BVerwG 4. Senat, Beschluss vom 27.09.2021, AZ 4 BN 17/21, ECLI:DE:BVerwG:2021:270921B4BN17.21.0
Verfahrensgang
vorgehend Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, 9. März 2021, Az: 1 C 10016/20, Urteil
Tenor
Das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. März 2021 ergangene Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
Gründe
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Die Antragstellerin wendet sich gegen die am 20. Dezember 2019 bekannt gemachte erste Änderung des Bebauungsplans „Gewann zur Heide“, mit der die u.a. das Grundstück der Antragstellerin betreffenden Festsetzungen zur Hauptgebäuderichtung, zur Dachneigung und zur maximal zulässigen Traufhöhe geändert werden sowie das zum Grundstück der Antragstellerin benachbarte bisher als öffentliche Grünfläche festgesetzte Areal teilweise als Straßenverkehrsfläche zur Errichtung einer Buswendeanlage ausgewiesen wird. Das Oberverwaltungsgericht hat den Normenkontrollantrag wegen fehlender Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO abgelehnt.
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Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO gestützte Beschwerde hat mit der Verfahrensrüge Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat die Anforderungen an die Geltendmachung einer Rechtsverletzung im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO überspannt.
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Nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann einen Normenkontrollantrag jede natürliche oder juristische Person stellen, die geltend macht, durch die angegriffene Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden.
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Erforderlich, aber auch ausreichend für die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch die Festsetzungen des Bebauungsplans in einem subjektiven Recht verletzt wird (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2004 – 4 CN 1.03 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 165 S. 137).
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1. Da das Grundstück der Antragstellerin im Geltungsbereich des angegriffenen Änderungsbebauungsplans liegt und durch diesen neben den hierfür maßgeblichen Festsetzungen auch die Festsetzungen für ein benachbartes Grundstück geändert werden, hat das Oberverwaltungsgericht für die Antragsbefugnis zu Recht auf eine mögliche Verletzung zum einen des Eigentumsrechts (Art. 14 GG) und zum anderen des in § 1 Abs. 7 BauGB normierten Abwägungsgebots abgestellt, dem in Bezug auf private Belange, die für die Abwägung erheblich sind, Schutznormcharakter zukommt (BVerwG, Urteil vom 24. September 1998 – 4 CN 2.98 – BVerwGE 107, 215 <220 f.>). Die Verneinung der Antragsbefugnis wird jedoch den Anforderungen des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht gerecht.
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a) Die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist wegen einer möglichen Eigentumsverletzung grundsätzlich zu bejahen, wenn sich ein Eigentümer eines im Plangebiet gelegenen Grundstücks gegen eine bauplanerische Festsetzung wendet, die unmittelbar sein Grundstück betrifft (BVerwG, Urteile vom 10. März 1998 – 4 CN 6.97 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 123 und zuletzt vom 27. August 2020 – 4 CN 4.19 – BVerwGE 169, 219 Rn. 10). In diesem Fall kann der Eigentümer die Festsetzung gerichtlich überprüfen lassen, weil eine planerische Festsetzung Inhalt und Schranken seines Grundeigentums bestimmt (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Wird folglich eine von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition durch die Festsetzungen eines Bebauungsplans unmittelbar betroffen, kommt es für die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO – anders als beim Abwägungsgebot – nicht darauf an, dass diese Betroffenheit mehr als geringfügig, schutzwürdig oder für die Gemeinde erkennbar ist. Es genügt die Eigentumsbetroffenheit als solche. Das gilt auch dann, wenn der Bebauungsplan eine für den Eigentümer im Vergleich zur bisherigen Rechtslage an sich günstige Festsetzung trifft, denn auch diese kann ihn zugleich in der baulichen Nutzung seines Grundstücks beschränken und für ihn nachteilig sein (BVerwG, Urteil vom 10. März 1998 – 4 CN 6.97 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 123 S. 97; Beschluss vom 29. Oktober 2019 – 4 BN 36.19 – BauR 2020, 237 Rn. 4). Die Frage des Vorliegens einer Rechtsverletzung und damit der Antragsbefugnis kann nicht auf der Grundlage eines Vergleichs der bisherigen mit der durch den Bebauungsplan geschaffenen Rechtslage verneint werden.
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Das Oberverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass der angegriffene Änderungsbebauungsplan im Verhältnis zum Ursprungsplan keine Beschränkungen enthalte, sondern der Antragstellerin ein Mehr an Baufreiheit gewähre; die neuen Festsetzungen räumten ihr eine größere Flexibilität bei der Grundstücksbebauung ein. Folglich sei eine planbedingte Verletzung ihrer Eigentumsposition nicht gegeben. Das verfehlt die dargelegten Grundsätze. Hierauf weist die Beschwerde im Rahmen der Divergenzrüge, in der zugleich eine Verfahrensrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu sehen ist, weil die behauptete Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Anwendung des Prozessrechts betrifft (BVerwG, Beschlüsse vom 12. April 2001 – 8 B 2.01 – Buchholz 310 § 92 VwGO Nr. 13 S. 5, vom 24. Oktober 2006 – 6 B 61.06 – Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 24 Rn. 8, vom 6. Oktober 2020 – 4 B 10.20 – juris Rn. 9 und vom 5. März 2021 – 4 BN 53.20 – juris Rn. 6), zutreffend hin.
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b) Macht der Antragsteller in einem Normenkontrollverfahren eine Verletzung des Abwägungsgebots geltend, dann muss er einen Belang als verletzt bezeichnen, der für die Abwägung beachtlich war. Das sind nur solche privaten Belange, die in der konkreten Planungssituation einen städtebaulich relevanten Bezug haben. Nicht abwägungserheblich sind dabei geringwertige oder mit einem Makel behaftete Interessen sowie solche, auf deren Fortbestand kein schutzwürdiges Vertrauen besteht, oder solche, die für die Gemeinde bei der Entscheidung über den Plan nicht erkennbar waren (BVerwG, Urteile vom 30. April 2004 – 4 CN 1.03 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 165 S. 138 und vom 29. Oktober 2020 – 4 CN 9.19 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 222 Rn. 13).
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Führt die Änderung eines Bebauungsplans dazu, dass Nachbargrundstücke in anderer Weise als bisher genutzt werden dürfen, so gehören die Interessen der Nachbarn an der Beibehaltung der geltenden Festsetzungen grundsätzlich zum notwendigen Abwägungsmaterial. Zwar gewährt das Baugesetzbuch keinen Anspruch auf Fortbestand eines Bebauungsplans und schließt auch Änderungen des Plans nicht aus. Die ortsrechtlichen Festsetzungen begründen aber regelmäßig ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass Veränderungen, die sich für die Nachbarn nachteilig auswirken können, nur unter Berücksichtigung ihrer Interessen vorgenommen werden. Ein solches Interesse ist nicht nur dann gegeben, wenn der Bebauungsplan in seiner ursprünglichen Fassung ein subjektives öffentliches Recht begründet hat. Abwägungsrelevant ist vielmehr jedes mehr als geringfügige private Interesse am Fortbestehen des Bebauungsplans in seiner früheren Fassung, auch wenn es auf einer einen Nachbarn nur tatsächlich begünstigenden Festsetzung beruht. Ob diese Interessen Gegenstand der Abwägung waren und dabei hinreichend berücksichtigt worden sind, kann der Betroffene im Wege der Normenkontrolle überprüfen lassen (BVerwG, Beschlüsse vom 20. August 1992 – 4 NB 3.92 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 69 S. 111 sowie vom 28. Mai 2019 – 4 BN 44.18 – ZfBR 2019, 689 Rn. 8). Abweichendes ergibt sich bei nur geringfügigen Änderungen sowie bei solchen Änderungen, die sich nur unwesentlich auf das Nachbargrundstück auswirken können (BVerwG, Beschlüsse vom 20. August 1992 – 4 NB 3.92 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 69 S. 111 f. sowie vom 28. Mai 2019 – 4 BN 44.18 – ZfBR 2019, 689 Rn. 8).
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Das Oberverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die durch den Änderungsbebauungsplan festgesetzte Buswendeschleife und die hierdurch bedingte Erhöhung des Busverkehrs die Antragsbefugnis ebenfalls nicht rechtfertigen. Die geringe Zusatzbelastung stelle keine abwägungsbeachtliche Belastung dar, deren eventuelle Fehlgewichtung eine Antragsbefugnis begründe, auch wenn in Rechnung gestellt werde, dass die Geräuschimmissionen von Bussen im Vergleich zu Personenkraftwagen höher zu veranschlagen seien. Besonderheiten des Einzelfalls, die es rechtfertigen könnten, trotz der nur geringfügigen Zunahme des Straßenverkehrs eine Antragsbefugnis der Antragstellerin zu bejahen, lägen nicht vor. Auch hiermit überspannt das Normenkontrollgericht die Anforderungen an die Geltendmachung einer Rechtsverletzung. Führen Änderungen des Bebauungsplans dazu, dass ein Grundstück baulich intensiver genutzt werden kann, besteht regelmäßig ein schutzwürdiges Interesse des Nachbarn an der Beibehaltung der ursprünglichen Festsetzungen (BVerwG, Beschluss vom 15. Juni 2020 – 4 BN 51.19 – NVwZ 2020, 1533 Rn. 8). Anhaltspunkte, die ein Abweichen von der Regel rechtfertigen könnten, bestehen nicht. Der angegriffene Bebauungsplan ermöglicht mit der Festsetzung einer Straßenverkehrsfläche mit Buswendeschleife eine grundlegend andere Nutzung des bisher als öffentliche Grünfläche ausgewiesenen und genutzten Grundstücks. Die veränderte Festsetzung wirkt sich zudem besonders in dem Bereich zum Grundstück der Antragstellerin aus. In einer solchen Situation bedarf es keiner weiteren Darlegung eines Nachbarn zur Erheblichkeit der Beeinträchtigung, um die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu begründen.
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2. Weil auch ein Revisionsverfahren nur zu einer Zurückverweisung an das Oberverwaltungsgericht führen könnte, macht der Senat von seiner Befugnis nach § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen. Aus diesem Grund bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob (auch) die von der Antragstellerin erhobenen Divergenzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) erfolgreich und ob die weiteren von der Antragstellerin erhobenen Verfahrensrügen ausreichend dargelegt sowie begründet gewesen wären (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 26. Juni 2000 – 7 B 26.00 – Buchholz § 1 Abs. 3 VermG Nr. 15 S. 46 und vom 1. Juli 2020 – 4 BN 49.19 – [insoweit nicht in Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 221 abgedruckt] juris Rn. 12).
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Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.