BSG, Beschluss vom 18.05.2022, AZ B 7/14 AS 399/21 B, ECLI:DE:BSG:2022:180522BB714AS39921B0
Tenor
Auf die Beschwerde der Kläger wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. November 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
1
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache begründet
(§ 160a Abs 5 SGG).
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Das Urteil des LSG beruht auf dem von den Klägern noch hinreichend bezeichneten
(§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel
(§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) der unterlassenen unechten notwendigen Beiladung des SGB XII-Leistungsträgers
(§ 75 Abs 2 Alt 2 SGG).
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Nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG sind Dritte beizuladen, wenn sich in dem Verfahren ergibt, dass bei Ablehnung des Anspruchs ein anderer Versicherungsträger, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ein Träger der Sozialhilfe, ein Träger der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts ein Land als leistungspflichtig in Betracht kommt. Hierfür ist es nicht erforderlich, dass es für das LSG als erkennendes Gericht bereits feststeht, dass der Beklagte nicht leistungspflichtig ist. Voraussetzung einer unechten notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG ist nur, dass bei Ablehnung eines Anspruchs gegen den Beklagten ggf Ansprüche gegen den Beigeladenen bestehen, wofür die ernsthafte Möglichkeit einer Leistungsverpflichtung genügt
(vgl BSG vom 28.11.2018 – B 14 AS 48/17 R – BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 23 mwN).
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Dies ist bei den auf die laufende Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums gerichteten Leistungen nach §§ 7 ff, 19 ff SGB II und den Leistungen nach § 23 SGB XII der Fall, soweit sich die Leistungszeiträume decken. Nach ständiger Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG zu der bis einschließlich 28.12.2016 maßgeblichen Rechtslage, auf die es hier wegen der ab Februar 2013 begehrten Leistungen ankommt, können materiell nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger im Einzelfall Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Recht der Sozialhilfe als Ermessensleistung beanspruchen; das Ermessen des Sozialhilfeträgers ist im Regelfall bei einem verfestigten Aufenthalt nach mindestens sechs Monaten auf Null reduziert
(vgl BSG vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43; BSG vom 20.1.2016 – B 14 AS 35/15 R – SozR 4-4200 § 7 Nr 47; BSG vom 30.8.2017 – B 14 AS 31/16 R – BSGE 124, 81 = SozR 4-4200 § 7 Nr 53 mwN; zur Rechtslage ab dem 29.12.2016 auch unter Berücksichtigung von Überbrückungsleistungen vgl nur BSG vom 27.1.2021 – B 14 AS 25/20 R – SozR 4-4200 § 7 Nr 59 RdNr 36).
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Anstelle der ab Februar 2013 begehrten Leistungen nach dem SGB II kommen vorliegend Leistungen durch den beizuladenden Sozialhilfeträger entsprechend dem allgemeinen Begehren der Kläger auf Leistungen zur Existenzsicherung in Betracht
(vgl zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG zuletzt BVerfG vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 – BVerfGE 152, 68 ff; zum Verhältnis von SGB II und SGB XII vgl nur BSG vom 30.8.2017 – B 14 AS 31/16 R – BSGE 124, 81 = SozR 4-4200 § 7 Nr 53, RdNr 33 ff), wovon im Grundsatz auch das LSG ausgegangen ist.
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Der Umstand, dass ein Verfahren vor dem SG anhängig ist, in dem die Kläger einen Anspruch auf SGB XII-Leistungen verfolgen, lässt die Notwendigkeit der Beiladung des SGB XII-Leistungsträgers im vorliegenden Verfahren allerdings nicht entfallen. Ablehnende Bescheide des potentiell Beizuladenden stehen einer Verurteilung im Rahmen des § 75 Abs 5 SGG erst dann entgegen, wenn sie bereits bindend geworden sind
(BSG vom 13.8.1981 – 11 RA 56/80 – SozR 1500 § 75 Nr 38). Sind sie dies nicht, dürfen sie im Rahmen der Verurteilung des Beigeladenen nach § 75 Abs 5 SGG aufgehoben werden. Die Rechtshängigkeit einer Klage gegen diese Bescheide bildet insoweit kein Hindernis. Denn anders als das LSG meint, dient die Beiladung nicht nur dazu, weitere Rechtsstreite zu vermeiden, sondern auch der Vermeidung divergierender Entscheidungen. Deshalb kann eine schon anderweitige Rechtshängigkeit der Verurteilung des Beizuladenden nicht entgegenstehen; die anderweitige Rechtshängigkeit wird mit der Verurteilung gegenstandslos
(BSG vom 19.5.1982 – 11 RA 37/81 – SozR 2200 § 1239 Nr 2 RdNr 38).
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Auf der unterlassenen Beiladung nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der Beiladung zu einer Verurteilung des Sozialhilfeträgers und damit einer für die Kläger günstigeren Lösung gekommen wäre.
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Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren Erörterung, ob die weiteren von den Klägern benannten Revisionszulassungsgründe formgerecht gerügt worden sind.
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Der Rechtsstreit war aufgrund des aufgezeigten Verfahrensmangels nach § 160a Abs 5 SGG an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Zwar kann uU eine unterbliebene Beiladung auch im Revisionsverfahren noch nachgeholt werden
(§ 168 Satz 2 Alt 2 SGG), dies ist hier allerdings nicht angezeigt, weil es für eine Verurteilung des Sozialhilfeträgers im Revisionsverfahren an notwendigen Feststellungen nicht nur zum Grund des Aufenthalts der Kläger in der Bundesrepublik, sondern auch zB zur Hilfebedürftigkeit fehlt, sodass der Rechtsstreit trotz etwaiger Beiladung zurückzuverweisen wäre.
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
S. Knickrehm Neumann Siefert