BVerfG 2. Senat 3. Kammer, Einstweilige Anordnung vom 15.05.2025, AZ 2 BvR 211/25, ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250515.2bvr021125
Art 4 Abs 1 GG, Art 4 Abs 2 GG, Art 140 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, Art 137 Abs 3 WRV
Verfahrensgang
vorgehend BAG, 17. Oktober 2024, Az: 8 AZR 42/24, Urteil
Tenor
Die gegen die Beschwerdeführerin gerichtete Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 17. Oktober 2024 – 8 AZR 42/24 – auf Herausgabe einer Kopie des Protokolls der Sitzung des Kirchengemeinderats der Beschwerdeführerin vom 15. Mai 2006 und die zu diesem Zweck angeordnete Durchsuchung der Geschäftsräume der Beschwerdeführerin mit Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 5. Mai 2025 – 2 T 80/25 – werden bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt.
Gründe
I.
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1. Der Verfassungsbeschwerde und dem damit einhergehenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung liegt ein kirchenarbeitsrechtliches Verfahren zugrunde, in dessen Rahmen die Beschwerdeführerin mit Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 17. Oktober 2024 zur Herausgabe einer Kopie des Protokolls einer nichtöffentlichen Sitzung des Kirchengemeinderats der Beschwerdeführerin vom 15. Mai 2006 an die Klägerin des Ausgangsverfahrens verpflichtet wurde. Gegenstand dieser Sitzung des Kirchengemeinderats der Beschwerdeführerin waren ausschließlich arbeitsrechtliche Maßnahmen gegenüber der Klägerin des Ausgangsverfahrens, die zum damaligen Zeitpunkt bei der Beschwerdeführerin beschäftigt war. Das zum (…) begründete Arbeitsverhältnis wurde mit Eintritt der Klägerin des Ausgangsverfahrens in den Ruhestand zum (…) beendet.
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Da sich die Beschwerdeführerin geweigert hatte, das streitbefangene Protokoll an die zuständige Gerichtsvollzieherin herauszugeben, beantragte die Klägerin des Ausgangsverfahrens mit Schreiben vom 23. Dezember 2024 beim Amtsgericht Stuttgart den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses. Das Amtsgericht Stuttgart wies den Antrag mit Beschluss vom 17. Februar 2025 als unzulässig zurück. Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin des Ausgangsverfahrens hob das Landgericht Stuttgart den amtsgerichtlichen Beschluss mit Beschluss vom 5. Mai 2025 – 2 T 80/25 – auf und ordnete die Durchsuchung der Geschäftsräume der Beschwerdeführerin zum Zweck der Vollstreckung der im Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 17. Oktober 2024 bezeichneten Herausgabeverpflichtung an.
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2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 17. Oktober 2024, durch das sie sich in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 WRV verletzt sieht.
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Im Wesentlichen beruft sie sich darauf, dass das Bundesarbeitsgericht im Rahmen der Auslegung der einschlägigen Regelungen der Kirchengemeindeordnung und der zugehörigen Ausführungsverordnung bei der Gewichtung der Interessen der Beschwerdeführerin Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 4 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV) verkannt habe.
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Die Beschwerdeführerin beantragt im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG die Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 17. Oktober 2024.
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3. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erhalten. Sie ist im Wesentlichen der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin kein anerkennenswertes rechtliches Interesse am Erlass einer einstweiligen Anordnung geltend gemacht habe.
II.
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Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache zu entscheidende Verfassungsbeschwerde erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 140, 99 <106 Rn. 11>; 143, 65 <87 Rn. 35>; stRspr).
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Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 140, 99 <106 Rn. 11>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 160, 164 <171 Rn. 22> – Tierarztvorbehalt – eA; stRspr). Die Folgenabwägung gemäß § 32 BVerfGG stützt sich mithin auf eine bloße Einschätzung der Entscheidungswirkungen (vgl. nur BVerfGE 94, 166 <217>).
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2. Nach diesen Maßstäben war die einstweilige Anordnung zu erlassen.
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a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Sie wirft insbesondere die Frage auf, ob und inwieweit das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV nach Maßgabe der einschlägigen kirchenrechtlichen Bestimmungen der Herausgabe einer Kopie des Protokolls einer nichtöffentlichen Sitzung des Kirchengemeinderats der Beschwerdeführerin an eine im kirchlichen Dienst nicht mehr beschäftigte Person, hier der Klägerin des Ausgangsverfahrens, entgegensteht oder ob sich gegebenenfalls unter dem Gesichtspunkt von deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein entsprechender (nachvertraglicher) Herausgabeanspruch ergibt. Die Klärung der insoweit aufgeworfenen Fragen von Tragweite und Grenzen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in der hier vorliegenden kirchenarbeitsrechtlichen Konstellation kann im Eilverfahren nicht erfolgen.
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b) Im Rahmen der somit erforderlichen Folgenabwägung überwiegen die Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung.
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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber später als begründet, könnte die Klägerin des Ausgangsverfahrens in der Zwischenzeit – nachdem bereits die Durchsuchung der Geschäftsräume der Beschwerdeführerin angeordnet worden ist – Kenntnis von Informationen erlangen, ohne hierzu berechtigt zu sein. Dies könnte zu einer – möglicherweise irreparablen – Beeinträchtigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts der Beschwerdeführerin führen.
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Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, wäre der Verfassungsbeschwerde aber später der Erfolg zu versagen, würde damit lediglich eine Verzögerung der Herausgabe des hier in Rede stehenden Dokuments für eine begrenzte Zeitspanne einhergehen. Ein Verlust der Niederschrift steht ebenfalls nicht zu befürchten, zumal die Beschwerdeführerin vorgetragen hat, das Protokoll vom 15. Mai 2006 herauszugeben, sollte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg haben. Bei Abwägung der jeweiligen Folgen wiegen die möglichen Nachteile für die Beschwerdeführerin schwerer als die durch den Erlass der einstweiligen Anordnung eintretende vorübergehende Aussetzung der Vollstreckung der im Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 17. Oktober 2024 bezeichneten Herausgabeverpflichtung.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.