Soziales

Beschluss des BSG vom 22.01.2025, AZ B 1 KR 71/23 B

BSG, Beschluss vom 22.01.2025, AZ B 1 KR 71/23 B, ECLI:DE:BSG:2025:220125BB1KR7123B0

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Juli 2023 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

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I. Der Kläger ist mit seinem Begehren auf Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Cannabis bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Der Anspruch scheitere daran, dass keine begründete ärztliche Einschätzung nach § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 b) SGB V vorliege, warum die dem medizinischen Standard entsprechenden, zur Verfügung stehenden Leistungen nicht zur Anwendung kommen könnten
(Urteil vom 27.7.2023).

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Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

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II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Der Beschwerdebegründung mangelt es bereits an einer geordneten Darstellung des Sachverhalts
(dazu 1.). Auch im Übrigen entspricht die Begründung nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung
(dazu 2.), der Divergenz
(dazu 3.) und des Verfahrensmangels
(dazu 4.).

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1. Die Beschwerdebegründung genügt hinsichtlich aller Zulassungsgründe schon deshalb nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, weil der Kläger bereits den Sachverhalt, der dem angefochtenen Urteil des LSG zugrunde liegt, nicht hinreichend mitgeteilt hat. Eine Sachverhaltsschilderung gehört jedoch zu den Mindestanforderungen an die Darlegung bzw Bezeichnung eines Revisionszulassungsgrundes.

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„Bezeichnet“ ist eine Divergenz oder ein Verfahrensmangel noch nicht, wenn einzelne Sachverhaltselemente herausgegriffen werden und anhand dieser ein behaupteter Verfahrensmangel diskutiert wird, sondern nur dann, wenn er in der Gesamtheit der ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird. Gleiches gilt für die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtsfrage. Denn das Beschwerdegericht muss sich bereits anhand der Beschwerdebegründung ein Urteil darüber bilden können, ob die geltend gemachten Tatsachen – ihre Richtigkeit unterstellt – es als möglich erscheinen lassen, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler oder auf einem divergenten Rechtssatz beruht oder sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellen kann
(vgl BSG vom 10.10.2024 – B 1 KR 22/24 B – juris RdNr 6; BSG vom 8.4.2020 – B 13 R 3/20 B – juris RdNr 6 mwN; BSG vom 8.11.2018 – B 9 V 28/18 B – juris RdNr 5 f mwN; BSG vom 10.10.2017 – B 13 R 234/17 B – juris RdNr 5). Es ist nicht Aufgabe des BSG, sich im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren selbst die maßgeblichen Tatsachen aus dem angegriffenen Urteil oder den Akten herauszusuchen
(vgl BSG vom 21.12.2022 – B 9 SB 14/22 B – juris RdNr 5 mwN; BSG vom 10.12.2020 – B 6 KA 25/20 B – juris RdNr 9 mwN).

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Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Es fehlt an einer geordneten Darstellung des Sachverhalts und des Verfahrensablaufs. Der Inhalt des angefochtenen Urteils und damit auch die vom LSG festgestellten Tatsachen sowie der Verfahrensablauf werden nur bruchstück- und lückenhaft im Zusammenhang mit ihrer rechtlichen Erörterung wiedergegeben.

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2. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft
(§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist
(vgl zB BSG vom 17.4.2012 – B 13 R 347/11 B – SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 – 1 BvR 2856/07 – SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 ff mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.

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Der Kläger formuliert bereits keine abstrakte Rechtsfrage. Soweit der Beschwerdebegründung konkludent die Rechtsfrage zu entnehmen sein sollte, ob „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome“ neben den übrigen in § 31 Abs 6 SGB V genannten Anspruchsvoraussetzungen vorliegen muss oder bereits für sich genommen zur Begründung des Anspruchs ausreicht, legt der Kläger nicht dar, warum diese Frage erneut klärungsbedürftig geworden sein soll, obwohl in der Rechtsprechung des BSG die in § 31 Abs 6 SGB V genannten Voraussetzungen zur Begründung des Anspruchs kumulativ verlangt werden
(vgl zB BSG vom 10.11.2022 – B 1 KR 9/22 R – SozR 4-2500 § 13 Nr 57 RdNr 14).

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3. Wer sich auf den Zulassungsgrund der Divergenz
(§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) beruft, muss entscheidungstragende, abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht
(vgl zB BSG vom 19.9.2007 – B 1 KR 52/07 B – juris RdNr 6; BSG vom 9.5.2018 – B 1 KR 55/17 B – juris RdNr 8; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Darlegungsanforderungen vgl BVerfG <Dreierausschuss> vom 8.9.1982 – 2 BvR 676/81 – juris RdNr 8). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen Rechtssatz aufgestellt hat, der objektiv von höchstrichterlicher Rechtsprechung abweicht
(vgl zB BSG vom 19.11.2019 – B 1 KR 72/18 B – juris RdNr 8). Dem LSG muss es dabei aber nicht subjektiv bewusst gewesen sein, dass es einen objektiv abweichenden Rechtssatz aufstellt
(vgl auch BSG vom 2.9.2015 – B 11 AL 34/15 B – juris RdNr 18). Es genügt für eine Abweichung, dass das LSG andere rechtliche Maßstäbe aufstellt
(vgl BSG vom 29.11.1989 – 7 BAr 130/88 – SozR 1500 § 160a Nr 67 S 91). An der Aufstellung eines von höchstrichterlicher Rechtsprechung abweichenden Rechtssatzes fehlt es, wenn das LSG lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat. Die Aufstellung eines Rechtssatzes durch das LSG, der objektiv von höchstrichterlicher Rechtsprechung abweicht, hat der Beschwerdeführer schlüssig darzulegen.

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Auch diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Es fehlt bereits an der Wiedergabe von abstrakten Rechtssätzen aus der Entscheidung des Berufungsgerichts und einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG.

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4. Wer sich – wie hier der Kläger – auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten
(stRspr; vgl zB BSG vom 20.7.2010 – B 1 KR 29/10 B – juris RdNr 5 mwN; BSG vom 1.3.2011 – B 1 KR 112/10 B – juris RdNr 3 mwN; BSG vom 14.10.2016 – B 1 KR 59/16 B – juris RdNr 5). Hierzu gehört die Darlegung, dass ein anwaltlich vertretener Beteiligter einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat
(vgl zB BSG vom 14.6.2005 – B 1 KR 38/04 B – juris RdNr 5; BSG vom 29.3.2007 – B 9a VJ 5/06 B – SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Der Tatsacheninstanz soll dadurch vor Augen geführt werden, dass der Betroffene die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion
(vgl BSG vom 24.11.1988 – 9 BV 39/88 – SozR 1500 § 160 Nr 67; BSG vom 10.4.2006 – B 1 KR 47/05 B – juris RdNr 9 mwN; BSG vom 1.2.2013 – B 1 KR 111/12 B – RdNr 8). Die Warnfunktion des Beweisantrags entfällt, wenn Beweisantritte lediglich in der Berufungsschrift oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind
(vgl BSG vom 17.12.2020 – B 1 KR 84/19 B – juris RdNr 5; BSG vom 26.4.2021 – B 1 KR 52/20 B – juris RdNr 5).

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Der Kläger richtet sein Beschwerdevorbringen hieran nicht aus. Er benennt bereits keinen Beweisantrag, den er bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht aufrechterhalten hat.

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5. Im Kern rügt der Kläger lediglich die Unrichtigkeit der LSG-Entscheidung und legt seine abweichende Ansicht zur Auslegung des § 31 Abs 6 SGB V und zur Tatsachenfeststellung dar. Die Frage, ob das Berufungsgericht in der Sache richtig entschieden hat, ist nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde
(stRspr; vgl BSG vom 26.6.1975 – 12 BJ 12/75 – SozR 1500 § 160a Nr 7; BSG vom 26.1.2005 – B 12 KR 62/04 B – SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 18; BSG vom 31.10.2012 – B 13 R 107/12 B – SozR 4-2600 § 43 Nr 19 RdNr 21; BSG vom 17.7.2020 – B 1 KR 34/19 B – juris RdNr 6).

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  • 6. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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