BGH 12. Zivilsenat, Beschluss vom 15.06.2022, AZ XII ZB 13/22, ECLI:DE:BGH:2022:150622BXIIZB13.22.0
§ 68 Abs 1 S 1 FamFG, § 68 Abs 3 FamFG, § 278 Abs 1 FamFG
Leitsatz
Wird in einem Betreuungsverfahren die erforderliche persönliche Anhörung des Betroffenen vom Amtsgericht erst im Abhilfeverfahren nachgeholt, kann das Beschwerdegericht nicht von der auch im zweitinstanzlichen Verfahren grundsätzlich gebotenen persönlichen Anhörung des Betroffenen absehen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 6. April 2022 – XII ZB 371/21, juris).
Verfahrensgang
vorgehend LG Darmstadt, 20. Dezember 2021, Az: 5 T 238/21
vorgehend AG Offenbach, 15. März 2021, Az: 14 XVII 187/20
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerden der Betroffenen und der weiteren Beteiligten zu 1 wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 20. Dezember 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Eine Festsetzung des Beschwerdewerts (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.
Gründe
I.
1
Die 54-jährige Betroffene leidet nach den getroffenen Feststellungen an einem schizophrenen Residuum und einer durch besondere Lebensumstände entstandenen abhängigen Persönlichkeitsstörung, wegen derer sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst besorgen kann. Nach eigenen Angaben hatte sie ihr Elternhaus seit 30 Jahren nicht mehr verlassen, bevor sie im Februar 2020 in stark verwahrlostem und unterernährt wirkendem Zustand in polizeilichen Gewahrsam genommen und einer Klinik zugeführt wurde.
2
Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 16. Juni 2020 eine Betreuung für den Aufgabenkreis der Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die geschlossene Unterbringung, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Geltendmachung von Ansprüchen auf Unterhalt, Altersversorgung und soziale Sicherung, Organisation ambulanter Hilfen, Vertretung gegenüber Heim- bzw. Klinikleitung, Behörden, Versicherern und sonstigen Institutionen sowie die Entscheidung über die Entgegennahme und das Öffnen der Post der Betroffenen eingerichtet und eine Berufsbetreuerin bestellt. Die Überprüfungsfrist wurde auf den 15. Juni 2024 bestimmt.
3
Auf die Beschwerden der Betroffenen und ihrer Mutter (Beteiligte zu 1) hat das Landgericht den Nichtabhilfebeschluss aufgehoben und die Sache zur erneuten Abhilfeprüfung an das Amtsgericht zurückverwiesen, weil dieses das von ihm eingeholte Gutachten der Betroffenen nicht bekanntgegeben und sie dazu nicht angehört hatte. Im Anschluss an die vom Amtsgericht dementsprechend nachgeholte Anhörung erklärten die Beschwerdeführerinnen, dass unter der Bedingung eines Betreuerwechsels und einer Verkürzung der Überprüfungsfrist die Beschwerde zurückgenommen werde. Mit Beschluss vom 15. März 2021 bestellte das Amtsgericht eine andere Berufsbetreuerin (Beteiligte zu 2) und verkürzte die Überprüfungsfrist auf den 17. Februar 2023. Die hiergegen erneut eingelegten Beschwerden der Betroffenen und der Beteiligten zu 1 hat das Landgericht zurückgewiesen; hiergegen richten sich deren Rechtsbeschwerden.
II.
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Die zulässigen Rechtsbeschwerden sind begründet.
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1. Die Rechtsbeschwerden sind zulassungsfrei statthaft, da sie sich gegen die Erstanordnung der Betreuung als solche und nicht nur gegen einen Betreuerwechsel im Rahmen einer bereits bestehenden Betreuung richten.
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Der Beschluss des Amtsgerichts vom 16. Juni 2020 ist im Hinblick auf die Betreuungsanordnung nicht durch die im Abhilfeverfahren erklärte „Rücknahme“ des Rechtsmittels in (Teil-)Rechtskraft erwachsen, da die sowohl im Anhörungstermin mündlich erklärte als auch anschließend schriftlich wiederholte Rechtsmittelrücknahme nicht frei von Bedingungen und damit nicht wirksam erklärt worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 26. September 2007 – XII ZB 80/07 – FamRZ 2008, 43 Rn. 15).
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2. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Aufgrund ihrer Erkrankung sei die Betroffene nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten im angeordneten Aufgabenkreis selbst zu erledigen. Zur freien Willensbildung sei sie nicht in der Lage, da es ihr bereits an der Einsichtsfähigkeit hinsichtlich ihrer Erkrankung fehle. Die nahezu umfassende Betreuung in allen wesentlichen Aufgabenbereichen sei erforderlich und verhältnismäßig. Auch sei die Betreuerauswahl des Amtsgerichts nicht zu beanstanden. Die von der Betroffenen als Betreuerin gewünschte Beteiligte zu 1 sei zur Übernahme der Betreuung nicht geeignet, was sich daraus ergebe, dass sie auch in der Vergangenheit nicht in der Lage gewesen sei, den Zustand ihrer Tochter zu verbessern und Hilfe zu organisieren. Zudem habe die Sachverständige auf eine pathologische Abhängigkeit der Betroffenen von ihrer Mutter hingewiesen und deshalb von deren Bestellung ausdrücklich abgeraten. In diesem Kontext müsse auch der hilfsweise Vorschlag der Übernahme der Betreuung durch einen Bruder der Beteiligten zu 1 als Versuch verstanden werden, Externe aus den Angelegenheiten der Familie herauszuhalten. Hieraus ergebe sich die Ungeeignetheit auch dieses Vorschlags. Eine Veränderung der Situation der Betroffenen erscheine ausschließlich durch die Inanspruchnahme qualifizierter externer Hilfe möglich.
8
3. Die Rechtsbeschwerden haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Die Rechtsbeschwerden rügen zu Recht, dass das Landgericht unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung der Betroffenen entschieden hat.
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a) Gemäß § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung durch das Beschwerdegericht keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (Senatsbeschluss vom 22. September 2021 – XII ZB 93/21 – FamRZ 2022, 135 Rn. 8 mwN).
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b) Danach durfte das Beschwerdegericht nicht ohne persönliche Anhörung des Betroffenen über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 16. Juni 2020 entscheiden. Denn das vom Amtsgericht durchgeführte Verfahren war fehlerhaft, weil es die Betroffene nicht nach der Bekanntgabe des Gutachtens an sie angehört hat (vgl. Senatsbeschluss vom 22. September 2021 – XII ZB 93/21 – FamRZ 2022, 135 Rn. 9 ff.).
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Die verfahrensfehlerhafte Anhörung der Betroffenen wurde auch nicht dadurch geheilt, dass das Amtsgericht die Betroffene im Abhilfeverfahren erneut angehört hat. Eine fehlerhafte oder unterbliebene erstinstanzliche Anhörung eines Betroffenen in einem Betreuungsverfahren kann im Abhilfeverfahren regelmäßig weder geheilt noch nachgeholt werden (Senatsbeschluss vom 6. April 2022 – XII ZB 371/21 – juris Rn. 12 mwN).
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Daran ändert auch nichts, dass das Beschwerdegericht den ersten Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts im Hinblick auf die unterbliebene persönliche Anhörung der Betroffenen zu dem eingeholten psychiatrischen Gutachten aufgehoben und das Verfahren an das Amtsgericht zur Nachholung dieser Verfahrenshandlung zurückgegeben hat. Das Beschwerdegericht hätte den erstinstanzlichen Verfahrensfehler vielmehr dadurch beheben müssen, dass es im Beschwerdeverfahren die Betroffene selbst persönlich anhört (vgl. Senatsbeschluss vom 6. April 2022 – XII ZB 371/21 – juris Rn. 13).
13
Erst recht hätte das Landgericht die Betroffene zu dem von ihm zur Frage der freien Willensbildung eingeholten Ergänzungsgutachten selbst anhören müssen (vgl. Senatsbeschluss vom 6. April 2022 – XII ZB 451/21 – juris Rn. 16 f.).
14
4. Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.
15
Die Zurückverweisung gibt dem Landgericht auch Gelegenheit, die Beurteilung der von der Betroffenen als Betreuer Vorgeschlagenen als vollständig ungeeignet im Hinblick auf die von den Rechtsbeschwerden vorgebrachten Einwendungen erneut zu überprüfen.
16
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
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