BVerwG 1. Senat, Beschluss vom 12.05.2022, AZ 1 B 14/22, ECLI:DE:BVerwG:2022:120522B1B14.22.0
Leitsatz
1. Bei mehreren Prozessbevollmächtigten genügt die Zustellung an einen von ihnen. Bei Zustellungen an mehrere Prozessbevollmächtigte ist für den Beginn der Rechtsmittelfrist die zeitlich erste Zustellung maßgeblich.
2. Die Mandatskündigung eines Prozessbevollmächtigten erlangt erst mit Anzeige gegenüber dem Gericht rechtliche Wirksamkeit.
Verfahrensgang
vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 18. August 2021, Az: A 3 S 277/19, Urteil
vorgehend VG Freiburg (Breisgau), 18. September 2018, Az: A 5 K 4674/17
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 18. August 2021 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.
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1. Die Revision ist nicht wegen des allein geltend gemachten Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Das angefochtene Berufungsurteil beruht nicht auf einer – geltend gemachten – Verletzung des Anspruchs der Kläger auf rechtliches Gehör.
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Im gerichtlichen Verfahren gewährleisten Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO den Beteiligten das Recht, sich vor der Entscheidung zu allen dafür erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen zu äußern. Rechtlich erhebliches Vorbringen der Beteiligten muss das Gericht zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen (stRspr, vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 – 1 BvR 1621/94 – BVerfGE 96, 205 <216>). Auf einen rechtlichen Gesichtspunkt, mit dessen Erheblichkeit ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem Prozessverlauf nicht rechnen musste, darf es seine Entscheidung nicht ohne vorherigen Hinweis stützen (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991 – 1 BvR 1383/90 – BVerfGE 84, 188 <190>; BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2015 – 8 C 9.15 – BeckRS 2016, 41833 Rn. 2).
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Gemessen daran liegt eine entscheidungserhebliche Verletzung des Rechts der Kläger auf rechtliches Gehör nicht vor.
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Die Rüge der Beschwerde, zur Wahrung rechtlichen Gehörs hätte das Berufungsgericht nicht allein die Rechtsanwälte Dr. G., sondern allein oder jedenfalls auch die Rechtsanwälte S. zur mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht laden müssen, greift nicht durch.
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Gemäß § 67 Abs. 6 Satz 5 VwGO sind Zustellungen an den bestellten Prozessbevollmächtigten zu richten. Bedient sich jemand mehrerer Bevollmächtigter, sind diese nach § 173 VwGO i.V.m. § 84 ZPO berechtigt, den Betreffenden sowohl gemeinschaftlich als auch einzeln zu vertreten, sodass die Zustellung an jeden von ihnen gemäß § 67 Abs. 6 Satz 5 VwGO wirksam bewirkt werden kann. Demzufolge genügt bei mehreren Bevollmächtigten die Zustellung an einen von ihnen (BVerwG, Beschlüsse vom 21. Dezember 1983 – 1 B 152.83 – NJW 1984, 2115 und vom 29. April 1997 – 4 B 76.97 – BeckRS 1997, 23086 Rn. 2; Hoppe, in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 67 Rn. 29).
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Für den Beginn des Laufes prozessualer Fristen ist die zeitlich erste Zustellung ausschlaggebend (BVerwG, Beschluss vom 31. Juli 1998 – 9 B 776.98 – NJW 1998, 3582; BGH, Beschluss vom 26. September 2007 – IV ZB 39/06 – BeckRS 2007, 17402 Rn. 5). Eine spätere Zustellung an einen weiteren Bevollmächtigten setzt keine neue Rechtsmittelfrist in Lauf. Das Gesetz sieht keine Befugnis des Gerichts vor, durch erneute Zustellung einer Entscheidung die durch eine vorhergehende Zustellung bereits wirksam in Lauf gesetzte Rechtsmittelfrist zu verlängern oder neu in Lauf zu setzen (BVerwG, Beschlüsse vom 29. Januar 1980 – 2 B 76.79 – NJW 1980, 2269 und vom 21. Dezember 1983 – 1 B 152.83 – NJW 1984, 2115; Schenke, in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 67 Rn. 55).
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Die Prozessvollmachten der Kläger für die Rechtsanwälte Dr. G. vom 12. Juni 2017 sind nicht dahingehend beschränkt gewesen, dass Zustellungen an diese nicht hätten vorgenommen werden dürfen. Gemäß § 81 ZPO i.V.m. § 173 VwGO berechtigt die Vollmacht zu allen den Rechtsstreit betreffenden Prozesshandlungen. Soweit eine Vertretung durch Rechtsanwälte nicht geboten ist, kann eine Vollmacht nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 83 Abs. 2 ZPO beschränkt werden. Sie kann nur für einzelne Prozesshandlungen erteilt oder einzelne Prozesshandlungen können aus dem Umfang der Vollmacht herausgenommen werden. Die Beschränkung der Prozessvollmacht muss unzweideutig zum Ausdruck gebracht werden, denn im gerichtlichen Verfahren sollen über die Reichweite der Vertretungsbefugnis keine Zweifel bestehen (BVerwG, Beschluss vom 29. April 1997 – 4 B 76.97 – BeckRS 1997, 23086 Rn. 3; BSG, Urteil vom 2. September 2009 – B 12 P 2/08 R – SozR 4 – 3300 § 110 Nr. 2 = BeckRS 2010, 65994 Rn. 13).
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Auch der Umstand, dass sich die Kläger durch die Rechtsanwälte Dr. G. nicht mehr vertreten gesehen oder diesen gegenüber möglicherweise das Mandat gekündigt haben, ändert nichts daran, dass sie die Zustellung gegen sich gelten lassen müssen. Denn im Zeitpunkt der Zustellung des Berufungsurteils (8. November 2021) ist die Bevollmächtigung der Rechtsanwälte Dr. G. nicht wirksam erloschen gewesen. Gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 87 ZPO erlangt die Kündigung eines Prozessvertretungsvertrags erst mit der Anzeige gegenüber dem Gericht rechtliche Wirksamkeit. Solange dem Gericht das Ende des bisherigen Vollmachtverhältnisses nicht vorgetragen wird, ist demnach der bisherige anwaltliche Prozessbevollmächtigte für das Gericht bevollmächtigt, für die Kläger Prozesshandlungen vorzunehmen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. April 1997 – 4 B 76.97 – BeckRS 1997, 23086 Rn. 2; OVG Bremen, Beschluss vom 9. August 2016 – 2 LA 102/15 – NVwZ-RR 2017, 167 Rn. 9; Hartung/Schramm, in: BeckOK VwGO, Posser/Wolff, Stand Januar 2022, § 67 Rn. 75). Eine Anzeige der Beendigung des Mandatsverhältnisses gegenüber dem Gericht ist weder seitens der Rechtsanwälte Dr. G. noch durch Rechtsanwalt S. oder die Kläger selbst bis zur Zustellung des Berufungsurteils am 8. November 2021 erfolgt. Die Rechtsanwälte Dr. G. haben das Empfangsbekenntnis auch nicht etwa unausgefüllt zurückgeschickt und darauf hingewiesen, dass sie nicht mehr bevollmächtigt seien, sondern haben vielmehr das Empfangsbekenntnis ausgefüllt, unterzeichnet und am 8. November 2021 zurückgesandt.
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2. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.