfolg.

5

1. Die Rechtssache hat nicht die von der Beschwerde geltend gemachte rechtsgrundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

6

Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), also näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des revisiblen Rechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 14. Oktober 2019 – 4 B 27.19 – ZfBR 2020, 173 Rn. 4 und vom 23. März 2021 – 4 B 24.20 – ZfBR 2021, 660 Rn. 2).

7

a) Die Beschwerde möchte grundsätzlich geklärt wissen,

ob eine Verletzung des gemeindlichen Beteiligungsrechts aus § 36 Abs. 1 BauGB, wonach über die Zulässigkeit von Vorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB im bauaufsichtlichen Verfahren oder in einem anderen Verfahren im Einvernehmen mit der Gemeinde entschieden wird, in Betracht kommt, wenn es sich lediglich um einen Feststellungsbescheid und nicht um einen „echten“ (Änderungs-)Genehmigungsbescheid handelt.

8

Die Frage führt nicht zur Zulassung der Revision. Sie lässt sich auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation beantworten, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf.

9

Die von der Beschwerde für grundsätzlich erachtete Rechtsfrage setzt bei der Begrifflichkeit eines Feststellungsbescheids einerseits bzw. eines (Änderungs-)Genehmigungsbescheids andererseits aus. Die Anforderungen an die Auslegung öffentlich-rechtlicher Willenserklärungen, zu denen auch Verwaltungsakte zählen, sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt. Danach sind solche Erklärungen in entsprechender Anwendung des § 133 BGB nach ihrem objektiven Erklärungswert unter Berücksichtigung der Begleitumstände auszulegen. Abzustellen ist auf den erklärten Willen, wie ihn der Adressat von seinem Standpunkt aus bei verständiger Würdigung verstehen konnte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juli 2014 – 3 C 23.13 – Buchholz 451.505 Einzelne Stützungsregelungen Nr. 7 Rn. 18 m.w.N.). Auf die bloße Bezeichnung eines Bescheids als „Genehmigungsbescheid“, „Änderungsgenehmigung“ oder „Feststellungsbescheid“ kommt es nicht an. Hiervon ausgehend bedarf es jeweils einer einzelfallbezogenen Betrachtung, die sich inhaltlich mit dem Vorliegen der Voraussetzungen der streitentscheidenden Norm befasst. Das Oberverwaltungsgericht ist hier bei der Bestimmung des objektiven Gehalts des streitgegenständlichen Verwaltungsakts zu der verbindlichen Festschreibung der Zahl von Tierplätzen sowie der Gleichstellung des Feststellungsbescheids mit einem Verwaltungsakt, der eine nicht erforderliche Genehmigungspflicht für diese Zahl von Tierplätzen bescheinige, gelangt. Hieran anknüpfend kommt es zu dem Ergebnis, dass die mit dem angefochtenen Feststellungsbescheid für „geschützt“ erklärte Veränderung der Tierplatzzahl gegenüber dem Genehmigungsbescheid vom 28. August 1995 ein Änderungsgenehmigungsverfahren nach § 16 Bundes-Immissionsschutzgesetz – BImSchG – erfordert hätte, in dem die Klägerin zu beteiligen gewesen wäre. Die vom Oberverwaltungsgericht entscheidungstragend angestellte Erwägung wird nicht von der von der Beschwerde für grundsätzlich erachteten Rechtsfrage berührt. Schließlich ist es in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass es einer Behörde verwehrt ist, Beteiligungsrechte zu unterlaufen, indem sie eine an sich gebotene Entscheidung unterlässt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2013 – 4 C 14.12 – BVerwGE 149, 17 Rn. 26 m.w.N.).

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b) Weiter möchte die Beschwerde grundsätzlich geklärt wissen,

ob für die Prüfung der Frage, ob eine „wesentliche Änderung“ im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 1 BImSchG vorliegt, nur die vorangegangenen immissionsschutzrechtlichen (Änderungs-)Genehmigungen, mit denen die Zahl der Tierplätze ausdrücklich genehmigt worden sind, zu prüfen sind oder auch solche immissionsschutzrechtlichen Genehmigungen in die Prüfung einzubeziehen sind, in denen die Zahl der Tierplätze in erster Linie eine notwendige Berechnungsgrundlage für andere Bereiche – wie z.B. das Güllemanagement – darstellen.

11

Auch damit ist keine Frage aufgeworfen, die im Interesse der Rechtseinheit oder der Fortentwicklung des Rechts der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf. Die Frage lässt sich nur für den Einzelfall durch Rechtsanwendung beantworten. Es ist jeweils bei einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung gemäß dem in § 133 BGB enthaltenen Rechtsgedanken bei der Auslegung auf den objektiven Erklärungsgehalt des Bescheids aus der Sicht des Adressaten abzustellen (BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 1989 – 7 C 35.87 – BVerwGE 84, 220 <229>). Ob sich aus einer die ursprüngliche Genehmigung der Anlage ergänzenden (späteren) immissionsschutzrechtlichen Genehmigung etwas für die Frage der Wesentlichkeit einer (erneuten) Änderung ergibt, ist daher Frage des Regelungsinhalts und -zusammenhangs der unterschiedlichen Genehmigungen und einer abstrakten und fallübergreifenden Klärung nicht zugänglich.

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c) Die Beschwerde möchte ferner grundsätzlich geklärt wissen,

ob ein nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG erlassener Freistellungsbescheid als Ausgangspunkt für die Beurteilung der Frage in Betracht kommt, ob eine Abweichung vom bisher genehmigten Anlagenbetrieb eine „wesentliche Änderung“ im Sinne des § 16 Abs. 1 BImSchG darstellt.

13

Auch insoweit stellt sich keine Frage, die im Interesse der Rechtseinheit oder der Fortentwicklung des Rechts der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf. Der erkennende Senat hat bereits im Urteil vom 28. Oktober 2010 – 7 C 2.10 – (Buchholz 406.25 § 15 BImSchG Nr. 8 Rn. 22) entschieden, dass eine Freistellungserklärung ausschließlich die formelle Legalität des angezeigten Änderungsvorhabens regelt (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 7. August 2012 – 7 C 7.11 – Buchholz 406.25 § 15 BImSchG Nr. 9 Rn. 16). Sie stellt mit Bindungswirkung lediglich fest, dass die geplante Änderung der Anlage keiner förmlichen immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedarf. Die von ihr erzeugte verbindliche Rechtswirkung nach außen besteht (und erschöpft sich) darin, dass die Änderung ohne Weiteres formell rechtmäßig ist und daher weder Stilllegungsanordnungen nach § 20 Abs. 2 BImSchG ergehen noch an die formelle Illegalität anknüpfende Bußgeld- oder Straftatbestände eingreifen können. Aus diesen Ausführungen folgt im Umkehrschluss, dass Freistellungserklärungen keine materielle (immissionsschutzrechtliche) Wirkung haben und daher für die materiell-rechtliche Beurteilung der Frage, ob eine Abweichung vom bisher genehmigten Anlagenbetrieb eine „wesentliche Änderung“ im Sinne des § 16 Abs. 1 BImSchG darstellt, nicht als Ausgangspunkt in Betracht kommen können. Im Übrigen gilt, dass sich der Regelungsgehalt verschiedener auf eine Anlage bezogener Bescheide und ihr Verhältnis zueinander aus den jeweils im Einzelfall getroffenen Entscheidungen ergibt und sich dies einer grundsätzlichen Klärung entzieht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Januar 2017 – 7 B 1.16 – Buchholz 406.25 § 16 BImSchG Nr. 3 Rn. 18).

14

d) Die Beschwerde möchte schließlich grundsätzlich geklärt wissen,

ob ein etwaig fehlerhafter Feststellungsbescheid in Gänze aufzuheben ist oder auch nur eine Teilaufhebung eines solchen Bescheids in Betracht kommt.

15

Damit ist keine Frage aufgeworfen, die im Interesse der Rechtseinheit oder der Fortentwicklung des Rechts der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf. Die gestellte Frage lässt sich nur für den Einzelfall durch Rechtsanwendung beantworten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Mai 2006 – 6 B 28.06 – juris Rn. 6 ff. m.w.N.) und folgt im Übrigen der gesetzlichen Regelung des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wonach ein Verwaltungsakt nur „soweit“ aufzuheben ist, wie er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.

16

2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Entgegen der Auffassung der Beschwerde besteht zwischen dem Berufungsurteil und dem Urteil des Senats vom 11. Dezember 2003 – 7 C 19.02 – (BVerwGE 119, 329) keine Divergenz.

17

Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO öffnende Divergenz ist nur dann im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten und deren Entscheidung tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Vorschrift widersprochen hat (BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26).

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Daran fehlt es hier. Die Beschwerde stellt nicht divergierende Rechtssätze gegenüber. Vielmehr führt sie unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Dezember 2003 – 7 C 19.02 – (BVerwGE 119, 329 <337 f.>) aus, dass die Genehmigung in Gestalt der Änderungsanzeigen maßgeblich für die genehmigten Werte sei, und macht geltend, dass diese Rechtsprechung sich auf Tierplatzzahlen übertragen ließe. Mit dieser Begründung genügt die Beschwerde aber nicht den aufgezeigten Anforderungen an eine Divergenzrüge.

19

3. Schließlich liegen auch nicht die behaupteten Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) vor.

20

a) Das Oberverwaltungsgericht hat nicht verfahrensfehlerhaft eine Klagebefugnis der Klägerin und damit die Zulässigkeit ihrer Klage angenommen. Nicht jeder Verstoß gegen eine prozessrechtliche Vorschrift begründet einen Verfahrensmangel. Die fehlerhafte Beurteilung einer materiellrechtlichen Vorfrage stellt keinen Verfahrensfehler dar. Hat das Oberverwaltungsgericht in Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO der konkret in Rede stehenden Norm ein eigenes Recht des Klägers entnommen, kann es allenfalls eine materiellrechtliche Vorfrage für die Annahme der Klagebefugnis fehlerhaft beurteilt haben. Dies führt nicht zu einem Verfahrensfehler, sondern allenfalls zu einer Frage grundsätzlicher Bedeutung (BVerwG, Beschluss vom 17. November 2009 – 7 B 25.09 – Buchholz 11 Art. 14 GG Nr. 365 Rn. 30). Anderes würde nur bei einer Verkennung der prozessualen Bedeutung des § 42 Abs. 2 VwGO gelten (BVerwG, Beschluss vom 3. August 2021 – 9 B 49.20 – juris Rn. 35 f. m.w.N.). Dass dies der Fall wäre ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

21

b) Die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe verfahrensfehlerhaft das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin angenommen, führt nicht auf einen Verfahrensfehler. Auch mit diesem Einwand macht die Beschwerde einen materiellen Rechtsfehler und keinen Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend. Im Übrigen fehlt das Rechtsschutzinteresse an einer Klage nur, wenn besondere Umstände vorliegen, die diesen Zusammenhang durchbrechen und das Interesse an der Durchführung des Rechtsstreits entfallen lassen (BVerwG, Urteile vom 17. Januar 1989 – 9 C 44.87 – BVerwGE 81, 164 und vom 15. Januar 1999 – 2 C 5.98 – Buchholz 310 § 42 Abs. 1 VwGO Nr. 1 S. 2). Derartige Umstände zeigt die Beschwerde nicht auf. Es ist insbesondere nicht widersprüchlich, wenn die Klägerin in diesem Verfahren den Feststellungsbescheid angreift und eine Verletzung ihrer Beteiligungsrechte aus § 36 Abs. 1 Baugesetzbuch – BauGB – rügt, aber parallel die Aufstellung eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans für die Anlage betreibt sowie hierzu städtebauliche Verträge mit der Beigeladenen abschließt. All dies zeigt nur, dass die Klägerin mit den Mitteln des Rechts ihre kommunale Planungshoheit wahrzunehmen sucht.

22

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und 3 VwGO.

23

Die Festsetzung und Änderung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 sowie § 63 Abs. 3 Nr. 2 GKG. Die Höhe des Streitwertes ergibt sich aus Nr. 19.3 des Streitwertkatalogs 2013. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts war dieser Wert nicht wegen des streitgegenständlichen Feststellungsbescheids zu halbieren. Es ist nicht ersichtlich, dass dieser Bescheid für die Klägerin einen anderen Wert darstellt als ein Genehmigungsbescheid.