BGH 6. Strafsenat, Urteil vom 01.06.2022, AZ 6 StR 643/21, ECLI:DE:BGH:2022:010622U6STR643.21.0
Verfahrensgang
vorgehend BGH, 18. Mai 2022, Az: 6 StR 643/21, Beschluss
vorgehend BGH, 3. Mai 2022, Az: 6 StR 643/21, Beschluss
vorgehend BGH, 22. Februar 2022, Az: 6 StR 643/21, Beschluss
vorgehend LG Rostock, 31. August 2021, Az: 12 KLs 62/21 jug (2)
Tenor
1. Auf die den Angeklagten S. betreffende Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 31. August 2021 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten dieses Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
2. Die den Angeklagten A. betreffende Revision des Nebenklägers wird verworfen.
Insoweit trägt der Nebenkläger die Kosten seines Rechtsmittels und die diesem Angeklagten im Revisionsverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen.
– Von Rechts wegen –
Gründe
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Das Landgericht hat die Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen und den Angeklagten A. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, den Angeklagten S. unter Einbeziehung einer früheren Entscheidung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Der Nebenkläger strebt mit seinen jeweils auf die Rügen der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen eine Verurteilung der Angeklagten wegen eines versuchten Tötungsdelikts an. Die Rechtsmittel haben im tenorierten Umfang Erfolg.
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1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
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Der Angeklagte S. und der Nebenkläger waren wegen eines Betäubungsmittelgeschäfts zerstritten. Als sie sich zufällig begegneten, stellte S. den Nebenkläger deshalb zur Rede. Weil dieser ein Gespräch verweigerte, fühlte sich S. „missachtet und gedemütigt“ und wollte auf den Nebenkläger „losgehen“. Als sie begannen, sich zu „schubsen“, stellte sich der blinde Angeklagte A. zwischen beide und hielt die Arme des Nebenklägers umschlossen, um ihn an der Verteidigung gegen S. s Angriff zu hindern. Dieser trat von hinten an den Nebenkläger heran und brachte ihm mit einem Messer mehrere Verletzungen bei, darunter eine von der Stirn bis zum Unterkiefer verlaufende, mindestens zwei bis drei Zentimeter tiefe und bis auf den Unterkieferknochen reichende Schnittwunde mit Verletzung einer Arterie und dadurch verursachter starker Blutung. S. nahm dabei „ganz erhebliche, unter Umständen lebensgefährliche Verletzungen“ in Kauf. Während der Tat rief er auf Arabisch: „Ich bringe dich um!“ oder: „Ich mache dich fertig!“. A. hatte zwar damit gerechnet, dass S. den Nebenkläger schlagen würde, wusste jedoch nichts vom Einsatz des Messers. Dass er mit einer möglichen Tötung des Nebenklägers rechnete, konnte die Kammer nicht feststellen.
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2. Der Schuldspruch hält nur teilweise revisionsgerichtlicher Überprüfung stand. Während gegen das Urteil betreffend den Angeklagten A. aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts rechtlich nichts zu erinnern ist, unterliegt es hinsichtlich des S. teilweise der Aufhebung. Denn das Landgericht hat die Möglichkeit eines zumindest bedingten Tötungsvorsatzes nicht erkennbar in den Blick genommen, obwohl dazu Anlass bestand.
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Der Generalbundesanwalt hat hierzu ausgeführt:
„Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen – wie sie auch hier, insbesondere durch den tiefen Schnitt im Gesicht, gegeben sind – liegt es nahe, dass der Täter mit dem Eintritt des Todes seines Opfers rechnet. Indem er gleichwohl sein gefährliches Handeln beginnt oder fortsetzt, nimmt er einen solchen Erfolg billigend in Kauf (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 1. Dezember 2011 – 5 StR 360/11 -, Rdnr. 10 m. zahlreichen w. N.). Deshalb ist in derartigen Fällen ein Schluss von der objektiven Gefährlichkeit der Handlungen des Täters auf bedingten Tötungsvorsatz möglich und regelmäßig ein Vertrauen des Täters auf das Ausbleiben des tödlichen Erfolges zu verneinen, wenn der von ihm vorgestellte Ablauf des Geschehens einem tödlichen Ausgang so nahekommt, dass nur noch ein glücklicher Zufall diesen verhindern kann (st. Rspr.; vgl. BGH, NStZ 2009, 629 [630]). Die Brutalität der Tathandlung und die Augenfälligkeit der hiermit verbundenen Lebensgefahr machten hier das Todesrisiko kognitiv leicht erfassbar.“
6
Dem schließt sich der Senat an.
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3. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die von dem Rechtsfehler nicht betroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen haben Bestand. Das neue Tatgericht ist nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, soweit diese den bisherigen nicht widersprechen. Es wird gegebenenfalls die Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts zu prüfen haben.
- Sander
- König
- Feilcke
- Wenske
- von Schmettau