BGH Kartellsenat, Beschluss vom 20.12.2022, AZ KZR 84/20, ECLI:DE:BGH:2022:201222BKZR84.20.0
Verfahrensgang
vorgehend BGH, 5. April 2022, Az: KZR 84/20, Urteil
vorgehend OLG Frankfurt, 15. September 2020, Az: 11 U 128/14 (Kart), Urteil
vorgehend LG Frankfurt, 1. Oktober 2014, Az: 2-06 O 218/13, Urteil
Tenor
Die Anhörungsrüge der Beklagten gegen das Urteil des Senats vom 5. April 2022 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Gründe
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I. Der Kläger verlangt von der Beklagten Rückzahlung von Infrastrukturentgelten. Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Revision der Klägerin hat der Senat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen (Urteil vom 5. April 2022 – KZR 84/20, WRP 2022, 870 –; Regionalfaktoren II). Die Beklagte macht geltend, der Senat habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt. Sie hat beantragt, das Verfahren fortzusetzen.
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II. Die gemäß § 321a ZPO zulässige Anhörungsrüge ist unbegründet. Das angefochtene Urteil verletzt weder den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG noch ihr Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Senat hat bei seiner Entscheidung den Vortrag der Betroffenen vollumfänglich zur Kenntnis genommen, geprüft und erwogen, aber nicht für durchgreifend gehalten.
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1. Es bestand kein Anlass, das Verfahren nach § 148 ZPO auszusetzen, um ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten oder um die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache C-721/20 über das Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts abzuwarten. Das hat der Senat mit Verweis auf seine gefestigte und ausführlich begründete Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung des genannten Vorabentscheidungsersuchens begründet (BGH, Urteile vom 29. Oktober 2019 – KZR 39/19, WuW 2020, 209 Rn. 20 ff. – Trassenentgelte; vom 1. September 2020 – KZR 12/15, N&R 2021, 56 Rn. 18 f. – Stationspreissystem II; vom 22. Juni 2021 – KZR 72/15, WuW 2021, 709 Rn. 11 ff. – Stationspreissystem III; vom 21. September 2021 – KZR 88/20, WRP 2022, 65 Rn. 20 ff. – Trassenentgelte II). Darauf wird verwiesen. Das Verfahren der Anhörungsrüge dient nicht dazu, die Senatsentscheidung nochmals inhaltlich zur Überprüfung zu stellen oder einer Partei die Möglichkeit zu eröffnen, mit dem Bundesgerichtshof nach dessen Entscheidung ihren gegenteiligen Rechtsstandpunkt zu diskutieren (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2014 – I ZR 228/12, juris Rn. 10, Beschluss vom 28. Juni 2022 – EnVR 17/20, juris Rn. 2).
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Es ist lediglich erneut darauf hinzuweisen, dass nach der in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch dann, wenn sich aus der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Erhebung und Sachprüfung einer Schadensersatzklage wegen Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens ableiten lassen sollten, es jedenfalls an einer entsprechenden Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber fehlte und ein solches Umsetzungsdefizit auch nicht dadurch geheilt werden könnte, dass die Zivilgerichte die maßgeblichen anspruchsbegründenden oder -vernichtenden Normen unangewendet lassen (BGH, WuW 2020, 209 Rn. 38 ff. – Trassenentgelte; WuW 2021, 119, 38 ff. – Stationspreissystem II, WuW 2021, 709 Rn. 16 ff. – Stationspreissystem III, mit Verweis auf EuGH, Urteile vom 16. Juni 2005 – C-105/03, Slg. 2005, I-5285 Rn. 47 – Pupino; vom 8. Mai 2019 – C-486/18, NZA 2019, 1131 Rn. 38 – Praxair MRC; vom 11. September 2019 – C-143/18, WM 2019, 1919 Rn. 38 – Romano; BVerfG, Beschluss vom 26. September 2011 – 2 BvR 2216/06, NJW 2012, 669, 670; BGH, Urteil vom 15. Oktober 2019 – XI ZR 759/17, WM 2019, 2164 Rn. 22; Beschluss vom 31. März 2020 – XI ZR 198/19, ZIP 2020, 865 Rn. 12; Urteil vom 18. November 2020 – VIII ZR 78/20, NJW 2021, 1008 Rn. 26; BVerfG, NJW 2012, 669, 670; BGH, Urteile vom 7. Mai 2014 – IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101 Rn. 20; vom 28. Juni 2017 – IV ZR 440/14, BGHZ 215, 126 Rn. 24; vom 26. März 2019 – II ZR 244/17, BGHZ 221, 325 Rn. 21; s.a. BGH, WRP 2022, 65 Rn. 21 – Trassenentgelte II). Ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz wäre nicht gewährleistet, wenn die Eisenbahnverkehrsunternehmen bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche verfahrensrechtliche Voraussetzungen beachten müssten, die weder zum Zeitpunkt der Anspruchsentstehung noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Geltendmachung gesetzlich bestimmt und damit für die Berechtigten erkennbar waren (BGH, WuW 2020, 209 Rn. 39 – Trassenentgelte).
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Daran vermag das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 27. Oktober 2022 zur Auslegung von Art. 30 der Richtlinie 2001/14/EG (C-721/20, juris – DB Station & Services) nichts zu ändern. Im Übrigen war die Bundesnetzagentur bereits mit den hier in Rede stehenden Schienennetznutzungsbedingungen befasst und hat durch Bescheid von 5. März 2010 – wenn auch nicht bestandskräftig – festgestellt, dass die Erhebung der Regionalfaktoren gegen Vorschriften des Allgemeinen Eisenbahngesetzes verstieß. An dieser Rechtsauffassung hat die Bundesnetzagentur in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich festgehalten (BGH, WRP 2022, 870 Rn. 60 – Regionalfaktoren II mit Verweis auf BGH, Urteil vom 8. Februar 2022 – KZR 89/20, WRP 2022, 756 Rn. 40 – Regionalfaktoren).
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2. Der Senat hat auch das Vorbringen der Beklagten zur Kenntnis genommen und erwogen, wonach die Rückforderung von Entgelten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union erst dann zulässig sei, wenn von der Regulierungsstelle oder gegebenenfalls von einem Gericht – das die Entscheidung dieser Stelle als für die Klage gegen diese Entscheidung zuständiges Gericht überprüft hat – im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts die Unvereinbarkeit der Entgelte festgestellt worden ist (EuGH, Urteil vom 9. November 2017 – C-489/15, EuZW 2018, 74 Rn. 97 – CTL Logistics; Urteil vom 8. Juli 2021 – C-120/20, EuZW 2021, 695 Rn. 59 – Mazowieckie), und wonach den Zivilgerichten die Prüfung der Wirksamkeit des Bescheids der Bundesnetzagentur wie auch des öffentlich-rechtlichen Vertrags entzogen sei. Der Senat hat sich jedoch nicht an einer Entscheidung gehindert gesehen, weil im Hinblick auf die geltend gemachten Ansprüche aus § 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. BGB eine inhaltliche Überprüfung der Infrastrukturentgelte durch die Zivilgerichte anhand der Vorschriften des Allgemeinen Eisenbahngesetzes nicht erfolgt und die insofern bestehende ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsbehörde nicht berührt ist. Insofern hat der Senat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Beklagte nur solange nicht berechtigt ist, die auf die Regionalfaktoren entfallenden Entgeltbestandsteile zu behalten, wie der Bescheid nicht aufgehoben ist. Im Übrigen hat der Senat für durchgreifend erachtet, dass die Bundesnetzagentur die Unvereinbarkeit der Regionalfaktoren mit dem Eisenbahnrecht mit Bescheid vom 5. März 2010 bereits festgestellt hat, dieser Bescheid wirksam ist, dem Widerspruch der Beklagten nach den Vorschriften des Allgemeinen Eisenbahngesetzes keine aufschiebende Wirkung zukam, dieser Bescheid unmittelbare privatrechtsgestaltende Wirkung hat, ein verwaltungsgerichtliches Verfahren zur Überprüfung des Bescheids der Bundesnetzagentur nicht anhängig war, das angerufene Gericht den Rechtsstreit in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden hat und zugleich feststeht, dass die Erhebung der Regionalfaktoren gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des Art. 102 AEUV verstößt.
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3. Ebenso hat der Senat das Vorbringen der Beklagten im Hinblick auf die Annahme des Beschwerdegerichts zur Kenntnis genommen und erwogen, wonach „durch“ den öffentlich-rechtlichen Vertrag konkludent eine Aufhebung des Bescheides der Bundesnetzagentur vom 5. März 2010 erfolgt sei. Der Senat ist dabei nicht von den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen zum Verhältnis von öffentlich-rechtlichem Vertrag und eines diesen umsetzenden Verwaltungsakts (BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1997 – 8 C 1/96, NVwZ 1998, 1061 Rn. 29; Beschluss vom 26. Oktober 2006 – 7 B 19/06, juris Rn. 35) abgewichen, insbesondere ist er nicht davon ausgegangen, dass die Nichtigkeit eines öffentlich-rechtlichen Vertrages zwangsläufig die Nichtigkeit eines diesen umsetzenden Verwaltungsaktes nach sich zieht, sondern dies nach Maßgabe der Umstände Einzelfalls zu beurteilen ist (BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 2006 – 7 B 19/06, juris Rn. 35). Der Senat hat erkannt, dass der geschlossene öffentlich-rechtliche Vertrag an einem besonders schwerwiegenden Mangel leidet, weil er wegen der fehlenden Begründung die aus dem Rechtsstaatsgebot folgenden Rechtsschutzfunktionen zu Lasten der Zugangsberechtigten verkürzt und für diese keine rechtssichere Handlungsgrundlage bietet. Vor diesem Hintergrund ist er unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls, insbesondere der multipolaren Rechtsverhältnisse und der privatrechtsgestaltenden Wirkung der Regulierungsentscheidung zu dem Ergebnis gelangt, dass auch eine etwaige in dem Vertrag enthaltene „konkludente Auf-hebung“ des Bescheids gleichermaßen an einem Mangel leidet, der gemäß § 44 VwVfG dessen Nichtigkeit zur Folge hat. Eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat der Obersten Bundesgerichte nach dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes war daher nicht veranlasst.
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4. Zu Unrecht meint die Beklagte weiter, das Senatsurteil stelle sich als eine das rechtliche Gehör der Beklagten verletzende Überraschungsentscheidung dar.
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a) Die Frage, ob bereicherungsrechtliche Ansprüche unter Berücksichtigung des Standes des Verwaltungsverfahrens gegeben sind, war bereits Gegenstand des Berufungsverfahrens und ein wesentlicher Angriff der Revision. Demgemäß enthält auch die Revisionserwiderung der Beklagten Ausführungen zur Frage, ob ein bereicherungsrechtlicher Anspruch auf Rückzahlung bereits geleisteter Entgelte im Hinblick auf eine etwaige Nichtigkeit des öffentlich-rechtlichen Vertrages gegeben ist. Vor diesem Hintergrund musste die anwaltlich vertretene Beklagte als eine gewissenhafte und kundige Prozessbeteiligte alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen (vgl. nur BVerfGE 98, 218, 263; BVerfG, AnwBl 2016, 852 Rn. 7; BGH, Beschluss vom 14. September 2022 – EnVR 77/20, juris Rn. 5; BGH, Urteil vom 7. April 2022 – I ZR 5/21, WRP 2022, 720 Rn. 63 – Kinderzahnärztin; BVerwG, Beschluss vom 4. Juni 2020 – 2 B 26/19, juris Rn. 36 f.) und war ein Hinweis des Senats nicht geboten.
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b) Ebenso wenig konnte es die Beklagte überraschen, dass der Senat von der Wirksamkeit des Bescheides der Bundesnetzagentur vom 5. März 2010 ausgegangen ist und eine etwaige – vom Berufungsgericht angenommene – konkludente Aufhebung des Bescheids „durch“ den öffentlich-rechtlichen Vertrag ebenfalls als nichtig angesehen hat. Die Beklagte hat dies in ihrer Revisionserwiderung ausführlich erörtert. Der Senat hat zudem in der mündlichen Verhandlung die Frage behandelt, inwieweit der Bundesnetzagentur die Handlungsform des öffentlich-rechtlichen Vertrages zur Verfügung stand. Dass sich daran anschließend die Frage stellt, ob eine „konkludente Aufhebung“ durch einen gegebenenfalls als nichtig zu qualifizierenden öffentlich-rechtlichen Vertrag wirksam sein kann, lag auf der Hand. Eine Abweichung von den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen besteht nicht (oben Rn. 7).
- Kirchhoff
- Roloff
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- Rombach
- Holzinger