BVerwG 2. Senat, Beschluss vom 18.02.2025, AZ 2 B 45/24, ECLI:DE:BVerwG:2025:180225B2B45.24.0
Verfahrensgang
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 15. Juli 2024, Az: 10 LB 519/22 OVG, Urteil
vorgehend VG Greifswald, 21. Juli 2022, Az: 11 A 1366/21 HGW, Urteil
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 15. Juli 2024 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
1
Der Rechtsstreit betrifft ein beamtenrechtliches Disziplinarklageverfahren.
2
1. Der … geborene Beklagte steht als Polizeiobermeister (Besoldungsgruppe A 8 LBesG M-V) im Dienst der Klägerin. Das Landgericht S. verurteilte ihn im Dezember 2019 wegen Verfolgung Unschuldiger in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ein weiteres gegen den Beklagten wegen des Verdachts auf Körperverletzung im Amt geführtes Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft nach Zustimmung des Dienstherrn und einer Zahlung des Beklagten in Höhe von 300 € zur Schadenswiedergutmachung an den Geschädigten … C. im Mai 2016 nach § 153a StPO ein. Dem lag – ausgehend von den Feststellungen des Amtsgerichts S. in dessen Urteil vom Juni 2015 in dem gegen … C. geführten Strafverfahren wegen öffentlicher Verwendung von Kennzeichen einer nationalsozialistischen Organisation – folgendes Geschehen vom 18. Januar 2015 zugrunde:
„Als der [Beklagte] an der Gruppe der jungen Leute am Tresen vorbeiging, kam aus der Gruppe ein ‚dummer Spruch‘, dessen Inhalt nicht festgestellt werden konnte. Daraufhin schlug der [Beklagte] im Vorübergehen den Angeklagten … C. mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf, ohne dass der Angeklagte […] dazu verbal oder in sonstiger Weise Anlass geliefert hätte. Da … C. selbst nicht gesehen hatte, wer ihm den Schlag versetzt hatte, fragte er einen seiner Freunde, der ihm den [Beklagten] als Verantwortlichen bezeichnete.“
3
In dem im Februar 2016 eingeleiteten und zunächst wegen des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens ausgesetzten Disziplinarverfahren hat die Klägerin im August 2021 Disziplinarklage erhoben. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Dessen hiergegen gerichtete Berufung hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagte habe ein schweres innerdienstliches Dienstvergehen begangen und dadurch das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren. Ausgehend von den bindenden Feststellungen des Landgerichts S. habe der Beklagte an drei Tagen im Januar 2016 an insgesamt neun Pkw Verwarnzettel angebracht, obwohl ihm bewusst gewesen sei, dass ein verwarnungsgeldwürdiger Verstoß nicht vorgelegen habe. Auch die Feststellungen des Amtsgerichts S. in dem gegen … C. geführten Strafverfahren lege es ohne nochmalige Prüfung seiner Entscheidung zugrunde. Soweit der Beklagte einwende, mit seiner Darstellung des Geschehens die tatsächlichen Feststellungen erschüttert zu haben, dringe er nicht durch. Zwar sei richtig, dass der Beklagte, wenn er an … C. vorbeigegangen sei ohne ihn zu schlagen, keinen anderen Sachverhalt schildern könne und diese Schilderung für sich genommen plausibel klinge und auch nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden könne. Der Beklagte habe sich aber nicht mit den in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht gemachten gegenteiligen Zeugenaussagen auseinandergesetzt, die Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts geworden seien. Die erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abgegebene Darstellung, dass er sich durch die Massenansammlung vor dem Tresen teilweise habe durchdrängen müssen, dabei die Arme ausgebreitet habe und es infolgedessen möglicherweise zu einem Körperkontakt mit dem einen Kopf kleineren … C. gekommen sei, werte der Senat als bloße Schutzbehauptung.
4
2. Die zulässige Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision führt zur Aufhebung der angegriffenen Berufungsentscheidung. Die Beschwerde hat einen Verfahrensmangel i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dargelegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (a). Dieser führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und nach § 133 Abs. 6 VwGO zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht (b).
5
a) Das Berufungsgericht hat gegen die von der Beschwerde in der Sache gerügte Aufklärungspflicht verstoßen.
6
aa) Im gerichtlichen Disziplinarverfahren haben die Tatsachengerichte nach § 58 LDG M-V und § 3 LDG M-V i. V. m. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO grundsätzlich selbst und von Amts wegen diejenigen Tatsachen zu ermitteln und festzustellen, die für den Nachweis des Dienstvergehens und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sind. Entsprechend § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO folgt daraus die Verpflichtung, diejenigen Maßnahmen der Sachaufklärung zu ergreifen, die sich nach Lage der Dinge aufdrängen. Dies gilt gemäß § 58 Abs. 1 und § 65 Abs. 1 Satz 1 LDG M-V auch für die Berufungsinstanz (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10. Dezember 2020 – 2 B 6.20 – NVwZ-RR 2021, 469 Rn. 7 und vom 17. Juni 2021 – 2 B 56.20 – juris Rn. 16). Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung verpflichtet das Gericht, alle erforderlichen Beweise selbst zu erheben. Von Zeugen hat es sich grundsätzlich in der mündlichen Verhandlung selbst einen unmittelbaren persönlichen Eindruck zu verschaffen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4. September 2008 – 2 B 61.07 – Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 4 Rn. 7 und vom 15. Januar 2020 – 2 B 40.19 – juris Rn. 7).
7
Die gerichtliche Aufklärungspflicht in Disziplinarverfahren ist aber durch § 57 Satz 1 i. V. m. § 25 Abs. 1 LDG M-V eingeschränkt. Danach sind – sofern kein Lösungsbeschluss erfolgt – u. a. die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils für das Disziplinargericht bindend; insoweit ist jedwede neue Ermittlungstätigkeit unzulässig. Die in einem anderen gesetzlich geordneten Verfahren getroffenen tatsächlichen Feststellungen sind nicht bindend, können nach § 57 Satz 1 i. V. m. § 25 Abs. 2 LDG M-V aber der Entscheidung im Disziplinarverfahren ohne nochmalige Prüfung zu Grunde gelegt werden. Dieses gerichtliche Ermessen ist beschränkt und hat sich am Zweck der Ermächtigung zu orientieren. Er besteht darin, divergierende Entscheidungen von Straf- und Disziplinargerichten über dieselbe Tatsachengrundlage nach Möglichkeit zu vermeiden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15. März 2013 – 2 B 22.12 – NVwZ-RR 2013, 557 Rn. 14 und vom 26. September 2014 – 2 B 14.14 – Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 5 Rn. 10). Diese Möglichkeit endet, wenn die Indizwirkung des anderen gesetzlich geordneten Verfahrens entkräftet wird und der Vortrag des Beamten dem Gericht Anlass zu einer eigenständigen Beweisaufnahme gibt (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 23. Januar 2013 – 2 B 63.12 – juris Rn. 23, vom 26. September 2014 – 2 B 14.14 – Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 5 Rn. 10 und vom 15. Januar 2020 – 2 B 40.19 – juris Rn. 9).
8
Das Disziplinargericht muss demnach eine Ermessensentscheidung treffen, ob und inwieweit es die in einem „anderen gesetzlich geordneten Verfahren“ getroffenen Feststellungen seiner Disziplinarentscheidung zugrunde legt. Soweit diese Tatsachen substantiiert bestritten werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. März 2012 – 2 A 11.10 – juris Rn. 39; Beschluss vom 26. September 2014 – 2 B 14.14 – Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 5 Rn. 10), ist es an der Zugrundelegung der Tatsachen gehindert und muss eigene Feststellungen treffen. Werden diese Tatsachen nicht – oder nicht substantiiert – bestritten, kann es sowohl die Tatsachen zugrunde legen als auch hiervon absehen und eigene Feststellungen treffen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4. September 2008 – 2 B 61.07 – Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 4 Rn. 8 und vom 15. Januar 2020 – 2 B 40.19 – juris Rn. 10).
9
Ein substantiiertes Bestreiten setzt eine von den in dem „anderen gesetzlich geordneten Verfahren“ getroffenen tatsächlichen Feststellungen abweichende Schilderung des Lebenssachverhalts voraus, die plausibel und nicht von vornherein von der Hand zu weisen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 30. Juni 2015 – 2 B 31.14 – Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 36 Rn. 7 und vom 26. September 2014 – 2 B 14.14 – Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 5 Rn. 10). Hingegen reicht das pauschale Vorbringen des Beamten, der festgestellte Sachverhalt entspreche nicht dem tatsächlichen Geschehensablauf, grundsätzlich nicht aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2015 – 2 B 31.14 – Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 36 Rn. 7). Es kommt demnach insbesondere darauf an, ob der Vortrag des angeschuldigten Beamten dem Gericht Anlass zu einer Beweisaufnahme gibt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Januar 2013 – 2 B 63.12 – juris Rn. 23).
10
bb) Ausgehend hiervon liegt der von der Beschwerde geltend gemachte Verfahrensmangel vor. Zwar hat der Beklagte in der Berufungsverhandlung keinen unbedingten Beweisantrag gestellt, über den das Gericht nach § 3 LDG M-V i. V. m. § 86 Abs. 2 VwGO durch einen zu begründenden Beschluss hätte entscheiden müssen. Dem Berufungsgericht hätte sich jedoch auch ohne einen solchen unbedingten Beweisantrag eine weitere Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen aufdrängen müssen.
11
Das Berufungsgericht hat gestützt auf § 57 Satz 1 i. V. m. § 25 Abs. 2 LDG M-V seiner Entscheidung die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts in dem gegen … C. geführten Strafverfahren zugrunde gelegt, in dem der Beklagte nur als Zeuge gehört worden ist. Es bedarf im vorliegenden Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde keiner abschließenden Klärung, ob unter der Geltung der Disziplinargesetze des Bundes und der Länder dem Tatbestandsmerkmal „andere gesetzlich geordnete Verfahren“ auch gegen Dritte geführte Verfahren unterfallen, sofern die Aufklärung des Sachverhalts vom Grundsatz der Amtsermittlung bestimmt wird (vgl. zur BDO BVerwG, Urteil vom 22. November 1979 – 1 D 84.78 – BVerwGE 63, 293 <298 f.>; BDH, Beschluss vom 4. Februar 1959 – 2 DV 5/58 – BDHE 5, 70 <71>). Zweifel hieran bestehen nicht nur, weil sich die materielle Bindungswirkung und Rechtskraft der Entscheidung auf diese Nicht-Beteiligten gar nicht erstreckt. Fraglich erscheint vielmehr insbesondere, ob in dieser Gestaltung eine (hinreichende) sachliche Rechtfertigung für den Verzicht auf die grundsätzlich durch Art. 19. Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistete Kontrolle der tatsächlichen Grundlagen einer gerichtlichen Entscheidung besteht. Den Vorschriften zur Bindungswirkung im Disziplinarverfahren liegt maßgeblich die Annahme zugrunde, dass tatsächliche Feststellungen, die ein Gericht auf der Grundlage eines Strafprozesses mit seinen besonderen Ermittlungsmöglichkeiten und Erfahrungen einerseits sowie den hierfür geltenden rechtsstaatlichen Sicherungen andererseits trifft, eine erhöhte Gewähr der Richtigkeit bieten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2017 – 2 B 59.17 – Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 11 Rn. 18 m. w. N.). Strafverfahren, bei denen der Beamte nur als Zeuge beteiligt war und in denen er daher nicht über die im Strafprozess dem Angeklagten zukommenden Rechte verfügte, entsprechen diesen Anforderungen nicht. Ob und inwieweit derartige Verfahren ein Absehen tatsächlicher Feststellungen im Hinblick auf gegen den Beamten erhobene Vorwürfe rechtfertigen könnten, bedürfte daher weiterer Prüfung.
12
Hierauf kommt es indes nicht entscheidungserheblich an. Denn das Berufungsgericht hat den Vortrag des Beklagten – bei isolierter Betrachtung – als „für sich genommen plausibel“ klingend und „auch nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen“ bezeichnet. Damit lag ein substantiiertes Bestreiten des Beklagten vor. Dies gilt vorliegend umso mehr, als der Beklagte die gerichtliche Entscheidung, deren Feststellungen zum Gegenstand des Disziplinarverfahrens gemacht werden sollen, nicht selbst mit Rechtsmitteln angreifen konnte. Dies hätte dem Berufungsgericht Anlass zur (weiteren) Aufklärung des Sachverhalts geben müssen.
13
Seiner Aufklärungspflicht war das Berufungsgericht im vorliegenden Fall nicht deshalb enthoben, weil es den Vortrag des Beklagten im Ergebnis als nicht durchdringend erachtet hat. Ausschlaggebend war für das Berufungsgericht insoweit, dass der Beklagte sich nicht mit den in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht gemachten gegenteiligen Zeugenaussagen auseinandergesetzt habe. Dem Berufungsgericht ist es zwar nicht verwehrt, die für sich betrachtet plausible Schilderung des Beklagten auch vor dem Hintergrund der Zeugenaussagen im amtsgerichtlichen Strafverfahren zu würdigen. Aufgrund des Gebots des fairen Verfahrens (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4. Januar 2023 – 2 B 22.22 – juris Rn. 38 und vom 2. Mai 2024 – 2 B 37.23 – NVwZ 2024, 1355 Rn. 17) wäre es jedoch verpflichtet gewesen, den Beklagten mit deren Aussagen zu konfrontieren. Entsprechendes gilt, soweit das Berufungsgericht die erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erfolgte Darstellung des Beklagten zu einem möglichen Körperkontakt aufgrund ausgebreiteter Arme als Schutzbehauptung qualifiziert hat. Denn das Berufungsgericht hat sich auch insoweit u. a. auf Aussagen der im amtsgerichtlichen Strafverfahren vernommenen Zeugen gestützt, ohne dem Beklagten deren Inhalt vorzuhalten. Dem Beklagten ist ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht vom 15. Juli 2024 – soweit hier von Relevanz – zwar seine eigene Aussage im Strafverfahren vor dem Amtsgericht vorgehalten worden, nicht aber die Aussagen der ebenfalls vom Amtsgericht vernommenen Zeugen (vgl. § 105 VwGO i. V. m. § 160 Abs. 2 ZPO).
14
b) Im Hinblick auf die begründete Verfahrensrüge macht der Senat von der nach § 133 Abs. 6 VwGO bestehenden Möglichkeit Gebrauch, die Sache unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.