Beschluss des BGH 6a. Zivilsenat vom 11.03.2025, AZ VIa ZR 288/23

BGH 6a. Zivilsenat, Beschluss vom 11.03.2025, AZ VIa ZR 288/23, ECLI:DE:BGH:2025:110325BVIAZR288.23.0

Verfahrensgang

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, 6. Februar 2023, Az: 1 U 79/22
vorgehend LG Kiel, 6. September 2022, Az: 2 O 86/22

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 1. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 6. Februar 2023
– mit Ausnahme der begehrten Freistellungvon Zinsen aus den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten und unter Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde insoweit – aufgehoben.

Die Sache wird insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens wird auf bis 65.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Die Klägerin kaufte am 17. September 2018 von einem Händler ein Wohnmobil Fiat Ducato Hobby Optima 65 HFL Premium. In dem Fahrzeug ist ein Dieselmotor mit der Bezeichnung 2,3 l Multijet mit einer Leistung von 96 kW verbaut. Es verfügt nach dem Vorbringen der Klägerin unter anderem über ein Thermofenster.

3

Die Klägerin hat zuletzt die Zahlung von 55.961,16 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde. Nach Zulassung der Revision möchte sie ihre Berufungsanträge weiterverfolgen.

II.

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Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat– mit Ausnahme der begehrten Freistellungvon Zinsen aus den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 2023 – VIa ZR 1139/22, juris Rn. 11) –Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

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1. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung – soweit hier von Interesse – im Wesentlichen wie folgt begründet:

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Der Klägerin stünden keine deliktischen Ansprüche zu. Sie beschränke sich darauf, Motoren aus dem Konzern der Beklagten zu beanstanden, versäume es aber, einen Zusammenhang zu dem Motor in ihrem Fahrzeug herzustellen. Sie trage namentlich keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass das Thermofenster in der Motorsteuerung ihres Fahrzeugs dazu führe, dass die Abgasrückführungsrate bereits außerhalb des Temperaurbereichs von 20 bis 30°C verringert werde; nicht jedes Thermofenster stelle aber eine unzulässige Abschalteinrichtung dar. Die Beklagte treffe keine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Ausgestaltung der Motorsteuerung, Voraussetzung hierfür sei zumindest eine substantiierte Behauptung einer Abschalteinrichtung durch die Klägerin. Der Einbau unzulässiger Abschalteinrichtungen – namentlich des Thermofensters – sei auch nicht unstreitig. Es sei bereits ausreichend, dass die Beklagte vorgetragen habe, in dem Fahrzeug der Klägerin seien keine unzulässigen Abschalteinrichtungen oder Prüfstandserkennungen implementiert. Dabei handle es sich nicht allein um Rechtsvortrag, sondern um ein Bestreiten der von der Klägerin behaupteten unzulässigen Abschalteinrichtungen, das angesichts der fehlenden Substanz des Vortrags der Klägerin ausreiche.

7

2. Durch diese Beurteilung hat das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt.

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a)Das Gebot rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Dabei gewährt Art. 103 Abs. 1 GG zwar keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Die Nichtberücksichtigung erheblichen Vortrags verstößt jedoch gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet, weil sie die einschlägigen prozessrechtlichen Vorschriften offenkundig missachtet, und dadurch den Prozessvortrag des Klägers übergeht (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Mai 2017 – VI ZR 85/16, NJW 2017, 2623 Rn. 7; Beschluss vom 5. März 2019 – VIII ZR 190/18, NJW 2019, 1950 Rn. 10 f.).

9

Hiervon ist auszugehen, wenn die Nichtberücksichtigung des Sachvortrags einer Partei darauf beruht, dass das Gericht die Vorschrift des § 138 Abs. 3 ZPO zu den Folgen der Erklärungslast der Parteien gemäß § 138 Abs. 2 ZPO in offenkundig fehlerhafter Weise gehandhabt hat. Da nach § 138 Abs. 3 ZPO Tatsachen, die nicht ausdrücklich oder konkludent bestritten werden, vom Gericht als zugestanden anzusehen und der Entscheidung ohne Weiteres zugrunde zu legen sind, kann die offenkundig fehlerhafte Anwendung dieser Bestimmung – ähnlich wie die von Präklusionsvorschriften – dazu führen, dass entscheidungserheblicher Sachvortrag der Partei nicht in der nach Art. 103 Abs. 1
GG gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung berücksichtigt wird (BGH, Beschluss vom 21. Juni 2022 – VIII ZR 285/21, NJW-RR 2022, 1144 Rn. 13).

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b) Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine Gehörsverletzung anzulasten. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht rügt, hat es in offensichtlich fehlerhafter Anwendung der Regelung des § 138 Abs. 3 ZPO und unter Fehlinterpretation des Vorbringens der Beklagten angenommen, diese habe das Vorbringen der Klägerin zum Vorhandensein eines Thermofensters in ihrem Fahrzeug umfassend in Abrede gestellt.

11

aa) Die Klägerin hat vorgetragen, ihr Fahrzeug enthalte ein Thermofenster, das dazu führe, dass das Fahrzeug nur unter Prüfstandsbedingungen und insbesondere bei den dort vorgeschriebenen Temperaturen von 20 bis 30°C den gesetzlichen Grenzwert einhalte, dieser aber außerhalb der Bedingungen, etwa bei Außentemperaturen von 7 bis 10°C erheblich überschritten werde, bei Autobahnfahrten gar um ein Mehrfaches. Bei ihrem Fahrzeug finde eine optimale Abgasreinigung nur im temperierten Prüfstand, im Realbetrieb hingegen nur in einem sehr reduzierten Rahmen statt.

12

Die Beklagte hat vorgebracht, das Fahrzeug der Klägerin enthalte keine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Insbesondere sei die Verwendung einer temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung, die auf dem Prüfstand in gleicher Weise arbeite wie im realen Fahrbetrieb, für sich genommen nicht sittenwidrig. Da ihr Einsatz also nicht auf die Manipulation des Prüfstandtests angelegt sei, handele es sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs schon nicht um eine Abschalteinrichtung. Die Ausführungen der Klägerin unter anderem zum Thermofenster erfolgten pauschal ins Blaue hinein und seien unschlüssig. Bei einer temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung handle es sich zudem um einen allgemein bekannten Industriestandard.

13

bb) Dieses Vorbringen lässt nicht hinreichend erkennen, dass die Beklagte das Vorhandensein des von der Klägerin angeführten Thermofensters in Abrede gestellt hätte. Sie hat sich im Wesentlichen auf die Erklärung beschränkt, die einschlägigen Behauptungen der Klägerin seien ins Blaue hinein erfolgt und unschlüssig sowie vorgebracht, es liege insofern weder eine unzulässige Abschalteinrichtung noch gar ein Fall der Sittenwidrigkeit vor, zumal es sich bei einer temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung um einen allgemein bekannten Industriestandard handle. Die Beklagte hat damit, wie das Berufungsgerichts zutreffend erkennt, im Hinblick auf das Thermofenster lediglich vorgetragen, in dem Fahrzeug der Klägerin seien keine unzulässigen Abschalteinrichtungen oder Prüfstandserkennungen implementiert. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts genügte dies jedoch nicht für ein Bestreiten des Einbaus des von der Klägerin vorgetragenen Thermofensters in ihr Fahrzeug. Mit diesem Vorbringen hatte die Beklagte vielmehr lediglich ihre rechtliche Sicht in Bezug auf die Zulässigkeit beziehungsweise Sittenwidrigkeit eines Thermofensters zum Ausdruck gebracht. Diese dürfte von dem ausweislich späterer höchstrichterlicher Rechtsprechung (EuGH, Urteil vom 14. Juli 2022 – C-128/20, NJW 2022, 2605 Rn. 40, 42, 44 und 47; BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 14 f. und 50 f.) unzutreffenden Rechtsstandpunkt getragen gewesen sein, für die Annahme einer Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 sei allein die Funktionsweise des Fahrzeugs und die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte unter den Bedingungen des Prüfverfahrens von Bedeutung, wie sie durch die EG-Typgenehmigung bescheinigt werde, und für die die Beklagte zudem darauf hinwies, bei einer temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung handle es sich um einen allgemein bekannten Industriestandard. Dass sie den Einbau des von der Klägerin behaupteten Thermofensters in Abrede stelle, lässt sich ihrem Vorbringen hingegen nicht nachvollziehbar entnehmen. Ein solches Bestreiten ergibt sich auch nicht daraus, dass die Beklagte die Ausführungen der Klägerin unter anderem zum Thermofenster als pauschal ins Blaue hinein und unschlüssig beanstandet hat. Auch damit hat sie lediglich ihre rechtliche Beurteilung des gegnerischen Prozessvorbringens zum Ausdruck gebracht. Unter diesen Umständen aber hätte das Berufungsgericht jedenfalls nicht ohne eine Rückfrage bei der Beklagten (§ 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO) annehmen dürfen, sie habe den Einbau des von der Klägerin behaupteten Thermofensters in ihrem Fahrzeug bestritten (vgl. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 23. April 2024 – VIa ZR 1346/22, juris Rn. 12).

14

3. Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass die nach allem gebotene Nachfrage bei der Beklagten ergeben hätte, dass diese den tatsächlichen Einbau des von der Klägerin behaupteten Thermofensters in ihrem Fahrzeug nicht in Abrede stelle.

15

Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht in diesem Fall einen Schadensersatzanspruch der Klägerin aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung bejaht hätte (vgl. dazu BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245).

16

4. Die von der Nichtzulassungsbeschwerde weiter geltend gemachten Verletzungen von Verfahrensgrundrechten hat der Senat geprüft, aber für nicht durchgreifend erachtet. Von einer näheren Begründung wird insoweit gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist.

C. Fischer    
                   Brenneisen    
                   Messing

             Katzenstein                            F. Schmidt

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