BGH 12. Zivilsenat, Beschluss vom 24.11.2021, AZ XII ZB 335/21, ECLI:DE:BGH:2021:241121BXIIZB335.21.0
Leitsatz
Wird der behandelnde Arzt in einem Unterbringungsverfahren zum Sachverständigen bestellt, muss dieser dem Betroffenen deutlich zu erkennen geben, dass er von seiner Bestellung an (auch) als Gutachter für das Gericht tätig sein wird. In dieser Funktion muss er den Betroffenen gesondert untersuchen und darf sich für sein Gutachten nicht darauf beschränken, die aus der bisherigen Tätigkeit als behandelnder Arzt gewonnenen Erkenntnisse zu verwerten (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 5. Februar 2020 – XII ZB 252/19, FamRZ 2020, 784).
Verfahrensgang
vorgehend LG Mannheim, 6. Juli 2021, Az: 4 T 102/21
vorgehend AG Mannheim, 11. Juni 2021, Az: Ju 65 XVII 1381/20
Tenor
Der Betroffenen wird für das Verfahren der Rechtsbeschwerde ratenfreie Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts bewilligt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Mannheim vom 11. Juni 2021 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Mannheim vom 6. Juli 2021 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Die außergerichtlichen Kosten der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
I.
1
Die Rechtsbeschwerde der 1959 geborenen Betroffenen wendet sich gegen die – mittlerweile durch Zeitablauf erledigte – Genehmigung ihrer Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung.
2
Die obdachlose Betroffene wurde am 17. Februar 2021 durch die Polizei in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Das Amtsgericht hatte zunächst im Wege einstweiliger Anordnung ihre Unterbringung nach Landesrecht bis längstens 1. April 2021 angeordnet. Nach Einrichtung einer rechtlichen Betreuung genehmigte es mit Beschluss vom 16. März 2021 auf Antrag der Betreuerin die geschlossene Unterbringung der Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus bis längstens 3. Juni 2021.
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Im vorliegenden Verfahren hat das Amtsgericht nach Einholung eines Gutachtens der Sachverständigen Sa. und Sch. vom 31. Mai 2021 mit Beschluss vom 11. Juni 2021 auf Antrag der Betreuerin die weitere Unterbringung der Betroffenen in der geschlossenen Einrichtung eines psychiatrischen Krankenhauses bis längstens 31. August 2021 genehmigt. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 6. Juli 2021 zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde begehrt die Betroffene nach Ablauf der Unterbringungsfrist die Feststellung, durch die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts in ihren Rechten verletzt worden zu sein.
II.
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Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts, weil diese die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG festzustellen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 – XII ZB 291/20 – FamRZ 2021, 462 Rn. 6 mwN).
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1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, dass die Betroffene nach dem vom Betreuungsgericht eingeholten Gutachten der Sachverständigen Sa. und Sch. an einer paranoiden Schizophrenie leide, bei der sich eine akute psychotische Exazerbation mit handlungsleitendem Vergiftungswahn und Sinnestäuschungen zeige. Dabei verfüge der Sachverständige Sa. als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie über die erforderlichen Fachkenntnisse, ebenso die Sachverständige Sch., die im Rahmen ihrer Tätigkeit als Assistenzärztin gerichtsbekannt über Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie verfüge. Es lägen objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens vor, wenn eine geschlossene Unterbringung der Betroffenen unterbliebe. Es sei nach den Ausführungen der Sachverständigen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die Betroffene bei Entlassung aus der Einrichtung die verordnete Medikation umgehend absetzen und sich den zur Gesunderhaltung und Sicherstellung der gesellschaftlichen Integration erforderlichen Strukturen wieder entziehen werde. Es sei insbesondere eine erneute Verschlimmerung des Vergiftungswahns zu befürchten, der schon vor dem stationären Aufenthalt zu einer bedrohlichen Vernachlässigung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme mit entsprechenden körperlichen Folgeerscheinungen (Elektrolytverschiebungen, Unterernährung) geführt habe.
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2. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Mit Recht beanstandet die Rechtsbeschwerde, dass die Feststellungen des Beschwerdegerichts auf einem verfahrensfehlerhaft erstellten Sachverständigengutachten beruhen.
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a) Unbedenklich ist – wie auch die Rechtsbeschwerde konzediert – dabei allerdings, dass die beiden Sachverständigen Sa. und Sch. die behandelnden Ärzte der Betroffenen im Rahmen ihrer stationären Unterbringung gewesen sind. Nach § 329 Abs. 2 Satz 2 FamFG soll das Gericht nur bei einer Unterbringung mit einer Gesamtdauer von mehr als vier Jahren keinen Sachverständigen bestellen, der den Betroffenen bisher behandelt hat. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass bei einer kürzeren Unterbringungsdauer auch der behandelnde Arzt zum Sachverständigen bestellt werden kann (vgl. Senatsbeschlüsse vom 7. August 2013 – XII ZB 691/12 – FamRZ 2013, 1725 Rn. 7 und vom 15. September 2010 – XII ZB 383/10 – FamRZ 2010, 1726 Rn. 9).
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b) Gemäß § 321 Abs. 1 Satz 2 FamFG hat der Sachverständige den Betroffenen vor Erstattung des Gutachtens aber persönlich zu untersuchen oder zu befragen, wobei er vor der Untersuchung des Betroffenen bereits zum Sachverständigen bestellt sein und ihm den Zweck der Untersuchung eröffnet haben muss, damit der Betroffene sein Recht, an der Beweisaufnahme teilzunehmen, sinnvoll ausüben kann. Auch wenn dem Betroffenen durch Mitteilung des Beweisbeschlusses bekannt gemacht worden ist, dass ein behandelnder Arzt zum Gutachter bestellt wurde, wird er zunächst davon ausgehen dürfen, dass ihm dieser Arzt weiter als Behandler gegenübertritt, ohne dass er dabei ohne weiteres mit einer Begutachtung für das Gericht rechnen muss. Deshalb muss der behandelnde Arzt dem Betroffenen deutlich zu erkennen geben, dass er von seiner Bestellung zum Sachverständigen an (auch) als gerichtlicher Gutachter tätig sein wird. In dieser Funktion muss er den Betroffenen gesondert untersuchen und darf sich für sein Gutachten auch nicht darauf beschränken, die aus der bisherigen Tätigkeit als behandelnder Arzt gewonnenen Erkenntnisse zu verwerten (vgl. Senatsbeschluss vom 5. Februar 2020 – XII ZB 252/19 – FamRZ 2020, 784 Rn. 9 mwN).
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Dem wird das von den Instanzengerichten verwertete Sachverständigengutachten nicht gerecht. Das Gutachten verweist lediglich darauf, dass es sich „auf die Verhaltensbeobachtung von Frau J. im stationären Rahmen und auf mehrere Arztgespräche zwischen der Patientin und den Unterzeichnern“ stützt und dass „die psychiatrischen Explorationen sowie Befunderhebungen … täglich … seit der Verlegung auf Station (…) am 19. Februar 2021 durch einen der Unterzeichner oder durch beide gemeinsam erfolgt“ seien. Weder aus diesen Ausführungen noch aus den gerichtlichen Feststellungen oder aus dem sonstigen Akteninhalt wird ersichtlich, dass die Betroffene von den Gutachtern nach ihrer Bestellung zu Sachverständigen gesondert zum Zwecke der Gutachtenerstattung untersucht und dass sie bei dieser Gelegenheit auf die Funktion der behandelnden Ärzte als gerichtliche Sachverständige hingewiesen worden ist.
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3. Die Betroffene ist durch die Genehmigung der Unterbringungsmaßnahme in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.
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Die Feststellung, dass ein Betroffener durch angefochtene Entscheidungen in seinen Rechten verletzt ist, kann nicht nur auf der Verletzung materiellen Rechts, sondern grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen (vgl. Senatsbeschluss vom 30. Juni 2021 – XII ZB 573/20 – FamRZ 2021, 1742 Rn. 13 mwN). Ist es dem Betroffenen durch die Verfahrensgestaltung nicht möglich gewesen, seine Rechte im Rahmen der Beweisaufnahme sinnvoll wahrzunehmen, so wird in dem darin liegenden Gehörsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG) regelmäßig ein derart gravierender Verfahrensfehler zu sehen sein, dass die Unterbringungsmaßnahme den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der rückwirkend nicht mehr getilgt werden kann.
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4. Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse der Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der – hier durch Zeitablauf erledigten – Genehmigung der Unterbringung feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne von § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 – XII ZB 291/20 – FamRZ 2021, 462 Rn. 21 mwN).
13
5. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.
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