Ausreisegewahrsam, unverschuldete Verhinderung an der Ausreise (Beschluss des BGH 13. Zivilsenat)

BGH 13. Zivilsenat, Beschluss vom 29.10.2024, AZ XIII ZB 53/21, ECLI:DE:BGH:2024:291024BXIIIZB53.21.0

§ 62b Abs 1 S 1 Nr 1 AufenthG

Leitsatz

Ausreisegewahrsam, unverschuldete Verhinderung an der Ausreise

Ein vollziehbar zur Ausreise verpflichteter Ausländer ist während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe wegen einer Straftat, die er ohne Kenntnis davon begangen hat, wann die ihm gesetzte Ausreisefrist beginnt und endet, im Sinne des § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG unverschuldet an der Ausreise gehindert.

Verfahrensgang

vorgehend LG Dresden, 10. September 2021, Az: 2 T 750/19
vorgehend AG Dresden, 6. November 2019, Az: 472 XIV 627/19 B

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 10. September 2021 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Dresden vom 6. November 2019 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Freistaat Sachsen auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I.    Der Betroffene, ein russischer Staatsangehöriger, reiste 2013 nach Deutschland ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt) lehnte zuletzt mit Bescheid vom 19. Juli 2017 seinen Asylantrag ab, forderte ihn auf, binnen 30 Tagen das Bundesgebiet zu verlassen, und drohte ihm die Abschiebung nach Russland an. Die dagegen vom Betroffenen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 24. August 2017 ab. Seinen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil lehnte das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 30. September 2019 ab. Vom 3. Oktober bis 5. November 2019 verbüßte der Betroffene eine Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt B; anschließend befand er sich bis zu seiner richterlichen Anhörung am 6. November 2019 in Polizeigewahrsam.

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. November 2019 gegen den Betroffenen Ausreisegewahrsam zur Sicherung der Abschiebung bis längstens 13. November 2019 angeordnet. Dagegen hat der Betroffene am 11. November 2019 Beschwerde eingelegt und zugleich beantragt, das Verfahren im Fall seiner Haftentlassung als Feststellungsverfahren fortzusetzen. Das Amtsgericht hat der Beschwerde des Betroffenen nicht abgeholfen. Das Beschwerdegericht hat die nach der Haftentlassung mit dem Feststellungsantrag weiter verfolgte Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich dieser mit der Rechtsbeschwerde.

3

II.    Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

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1.    Das Beschwerdegericht hält die Anordnung des Ausreisegewahrsams durch das Amtsgericht für rechtmäßig. Der Betroffene sei im Zeitpunkt der Beschlussfassung vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Die ihm im Bescheid des Bundesamts vom 19. Juli 2017 gesetzte 30-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise habe mit der unanfechtbaren Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 30. September 2019 zu laufen begonnen und sei am 31. Oktober 2019 abgelaufen. Der Betroffene sei wegen seiner Inhaftierung vom 3. Oktober bis 5. November 2019 nicht unverschuldet an der Ausreise gehindert gewesen, da die Haft auf sein eigenes schuldhaftes Verhalten zurückgehe.

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2.    Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Der Vollzug des Ausreisegewahrsams aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts vom 6. November 2019 hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, da im Zeitpunkt der Beschlussfassung die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Ausreisegewahrsam nicht vorlagen. Das Beschwerdegericht hat zu Unrecht angenommen, der Betroffene sei nicht unverschuldet an der freiwilligen Ausreise gehindert gewesen.

6

a)    Unter welchen Voraussetzungen von einer „unverschuldeten“ Hinderung an der freiwilligen Ausreise im Sinne des § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG in der vom 21. August 2019 bis 26. Februar 2024 geltenden Fassung auszugehen ist, wird im Gesetz nicht näher konkretisiert. Aus der Begründung des Entwurfs der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung ergibt sich, dass ein Verschulden grundsätzlich dann nicht vorliegt, wenn es dem Ausländer während der Dauer der Frist zur freiwilligen Ausreise bei objektiver Betrachtung unmöglich war auszureisen. Das ergibt sich aus der Erläuterung, dass von der Ausnahmeregelung unter anderem der Fall erfasst werden soll, dass der Ausländer durch Krankheit an der Einhaltung der Ausreisefrist gehindert war (vgl. BT-Drucks. 18/4097, S. 56).

7

b)    Liegt ein objektiver Hinderungsgrund vor, kann eine verschuldete Hinderung an der freiwilligen Ausreise nur angenommen werden, wenn der Ausländer diesen in dem Wissen oder zu dem Zweck herbeigeführt hat, damit die Ausreise zu vereiteln. Denn das Verschulden muss sich auf eine bestehende oder konkret bevorstehende Ausreisepflicht beziehen; die abstrakte Möglichkeit, dass eine solche entstehen wird, genügt nicht. Daher liegt während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe wegen einer Straftat, die der Ausländer ohne Kenntnis davon begangen hat, wann die ihm gesetzte Ausreisefrist beginnt und endet, trotz der strafrechtlichen Relevanz seines Verhaltens im Hinblick auf die Pflicht zur Ausreise kein schuldhaftes Verhalten des Ausländers vor (ebenso AG Hamburg, Beschluss vom 30. Juni 2020 – 219g XIV 128/20, StraFo 2020, 380 [juris Rn. 4]; AG Tiergarten, Beschluss vom 10. Januar 2024 – 381 XIV 5/24 B, juris Rn. 4 bis 6). Für die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe gilt nichts Anderes.

8

c)    Ausgehend von diesen Grundsätzen, hat der Betroffene im Streitfall die Frist zur Ausreise unverschuldet überschritten. Er konnte im Zeitraum vom 3. Oktober bis zum 6. November 2019 die Justizvollzugsanstalt beziehungsweise die Polizeidienststelle nicht verlassen. Während dieser Zeit war es ihm somit objektiv unmöglich, auszureisen. Die Verhängung und der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe beruhte auf Straftaten, die der Betroffene begangen hat, bevor der Bescheid des Bundesamts vom 19. Juli 2017 – durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 30. September 2019 – bestandskräftig geworden ist. Vor dessen Bestandskraft hatte der Betroffene keine Kenntnis davon, ob und wann die ihm vom Bundesamt gesetzte 30-tägige Ausreisefrist beginnen und enden würde.

9

3.    Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

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