Urteil des BGH 7. Zivilsenat vom 17.11.2022, AZ VII ZR 260/20

BGH 7. Zivilsenat, Urteil vom 17.11.2022, AZ VII ZR 260/20, ECLI:DE:BGH:2022:171122UVIIZR260.20.0

Verfahrensgang

vorgehend OLG München, 29. Oktober 2020, Az: 19 U 3139/20
vorgehend LG München I, 29. April 2020, Az: 14 O 19576/18

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 29. Oktober 2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung hinsichtlich des Klageantrags zu 1 (Zahlungsantrag) zurückgewiesen worden ist, jedoch mit Ausnahme der Unteranträge 333, 334, 335 und 3276, und hinsichtlich der Zinsen nur insoweit, als Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit verlangt werden.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin nimmt die beklagte Kraftfahrzeug- und Motorenherstellerin mit dem Vorwurf der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Die Beklagte entwickelte unter der Bezeichnung EA 189 einen Dieselmotor, dessen Steuerungssoftware den Betrieb des Fahrzeugs in dem für die amtliche Prüfung der Fahrzeugemissionen maßgeblichen Neuen Europäischen Fahrzyklus erkannte und in diesem Fall eine höhere Abgasrückführungsrate als im normalen Straßenbetrieb bewirkte („Umschaltlogik“), wodurch es gelang, die gesetzlichen Grenzwerte für Stickoxidemissionen auf dem Prüfstand einzuhalten.

3

Am 22. September 2015 veröffentlichte die Beklagte eine Ad-hoc-Mitteilung, in der sie auf Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit Motoren des Typs EA 189 hinwies. Mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 ordnete das Kraftfahrt-Bundesamt, das die genannte Steuerungssoftware als unzulässige Abschalteinrichtung wertete, gegenüber der Beklagten den Rückruf der betroffenen Fahrzeuge an. Die Beklagte rief die Fahrzeuge zurück und modifizierte die Software so, dass der Motor auch im Normalbetrieb im stickoxidoptimierten Modus arbeitete.

4

Die Klägerin ist eine Leasinggeberin. Sie behauptet, ab dem Jahr 2009 das Eigentum an 5.740 Fahrzeugen verschiedener Marken des Volkswagen-Konzerns käuflich erworben zu haben, wobei der Kauf in 33 Fällen nach Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung vom 22. September 2015 erfolgt sei. 5.674 der Fahrzeuge habe sie später wieder veräußert. Unstreitig ist im Großteil der Fahrzeuge der Motor EA 189 verbaut.

5

Die Klägerin hat in den Vorinstanzen Schadensersatz in einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Höhe gefordert, mindestens jedoch in Höhe von 26.878.499,17 €, was 20 % der Summe der Kaufpreise entspreche, nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus mindestens 20 % der Einzelkaufpreise ab dem jeweiligen Erwerbszeitpunkt. Zudem hat sie die Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten beantragt.

6

Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der insoweit vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Zahlungsbegehren im Hinblick auf 5.736 der 5.740 Fahrzeuge und mit einer auf fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit reduzierten Zinsforderung weiter.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision ist begründet.

I.

8

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

9

Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Ersatz der behaupteten Differenz zwischen dem jeweils gezahlten Kaufpreis und dem Fahrzeugwert im Kaufzeitpunkt. Sie habe nicht dargelegt, dass sie die Fahrzeuge in Kenntnis der „Umschaltlogik“ zu einem geringeren Kaufpreis gekauft hätte, vielmehr habe sie vorgetragen, dass sie die Fahrzeuge dann überhaupt nicht erworben hätte. Ein „kleiner Schadensersatz“ scheide auf dieser Grundlage aus. Die Klägerin könne allenfalls verlangen, so gestellt zu werden, als hätte sie die Fahrzeuge nicht erworben. Diesen Anspruch mache sie indes nicht geltend.

10

Soweit die Klägerin Fahrzeuge mit dem Motor EA 189 erst nach Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten vom 22. September 2015 erworben habe, stehe ihr außerdem schon dem Grunde nach kein Schadensersatz zu, da die Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten aufgrund der Mitteilung entfallen sei.

II.

11

Das hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts können die Schadensersatzansprüche der Klägerin nicht verneint werden.

12

1. Das Berufungsgericht hat allerdings – entgegen der Auffassung der Revision – zu Recht das Klagebegehren dahin ausgelegt, dass die Klägerin den sogenannten kleinen Schadensersatz geltend macht. Die Ansicht der Revision, die Klägerin verlange tatsächlich den großen Schadensersatz in Gestalt einer „fiktiven Rückabwicklung“ der Kaufverträge, geht am Inhalt der Klage vorbei. Die Klägerin macht eine behauptete Differenz zwischen Kaufpreis und objektivem Fahrzeugwert im Kaufzeitpunkt als Schaden geltend, was dem kleinen Schadensersatz entspricht (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2021 – VI ZR 40/20 Rn. 20, 23, BGHZ 230, 224).

13

2. Rechtsfehlerhaft ist indes die Auffassung des Berufungsgerichts, die Klägerin könne den kleinen Schadensersatz nicht verlangen, weil sie nicht dargelegt und bewiesen habe, dass sie die – hier im Streit stehenden – Fahrzeuge in Kenntnis der „Umschaltlogik“ zu einem geringeren Kaufpreis erworben hätte.

14

Wie der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, kommt ein Anspruch auf den kleinen Schadensersatz in den „Dieselfällen“ auf der Grundlage der §§ 826, 249 Abs. 1 BGB auch dann in Betracht, wenn der Geschädigte das Fahrzeug in Kenntnis der Sachlage überhaupt nicht erworben hätte. Auch in einem solchen Fall kann der Geschädigte, der nicht den großen Schadensersatz wählt, sondern das Fahrzeug behalten möchte, als Schaden den Betrag ersetzt verlangen, um den er das Fahrzeug zu teuer erworben hat, wobei es grundsätzlich zunächst auf den Vergleich der Werte von Leistung und Gegenleistung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ankommt (BGH, Urteil vom 6. Juli 2021 – VI ZR 40/20 Rn. 12-23, BGHZ 230, 224).

15

Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Der Vortrag der Klägerin, dass sie in Kenntnis der Sachlage vom Erwerb der Fahrzeuge Abstand genommen hätte, steht ihrem Begehren mithin nicht entgegen. Dass sie die Fahrzeuge – anders als die Klägerin des Verfahrens VI ZR 40/20 – nicht behalten möchte, sondern weit überwiegend bereits weiterveräußert hat, schließt den geltend gemachten Anspruch grundsätzlich ebenfalls nicht aus (vgl. zum großen Schadensersatz BGH, Urteil vom 20. Juli 2021 – VI ZR 533/20 Rn. 17 ff., NJW 2021, 3594).

16

Die Klägerin hat – entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung – den Minderwert der Fahrzeuge in Höhe von 20 % des jeweiligen Kaufpreises schlüssig dargelegt und auch nicht prozessual unzulässig „ins Blaue hinein“ behauptet. Aus der Existenz einer unzulässigen Abschalteinrichtung und der daraus gegebenenfalls resultierenden Stilllegungsgefahr ergeben sich hinreichende Anhaltspunkte für einen objektiven Minderwert im Kaufzeitpunkt (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 Rn. 48, BGHZ 225, 316; Urteil vom 6. Juli 2021 – VI ZR 40/20 Rn. 25, BGHZ 230, 224). Hinsichtlich der behaupteten Höhe des Minderwerts besteht kein prozessuales Bedürfnis nach näheren Anhaltspunkten, zumal § 287 Abs. 1 ZPO einschlägig ist und die Klägerin die Höhe zulässigerweise unter Nennung eines Mindestbetrags in das Ermessen des Gerichts gestellt hat (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2021 – VI ZR 40/20 Rn. 10, BGHZ 230, 224; Urteil vom 5. Oktober 2021 – VI ZR 136/20 Rn. 21, NJW-RR 2022, 23).

17

3. Ebenfalls nicht frei von Rechtsfehlern ist die Erwägung des Berufungsgerichts, die Klägerin könne hinsichtlich der nach dem 22. September 2015 erworbenen Fahrzeuge schon dem Grunde nach keinen Schadensersatz verlangen.

18

Es trifft allerdings grundsätzlich zu, dass der Vorwurf der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung gemäß § 826 BGB nicht gerechtfertigt ist, soweit es um den Erwerb von Fahrzeugen mit dem Motor EA 189 nach der Veröffentlichung der Mitteilungen der Beklagten vom 22. September 2015 geht (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 Rn. 27 ff., NJW 2020, 2798; Urteil vom 8. Dezember 2020 – VI ZR 244/20 Rn. 17 f., VersR 2021, 263; Beschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20 Rn. 17 ff., NJW 2021, 1814; Urteil vom 23. September 2021 – III ZR 200/20 Rn. 17 ff., NJW 2021, 3725). Das Berufungsgericht hat in seinem gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO erteilten Hinweis ausgeführt, dass dies 33 Fahrzeuge betreffe, die die Klägerin nach dem 22. September 2015 erworben habe. In der Stellungnahme zu dem Hinweis hat die Klägerin vorgetragen, dass in 30 der 33 Fahrzeuge keine Motoren des Typs EA 189 verbaut seien, sondern Motoren der Typen EA 188 und EA 288, die ebenfalls vom „Dieselskandal“ betroffen seien. Mit diesem Vorbringen, das den Kern des hier fraglichen rechtlichen Ansatzes betraf, hat sich das Berufungsgericht nicht befasst und damit, wie die Revision zutreffend rügt, den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2020 – 1 BvR 596/17, juris Rn. 10; BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2015 – V ZR 146/14 Rn. 4, NJW-RR 2016, 210; jeweils m.w.N.).

19

Soweit die Klägerin nach eigenem Bekunden drei Fahrzeuge mit dem Motor EA 189 nach dem 22. September 2015 erworben hat, sind ihre Ansprüche (Klageunteranträge 333 bis 335) nicht mehr streitgegenständlich. Hinsichtlich des Klageunterantrags 3276 ist das Berufungsurteil nicht angegriffen worden.

III.

20

Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO).

21

Soweit die Klägerin Ansprüche aus dem Erwerb von Fahrzeugen mit dem Motor EA 189 vor der Veröffentlichung der Mitteilungen der Beklagten vom 22. September 2015 herleitet, kommt eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 826, 31 BGB dem Grunde nach in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 Rn. 12 ff., BGHZ 225, 316). Hinsichtlich des Erwerbs von Fahrzeugen mit anderen Motoren (EA 188, EA 288, V6 3.0 TDI) behauptet die Klägerin, dass auch diese mit unzulässigen, prüfstandsbezogenen Abschalteinrichtungen ausgerüstet seien. Der Senat kann eine Haftung der Beklagten insoweit nicht abschließend verneinen.

IV.

22

Das Berufungsurteil ist im Umfang seiner Anfechtung aufzuheben und die Sache insoweit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit dieses die notwendigen Feststellungen zur Haftung der Beklagten dem Grunde nach und gegebenenfalls zur Anspruchshöhe treffen kann (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

23

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

24

1. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht ohne Weiteres objektiv sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die verantwortlich handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der emissionsbeeinflussenden Einrichtung in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20 Rn. 13, VersR 2021, 1252; Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20 Rn. 16, NJW 2021, 3721; jeweils m.w.N.). Ein derartiges Vorstellungsbild hat der Tatrichter insbesondere im Hinblick auf solche Abschalteinrichtungen gesondert zu prüfen, deren Unzulässigkeit – anders als im Fall der „Umschaltlogik“ im Motor EA 189 (BGH, Urteil vom 25. November 2021 – VII ZR 257/20 Rn. 30 m.w.N., WM 2022, 87) – nicht evident ist.

25

2. Hinsichtlich der Höhe des etwaig geschuldeten kleinen Schadensersatzes wird das Berufungsgericht gegebenenfalls die auch insoweit geltenden Grundsätze der Vorteilsausgleichung zu beachten haben (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2021 – VI ZR 40/20 Rn. 23 f., BGHZ 230, 224; Urteil vom 24. Januar 2022 – VIa ZR 100/21 Rn. 16 ff., WM 2022, 543).

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