Beschluss des BGH 7. Zivilsenat vom 21.09.2022, AZ VII ZR 767/21

BGH 7. Zivilsenat, Beschluss vom 21.09.2022, AZ VII ZR 767/21, ECLI:DE:BGH:2022:210922BVIIZR767.21.0

Verfahrensgang

vorgehend OLG Köln, 15. Juni 2021, Az: 25 U 60/20
vorgehend LG Bonn, 19. August 2020, Az: 1 O 352/19

Tenor

Der Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision wird stattgegeben.

Das Urteil des 25. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 15. Juni 2021 wird gemäß § 544 Abs. 9 ZPO aufgehoben, soweit die Berufung der Klägerin betreffend die Anträge zu 2 bis 6 zurückgewiesen worden ist. Der Rechtsstreit wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gegenstandswert: bis 50.000 €

Gründe

I.

1

Die Klägerin nimmt die beklagte Kraftfahrzeugherstellerin aus abgetretenem Recht wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Der Ehemann der Klägerin erwarb mit Bestellung vom Januar 2016 ein von der Beklagten hergestelltes Fahrzeug Mercedes Benz V 220 d BlueEfficiency als Neuwagen zum Kaufpreis von 54.700 €. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs OM 651 ausgestattet. Für den Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mit der Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Das Fahrzeug ist von einem verpflichtenden Rückruf wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) betroffen.

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Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte habe sie im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als sei der Kaufvertrag für das Fahrzeug nicht geschlossen worden.

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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde verfolgt die Klägerin ihre zuletzt gestellten Anträge mit Ausnahme des Antrags zu 1, der auf Lieferung eines mangelfreien, fabrikneuen und typgleichen Ersatzfahrzeugs gerichtet war, weiter. Sie rügt unter anderem eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör.

II.

5

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO im Umfang der Anfechtung zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Der angefochtene Beschluss beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

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1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit hier von Interesse, im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

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Der Klägerin stehe gegen die Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Schadensersatzanspruch wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu. Ein Anspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung scheide aus. Das Vorbringen der Klägerin, in dem Motor sei eine Software eingebaut, die bewirke, dass vor allem die Stickoxidwerte auf dem Prüfstand durch eine Manipulation besser ausfielen als im Normalbetrieb, sei einer Beweisaufnahme nicht zugänglich. Im Unterschied zum Vortrag, der der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 28. Januar 2020 (VIII ZR 57/19) zugrunde gelegen habe, mangele es bereits an Anhaltspunkten für eine unzulässige Abschalteinrichtung, auch wenn berücksichtigt werde, dass es sich um denselben Motortyp OM 651 handele und das Fahrzeug ebenfalls einem verpflichtenden Rückruf unterliege. Entgegen der Auffassung der Klägerin belege ein erhöhter Schadstoffausstoß im Realbetrieb eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht, da die Messungen im Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) nach dem Willen des Gesetzgebers im Zeitpunkt der Erteilung der Typgenehmigung auf dem Rollenprüfstand und nicht im Normalbetrieb erfolgt seien. Eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung des Käufers könne weder mit Blick auf ein Thermofenster noch auf eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) angenommen werden. Das Thermofenster sei ungeeignet, eine Haftung nach § 826 BGB zu begründen. Es arbeite vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise wie auf dem Prüfstand, so dass es weiterer Anhaltspunkte für ein Bewusstsein der Rechtswidrigkeit und eine billigende Inkaufnahme des Gesetzesverstoßes seitens der Beklagten bedürfe, die weder vorgetragen noch ersichtlich seien. Es müsse eine möglicherweise falsche, aber vertretbare Gesetzesauslegung seitens der Beklagten in Betracht gezogen werden. Entsprechendes gelte für die KSR. Die Annahme der Beklagten, die KSR sei nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zulässig gewesen, sei keinesfalls unvertretbar gewesen. Konkrete Anhaltspunkte für ein Vorstellungsbild bei der Beklagten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, habe die Klägerin nicht substantiiert vorgetragen. Daneben fehle es auch an den subjektiven Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 826 BGB, die die Klägerin nicht dargetan habe.

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2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht die Substantiierungsanforderungen im Hinblick auf die neben dem Thermofenster behauptete KSR, bei der nur im Prüfstand der Stickoxidausstoß optimiert werde, in gehörsverletzender Weise gehandhabt hat.

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a) Das Fahrzeug ist unstreitig von einem verpflichtenden Rückruf des KBA wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen.

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b) In insoweit revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise stellt das Berufungsgericht unter anderem darauf ab, ob die unzulässige Abschalteinrichtung prüfstandsbezogen ist. Das Kriterium der Prüfstandsbezogenheit ist grundsätzlich geeignet, um zwischen nur unzulässigen Abschalteinrichtungen und solchen, deren Implementierung die Kriterien einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung erfüllen können, zu unterscheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 16. September 2021 – VII ZR 126/21 Rn. 18, BeckRS 2021, 33038; Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20 Rn. 19, WM 2021, 2108; Beschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20Rn. 27, VersR 2021, 661; Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19 Rn. 18, ZIP 2021, 297). Das Berufungsgericht benennt damit eines der wesentlichen Merkmale, nach denen die den sogenannten Abgasskandal auslösende, von der Volkswagen AG im Motortyp EA 189 verwendete Manipulationssoftware nicht nur eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt, sondern die deutlich höheren Anforderungen an eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung im Sinne des § 826 BGB erfüllen kann. Die Tatsache, dass eine Manipulationssoftware ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktiviert, indiziert eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörden.

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c) Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet aber zu Recht, dass das Berufungsgericht dem beweisbewehrten Sachvortrag der Klägerin nicht nachgegangen ist, das Fahrzeug verfüge über eine unzulässige Abschalteinrichtung – indiziert durch den unstreitigen Rückruf -, und zwar unter anderem in Form einer KSR, die anhand einer Vorkonditionierung den Prüfstand erkenne und den Stickoxidausstoß nur im NEFZ optimiere. Die Verwendung einer derartigen Prüfstandserkennungssoftware käme als Anknüpfungspunkt für die Annahme eines sittenwidrigen Verhaltens der für die Beklagte handelnden Personen grundsätzlich in Betracht. Damit hat das Berufungsgericht die Anforderungen an ein substantiiertes Vorbringen offenkundig überspannt.

12

aa) Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 2012 – 1 BvR 1819/10, WM 2012, 492, jurisRn. 16; BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20 Rn. 20, WM 2021, 1609; Urteil vom 18. Mai 2021 – VI ZR 401/19 Rn. 19, MDR 2021, 871; Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19Rn. 7, ZIP 2020, 486; Beschluss vom 26. März 2019 – VI ZR 163/17Rn. 11, VersR 2019, 835; jeweils m.w.N.).

13

Diese Grundsätze gelten insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den ihrer Behauptung zugrunde liegenden Vorgängen hat. Eine Partei darf auch von ihr nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen hat. Unbeachtlich ist der auf Vermutungen gestützte Sachvortrag einer Partei erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen (BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20 Rn. 21 f. m.w.N., WM 2021, 1609).

14

bb) Nach diesen Grundsätzen liegt eine Gehörsverletzung vor. Die vom Berufungsgericht getroffene Feststellung, die KSR unterscheide anders als die den sogenannten Dieselskandal auslösende im Motortyp EA 189 verbaute Manipulationssoftware nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befinde, sondern arbeite in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise, ist verfahrensfehlerhaft. Sie übergeht den von der Nichtzulassungsbeschwerde aufgezeigten Vortrag der Klägerin zu einer Prüfstandsbezogenheit der von ihr behaupteten Abschalteinrichtung und verletzt die Klägerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG.

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Die Klägerin hat vorgetragen, bereits aus dem verpflichtenden Rückruf des KBA ergebe sich ein gewichtiges Indiz dafür, dass in dem betroffenen Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut sei. Sie hat unter Beweis gestellt, dass in dem Fahrzeug eine Software verbaut sei, die den Kühlmittelkreislauf künstlich kalt halte und so die Aufwärmung des Motoröls verzögere, was dafür sorge, dass auf dem Prüfstand die Grenzwerte für Stickoxide eingehalten würden, während im Straßenbetrieb diese Funktion deaktiviert sei. Hierzu habe die Beklagte eine Steuerung in das Fahrzeug verbaut, die die Bedingungen des NEFZ anhand der Konditionierung des Fahrzeugs, die vor dem Durchlaufen des NEFZ durchgeführt werde, erkenne. Dabei werde das Fahrzeug in einem Zeitraum von 6 bis 36 Stunden vor der Prüfung bei konstanter Umgebungstemperatur von – 7˚C (+- 3˚C) abgestellt.

16

cc) Weitergehender Vortrag war von der Klägerin nicht zu verlangen. Zwar hat die Beklagte bestritten, dass der Rückruf durch das KBA wegen der – unstreitig im Fahrzeug verwendeten – KSR erfolgt sei und dass es sich dabei um eine unzulässige und noch dazu prüfstandsbezogene Abschalteinrichtung handele. Der Beachtlichkeit des Sachvortrags der Klägerin auf der Darlegungsebene steht dies aber nicht entgegen. Die Klägerin, deren Ehemann nicht Adressat des Rückrufbescheids ist, darf sich darauf beschränken zu behaupten, das KBA habe den Rückruf wegen einer prüfstandsbezogenen KSR angeordnet. Sodann ist es an der Beklagten als Empfängerin des Rückrufbescheids, im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast ihrerseits dazu vorzutragen, was der Grund des Rückrufs ist, wenn auch die sekundäre Darlegungslast keine prozessuale Verpflichtung der Beklagten zur Vorlage von Urkunden begründet (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2022 – VII ZR 252/20 Rn. 13, DAR 2022, 336).

17

dd) Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre.

18

d) Von der aufgezeigten Gehörsverletzung beeinflusst ist zugleich die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin habe zu den subjektiven Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 826 BGB nicht hinreichend vorgetragen. Sollte die KSR ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktivieren, wäre dieser Umstand – wie bereits dargelegt – grundsätzlich geeignet, auf eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörden und ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein der Handelnden zu schließen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2022 – VII ZR 602/21 Rn. 25 m.w.N., juris).

III.

19

Der Beschluss ist danach aufzuheben und die Sache im Umfang der Anfechtung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO).

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