BVerwG 8. Senat, Beschluss vom 27.06.2022, AZ 8 B 40/21, ECLI:DE:BVerwG:2022:270622B8B40.21.0
Verfahrensgang
vorgehend Sächsisches Oberverwaltungsgericht, 31. März 2021, Az: 6 A 573/18, Urteil
vorgehend VG Dresden, 17. Januar 2018, Az: 4 K 397/11
Tenor
Das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 31. März 2021 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.
Gründe
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1. Der Kläger begehrt seine Bestellung zum Öffentlich bestellten Vermessungsingenieur. Seinen darauf gerichteten Antrag lehnte der Beklagte ab. Den Widerspruch des Klägers wies er zurück. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, den Kläger entsprechend dem Bedarf zum Öffentlich bestellten Vermessungsingenieur zu bestellen. Das Oberverwaltungsgericht hat dieses Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Der Kläger habe für die angestrebte Bestellung nicht die von § 21 Abs. 1 Nr. 1 des Sächsischen Vermessungs- und Katastergesetzes (SächsVermKatG) vorausgesetzte Berufserfahrung nachgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
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2. Die allein auf die Verfahrensrüge gestützte Beschwerde ist begründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO). Auf diesem Verfahrensmangel kann das angegriffene Urteil beruhen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
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a) Im gerichtlichen Verfahren gewährleisten Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO den Beteiligten das Recht, sich vor einer Entscheidung zu allen erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen zu äußern. Dies setzt voraus, dass die Beteiligten bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt erkennen können, auf welchen Vortrag es für die Entscheidung ankommt. Daher darf das Gericht seine Entscheidung nicht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt stützen, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Art. 103 Abs. 1 GG kann deshalb auch dann verletzt sein, wenn das Gericht durch eindeutig formulierte Hinweise seine Rechtsauffassung zu erkennen gibt und dann – ohne vorherigen Hinweis – von dieser abrückt, sodass den Prozessbeteiligten kein Vortrag zur gewandelten Rechtsauffassung mehr möglich ist (stRspr, vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 15. August 1996 – 2 BvR 2600/95 – NJW 1996, 3202; Beschluss vom 7. Oktober 2003 – 1 BvR 10/99 – BVerfGE 108, 341 <345 f.>; Kammerbeschlüsse vom 29. September 2006 – 1 BvR 247/05 – BVerfGK 9, 295 <302 f.> und vom 25. Mai 2021 – 2 BvR 1719/16 – NJW 2021, 2581 Rn. 13). Zwar muss das Gericht die Beteiligten grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinweisen. Falls es jedoch eine vorläufige Einschätzung der Rechtslage zu erkennen gegeben hat, muss es deutlich machen, wenn es hiervon wieder abweichen will (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2011 – 7 C 3.10 – NVwZ 2011, 696 Rn. 11).
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b) Hiernach durfte das Oberverwaltungsgericht nicht ohne erneuten Hinweis von seiner in der mündlichen Verhandlung vom 24. März 2021 mitgeteilten und in der Sitzungsniederschrift festgehaltenen Rechtsauffassung abrücken und sein ohne weitere mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) erlassenes Urteil vom 31. März 2021 auf eine hiervon abweichende Rechtsauffassung stützen.
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Das Oberverwaltungsgericht hat in der mündlichen Verhandlung den Beteiligten den rechtlichen Hinweis erteilt, § 21 Abs. 1 Nr. 1 Sächsisches Vermessungs- und Katastergesetz, wonach der Bewerber mindestens ein Jahr überwiegend mit Katastervermessungen im Freistaat Sachsen beschäftigt gewesen sein muss und diese Beschäftigung zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht länger als sechs Jahre zurückliegen soll, sei nicht im Sinne einer materiellen Ausschlussfrist zu verstehen. Deshalb könnten auch nach der Antragstellung ausgeübte Tätigkeiten zumindest dann berücksichtigt werden, wenn diese bis zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung oder der Entscheidung der Widerspruchsbehörde vorlägen. Das angegriffene Urteil ist hingegen tragend auf die Erwägung gestützt, Beschäftigungszeiten zwischen Antragstellung und Bestellung könnten nur in atypischen Fallgestaltungen Berücksichtigung finden, und zwar nur, wenn gerade dadurch gewährleistet werden könne, dass die Berufserfahrung aktuell sei. In der Person des Klägers seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Seine über den Zeitpunkt der Antragstellung hinaus ausgeübte Tätigkeit als Fachkraft bei einem Öffentlich bestellten Vermessungsingenieur könne nicht ausnahmsweise als Befähigungsnachweis berücksichtigt werden. Zwar wäre die Mindestbeschäftigungszeit von einem Jahr damit erreicht. Es liege jedoch keine atypische Fallgestaltung vor, da die Berufserfahrung des Klägers – wegen der Verfahrenslaufzeit – im Zeitpunkt der (erstrebten) Bestellung – hier: der Entscheidung des Senats – länger als sechs Jahre zurückliege und deshalb nicht mehr aktuell sei.
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Damit hat das Oberverwaltungsgericht tragend auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abgestellt, mit dem der Kläger nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. Angesichts des in der mündlichen Verhandlung erteilten gerichtlichen Hinweises durfte er darauf vertrauen, dass seine nach Antragstellung zumindest bis zum Erlass des Ablehnungsbescheids des Beklagten ausgeübte Tätigkeit als Fachkraft bei einem Öffentlich bestellten Vermessungsingenieur berücksichtigt würde, ohne dass es auf das Vorliegen einer erstmals im angegriffenen Urteil geforderten atypischen Fallkonstellation ankäme. Daher bestand aus der Sicht eines gewissenhaften und kundigen Prozessbeteiligten auch kein Anlass, Einwände gegen dieses Erfordernis und dessen Herleitung aus dem Regelungszweck der Norm zu erheben oder Umstände darzulegen, die es erfüllen könnten. Indem das Oberverwaltungsgericht entgegen seiner zuvor geäußerten Rechtsauffassung und ohne vorherigen Hinweis auf das Kriterium einer atypischen Fallkonstellation abgestellt hat, hat es dem Kläger die Möglichkeit genommen, zu diesem aus der Sicht des Gerichts für die Entscheidung zentralen Gesichtspunkt vorzutragen.
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Das angegriffene Urteil beruht auf dem dargestellten Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), weil es nicht durch eine andere, revisionsrechtlich fehlerfreie Erwägung getragen wird. Eine entsprechende Anwendung von § 144 Abs. 4 VwGO kommt nicht in Betracht. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Berücksichtigung weiteren Vorbringens des Klägers, etwa zur Begründbarkeit des neuen Erfordernisses oder zu dessen Vorliegen, zu einer für ihn günstigeren Entscheidung führen könnte.
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Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das angegriffene Urteil durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).
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Die Kostenentscheidung muss der Schlussentscheidung vorbehalten bleiben. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.