BVerfG 1. Senat 3. Kammer, Nichtannahmebeschluss vom 01.06.2022, AZ 1 BvR 75/20, ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220601.1bvr007520
Art 3 Abs 2 GG, Art 3 Abs 3 S 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 10 EntgTranspG
Verfahrensgang
vorgehend BAG, 31. Juli 2019, Az: 9 AZN 504/19, Beschluss
vorgehend LArbG Berlin-Brandenburg, 5. Februar 2019, Az: 16 Sa 983/18, Urteil
vorgehend ArbG Berlin, 1. Februar 2017, Az: 56 Ca 5356/15, Urteil
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird, ohne dass über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entschieden zu werden braucht, nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
1
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen, die unter anderem im Wege einer Stufenklage geltend gemachte Auskunfts- und Zahlungsansprüche wegen Entgeltdiskriminierung betrafen. Sie rügt eine Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters und des unionsgrundrechtlichen sowie des grundgesetzlichen Gleichbehandlungsgrundrechts.
I.
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1. Die Beschwerdeführerin war als Reporterin bei einem investigativen Politmagazin des Zweiten Deutschen Fernsehens (im Folgenden: ZDF) tätig. Sie führte vor den Gerichten für Arbeitssachen einen Rechtsstreit unter anderem mit dem Ziel, so vergütet zu werden, wie ihre männlichen Kollegen mit gleicher oder gleichwertiger Tätigkeit. Mit einer Stufenklage begehrte sie auf der ersten Stufe Auskunft über den Verdienst männlicher Kollegen mit vergleichbarer Tätigkeit und auf der zweiten Stufe die gleiche Vergütung.
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2. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Danach trat das Gesetz zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern (Entgelttransparenzgesetz – EntgTranspG) in Kraft. Daher erweiterte die Beschwerdeführerin vor dem Landesarbeitsgericht ihren Auskunftsanspruch und stützte ihn hilfsweise auch auf dieses Gesetz. Die Berufung der Beschwerdeführerin blieb erfolglos. Ihr stehe bereits ein dem Auskunftsanspruch zu Grunde liegender Leistungsanspruch aus Art. 157 AEUV nicht zu, so dass die Stufenklage insgesamt abgewiesen werden könne. Die Beschwerdeführerin habe keinen ersten Anschein für eine Benachteiligung dargelegt. Es genüge dabei nicht, darzulegen und zu beweisen, dass ihr Arbeitgeber ihr ein niedrigeres Gehalt zahle als einem männlichen Kollegen und dass sie die gleiche oder eine gleichwertige Arbeit verrichte. Vielmehr bedürfe es des Vortrags zu einem Kausalzusammenhang zwischen niedrigerer Vergütung und dem Geschlecht. Insoweit habe die Beschwerdeführerin keine ausreichenden Tatsachen vorgetragen. Ein Auskunftsanspruch folge auch nicht aus § 10 EntgTranspG, denn die Beschwerdeführerin falle als arbeitnehmerähnliche Person nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes. Das Landesarbeitsgericht ließ nur zu dieser Rechtsfrage die Revision zu.
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Auf die Revision verurteilte das Bundesarbeitsgericht das ZDF teilweise zur Auskunftserteilung. Im Übrigen verwies es den Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurück mit dem Hinweis, dass das Entgelttransparenzgesetz auf die Beschwerdeführerin anwendbar sei (BAG, Urteil vom 25. Juni 2020 – 8 AZR 145/19 -, BAGE 171, 195-230).
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Im Hinblick auf die Stufenklage erhob die Beschwerdeführerin Nichtzulassungsbeschwerde, die das Bundesarbeitsgericht als unzulässig verwarf. Die dagegen gerichtete Anhörungsrüge wies es als unbegründet zurück.
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3. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Nichtzulassungsentscheidung des Bundesarbeitsgerichts, weil dieses die Sache nicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt habe. Nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs komme es zu einer Beweislastumkehr, wenn die Beschäftigte darlegt und beweist, dass sie geringer als männliche Kollegen vergütet wird und diese Kollegen gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten. Hiervon sei das Landesarbeitsgericht abgewichen. Das Bundesarbeitsgericht hätte daher selbst europarechtskonform entscheiden oder die Sache dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen müssen.
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Nach den im November 2019 veröffentlichten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf Vergessen (BVerfGE 152, 152 – 1 BvR 16/13 – und BVerfGE 152, 216 – 1 BvR 276/17-) erweiterte die Beschwerdeführerin ihre Rüge auf die Verletzung von Art. 23 GRCh und beantragte für die Begründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Unionsgrundrechte seien im teilharmonisierten Regelungsbereich der Entgeltgleichheit zu prüfen. Der europäische Grundrechtsschutz sei hier im Vergleich zum nationalen Schutzniveau deutlich stärker ausgeformt und schutzintensiver. Insbesondere sei die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Gebot der Entgeltgleichheit in Art. 157 Abs. 1 AEUV auf das Grundrecht der Gleichheit von Frauen und Männern in Art. 23 Abs. 1 GRCh zu übertragen. Danach seien die angegriffenen Entscheidungen der Gerichte für Arbeitssachen nicht mit Art. 23 Abs. 1 GRCh zu vereinbaren.
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Darüber hinaus wurde vorgetragen, die Beschwerdeführerin sei in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 2 und 3 Satz 1 GG verletzt. Die Auslegung der Beweislastregelungen durch die Gerichte für Arbeitssachen biete nicht den grundrechtlich geforderten wirksamen Schutz vor einer Diskriminierung wegen des Geschlechts.
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4. Dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dem Bundesarbeitsgericht und dem ZDF wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Das ZDF hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig und auch für in der Sache erfolglos. Sie sei allein zur Rüge einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fristgerecht begründet, genüge aber nicht dem Grundsatz der Subsidiarität aus § 90 Abs. 2 BVerfGG. Das Landesarbeitsgericht sei nicht von unionsrechtlichen Vorgaben abgewichen. Die Voraussetzungen für eine Prüfung von Unionsgrundrechten durch das Bundesverfassungsgericht lägen nicht vor, denn die Gewährleistungsgehalte der Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 GG blieben nicht hinter den Anforderungen zurück, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt worden seien.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Ihr kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Auch ist ihre Annahme nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, da sie unzulässig ist.
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1. Die Verfassungsbeschwerde genügt im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; dazu BVerfGE 68, 384 <388 f.>; 112, 50 <60>) nicht den Darlegungsanforderungen der §§ 92, 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVerfGG. Auf Grundlage des Beschwerdevorbringens lässt sich nicht zuverlässig überprüfen, ob die Beschwerdeführerin alle im Rahmen des fachgerichtlichen Verfahrens eröffneten Möglichkeiten genutzt hat, um der Rechtsverletzung abzuhelfen (vgl. BVerfGE 73, 322 <325>; 81, 22 <27>; 95, 163 <171>; 107, 395 <414>). Eine Abhilfemöglichkeit im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes besteht bereits dann, wenn es möglich erscheint, dass die Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. April 2017 – 1 BvR 1994/13 -, Rn. 11; stRspr).
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Hier könnte die Beschwerdeführerin aufgrund des Erfolgs ihrer Revision zu § 10 EntgTranspG nach erteilter Auskunft über das Vergleichs-Entgelt einen Zahlungsanspruch geltend machen, der jedenfalls nicht von vornherein offensichtlich aussichtslos wäre. Das Bundesarbeitsgericht hat mittlerweile – wie die Beschwerdeführerin zutreffend anmerkt – klargestellt, dass ein die eigene Vergütung übersteigendes mitgeteiltes Vergleichs-Entgelt (Median-Entgelt) die Vermutung im Sinne des § 22 AGG begründe, dass die Entgeltbenachteiligung wegen des Geschlechts erfolgt sei (vgl. BAG, Urteil vom 21. Januar 2021 – 8 AZR 488/19 -, juris, Rn. 16, 33, 50 ff.). Damit lägen die Voraussetzungen einer Beweislastumkehr vor, deren fehlende Annahme durch das Landesarbeitsgericht die Beschwerdeführerin rügt. Die Zahlungsklage könnte daher Erfolg haben. Dass dem andere Gründe entgegenstünden, ist jedenfalls aus den Darlegungen nicht erkennbar. Desgleichen ist nicht ersichtlich, ob der Median nach den Vorstellungen der Beschwerdeführerin vom durchschnittlichen Gehalt der Vergleichspersonen abweicht (zur Kritik Göpfert/Giese, NZA 2018, 207 <208>; Bauer/Romero, NZA 2017, 409 <411>; Thüsing, BB 2017, 565 <567>; Markard, JZ 2019, 534 <541>).
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2. Die Rügen einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 23 Abs. 1 GRCh sind nicht entsprechend den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG substantiiert und entsprechender Vortrag zu Art. 3 Abs. 2 und 3 GG erfolgte nicht innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG. Wegen des auch Art. 23 Abs. 1 GRCh betreffenden Begründungsmangels bedarf es keiner Entscheidung über den (allein) darauf bezogenen Wiedereinsetzungsantrag.
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a) Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die fehlende Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union lässt die Rüge nicht erkennen, denn das Bundesarbeitsgericht hat keine Sachentscheidung getroffen. Aus den Darlegungen erschließt sich nicht, inwieweit die Vorlagepflicht gerade durch die Verwerfung der Revision als unzulässig verletzt worden sein soll.
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b) Die Rügen einer Verletzung von Art. 3 Abs. 2 und 3 Satz 1 GG hat die Beschwerdeführerin nicht innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG hinreichend substantiiert. Dies geschah erstmals mit Schriftsatz vom 2. Februar 2021, der beim Bundesverfassungsgericht am 4. Februar 2021 einging. Da der Beschluss über die Anhörungsrüge am 23. Dezember 2019 zugestellt wurde, war die Monatsfrist zur Begründung der Verfassungsbeschwerde jedoch bereits am 23. Januar 2020 abgelaufen.
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c) Zur Rüge einer Verletzung von Art. 23 Abs. 1 GRCh wird nicht hinreichend substantiiert aufgezeigt, dass die Voraussetzungen für eine Überprüfung der angegriffenen Entscheidungen anhand der Unionsgrundrechte vorlagen.
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aa) Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich (BVerfGE 152, 216 <233 Rn. 42>). Die Anwendung innerstaatlichen Rechts, das unionsrechtlich nicht vollständig determiniert ist, prüft das Bundesverfassungsgericht dagegen primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient (vgl. BVerfGE 152, 152 <169 Rn. 42 f.>). Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes im Bereich der Durchführung des Unionsrechts (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh) stützt sich darauf, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes zielt (BVerfGE 152, 152 <171 Rn. 49>), sondern Grundrechtsvielfalt zulässt. Es greift dann die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist (vgl. BVerfGE 152, 152 <175 Rn. 55>).
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Eine Ausnahme von der Annahme grundrechtlicher Vielfalt im gestaltungsoffenen Fachrecht oder eine Widerlegung der Vermutung der Mitgewährleistung des Schutzniveaus der Charta sind nur in Betracht zu ziehen, wenn hierfür konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen (vgl. BVerfGE 152, 152 <181 Rn. 68 f.>). Die Darlegungsanforderungen nach § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG beziehen sich sowohl auf die fachrechtliche Offenheit oder aber die punktuelle unionsrechtliche Determination der Rechtsmaterie als auch auf die Mitgewährleistung des Schutzniveaus der Charta durch das Grundgesetz.
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bb) Diesen Anforderungen wird die Verfassungsbeschwerde nicht gerecht.
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Sie legt zunächst zwar nachvollziehbar dar, dass der Bereich der Entgeltdiskriminierung unionsrechtlich nicht vollständig vereinheitlicht sei. Auch zeigt die Verfassungsbeschwerde auf, dass jedenfalls die Möglichkeit besteht, dass unionsrechtlich engere grundrechtliche Maßgaben zur Anwendung kommen. Sie beruft sich insbesondere auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, nach der die klagende Partei in einem Verfahren zur Entgeltungleichheit Beweiserleichterungen in Anspruch nehmen können muss, die, wenn die Vermutung einer Benachteiligung wegen des Geschlechts etabliert wird, zu einer umfassenden Beweislastumkehr führen (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Oktober 1989, Danfoss, C-109/88, Rn. 16; Urteil vom 27. Oktober 1993, Enderby, C-127/92, Rn. 13 f.; Urteil vom 31. Mai 1995, Royal Copenhagen, C-400/93, Ls. 2). Eine Frau, die sich gegen geschlechtsbezogene Lohnungleichheit wendet, müsse dazu darlegen und beweisen, dass ein Mann, der gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichtet, ein höheres Arbeitsentgelt erhält; dann obliegt dem Arbeitgeber der Beweis, dass er nicht gegen den Grundsatz des gleichen Entgelts verstößt (vgl. EuGH, Urteil vom 28. Februar 2013, Kenny, C-427/11, Rn. 19 f.; Urteil vom 26. Juni 2001, Brunnhofer, C-381/99, Rn. 60).
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Doch zeigt die Verfassungsbeschwerde nicht auf, dass, wovon aufgrund der Vermutung der Mitgewährleistung regelmäßig auszugehen ist, eine Kontrolle allein am Maßstab der Grundrechte das europäische Grundrechtsschutzniveau hier ausnahmsweise nicht wahrte (vgl. BVerfGE 152, 152 <182 Rn. 70>). Insofern ist darzulegen, ob in der Auslegung der jeweiligen Grundrechte ein ungleiches Schutzniveau erreicht wird. Dabei wäre darauf einzugehen, inwieweit Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 GG, die einen wirksamen Schutz vor Benachteiligungen wegen des Geschlechts erforderlich machen (vgl. BVerfGE 89, 276 <290>), sich auch auf die Beweislast in Verfahren zur Lohngleichheit auswirken (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. September 2006 – 1 BvR 308/03 -, Rn. 14 ff.; grds. auch BVerfGE 52, 131 <144 f.>). Zu Art. 3 Abs. 2 und 3 GG wird mit Blick auf die Lohngleichheit aber substantiiert erst im Schriftsatz aus dem Februar 2021 vorgetragen, also über zwölf Monate nach Zustellung der Anhörungsrügeentscheidung.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.