BAG 6. Senat, Urteil vom 28.04.2022, AZ 6 AZR 340/21, ECLI:DE:BAG:2022:280422.U.6AZR340.21.0
Verfahrensgang
vorgehend ArbG Berlin, 14. Januar 2019, Az: 23 Ca 2454/18, Urteil
vorgehend LArbG Berlin-Brandenburg, 29. April 2021, Az: 14 Sa 516/19, Urteil
Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. April 2021 – 14 Sa 516/19 – im Kostenpunkt hinsichtlich der Kosten des Berufungsverfahrens und insoweit aufgehoben, als die Berufung hinsichtlich der Kündigungsschutzanträge die Kündigungen vom 27. August 2020 sowie 28. Januar 2021 betreffend zurückgewiesen wurde.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten noch über die Wirksamkeit zweier Nachkündigungen im Insolvenzverfahren der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG (im Folgenden Schuldnerin).
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Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung durch Beschluss des Insolvenzgerichts vom 1. November 2017 hob dieses mit Beschluss vom 16. Januar 2018 die Eigenverwaltung auf und bestellte den Beklagten und bisherigen Sachwalter zum Insolvenzverwalter. Dieser erklärte mit Schreiben vom 27. Januar 2018 die Kündigung des Arbeitsverhältnisses der seit September 1998 als Flugbegleiterin beschäftigten Klägerin zum 30. April 2018. Zur Begründung berief sich der Beklagte auf die Stilllegung des Flugbetriebs.
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Mit ihrer am 15. Februar 2018 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat die Klägerin mit einem Kündigungsschutzantrag gemäß § 4 Satz 1 KSchG die Unwirksamkeit der Kündigung vom 27. Januar 2018 geltend gemacht sowie daneben ua. beantragt festzustellen, „dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auch nicht durch andere Beendigungstatbestände, insbesondere weitere Kündigungen, aufgelöst worden ist“. Das Arbeitsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der hiergegen eingelegten Berufung hat die Klägerin auch die beiden vorgenannten Anträge uneingeschränkt weiterverfolgt.
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Nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist erklärte der Beklagte mit Schreiben vom 27. August 2020 und 28. Januar 2021 zwei Nachkündigungen zum 30. November 2020 bzw. 30. April 2021, die der Klägerin am 28. August 2020 bzw. 29. Januar 2021 zugingen.
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Mit Schriftsatz vom 13. November 2020 hat der Beklagte den von der Klägerin gegen die (erste) Kündigung vom 27. Januar 2018 erhobenen Kündigungsschutzantrag anerkannt. Die Klägerin hat sich ihrerseits mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2020, am Folgetag bei Gericht eingegangen und dem Beklagten am 28. Dezember 2020 zugestellt, nunmehr auch mit einem Kündigungsschutzantrag gemäß § 4 Satz 1 KSchG gegen die Nachkündigung vom 27. August 2020 gewandt. In Bezug auf die zweite Nachkündigung vom 28. Januar 2021 hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 18. Februar 2021, an diesem Tag bei Gericht eingegangen und dem Beklagten am 26. Februar 2021 zugestellt, ebenfalls einen Kündigungsschutzantrag gemäß § 4 Satz 1 KSchG erhoben.
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Die Klägerin ist der Auffassung, dass die beiden Nachkündigungen, die sie in zulässiger Weise zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gemacht habe, unwirksam seien. Für sie liege kein Kündigungsgrund vor. Überdies sei die Sozialauswahl fehlerhaft, das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 BGB verletzt und das Konsultationsverfahren sowie die Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß erfolgt.
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Die Klägerin hat zuletzt – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt
- 1.
- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten mit Schreiben vom 27. August 2020 aufgelöst worden ist;
- 2.
- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auch nicht durch die Kündigung des Beklagten mit Schreiben vom 28. Januar 2021 aufgelöst worden ist.
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Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, die Einführung der Nachkündigungen in das Berufungsverfahren stelle stets eine Klageerweiterung dar, die unzulässig sei. Im Übrigen seien die Nachkündigungen sozial gerechtfertigt.
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Das Landesarbeitsgericht hat entsprechend des auf die (erste) Kündigung vom 27. Januar 2018 bezogenen Anerkenntnisses des Beklagten am 4. Januar 2021 ein Teilanerkenntnisurteil erlassen. Im Übrigen, dh. im Hinblick auf den allgemeinen Feststellungsantrag sowie die erstmals in der Berufungsinstanz gestellten, auf die Nachkündigungen vom 27. August 2020 und 28. Januar 2021 bezogenen Kündigungsschutzanträge, hat es die Berufung mit Schlussurteil vom 29. April 2021 zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht diesbezüglich zugelassenen Revision wendet sich die Klägerin weiterhin gegen die Kündigungen vom 27. August 2020 und 28. Januar 2021.
Entscheidungsgründe
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Die beschränkt auf die Kündigungsschutzanträge, die die Nachkündigungen vom 27. August 2020 und 28. Januar 2021 zum Gegenstand haben, eingelegte Revision ist zulässig und begründet, weswegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts insoweit aufzuheben ist
(§ 72 Abs. 5 ArbGG, § 562 Abs. 1 ZPO). Das Landesarbeitsgericht hätte die Berufung im Hinblick auf diese Anträge mit der von ihm gegebenen Begründung nicht zurückweisen dürfen. Entgegen seiner Annahme hat die Klägerin, indem sie diese Anträge in das Berufungsverfahren eingeführt hat, ihre Klage nicht erweitert und damit geändert. Aus diesem Grund waren die Voraussetzungen des § 533 ZPO von der Klägerin nicht einzuhalten. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts selbst stellt sich auch nicht gemäß § 72 Abs. 5 ArbGG, § 561 ZPO aus anderen Gründen als richtig dar. Die streitbefangenen Kündigungen gelten nicht gemäß § 7 KSchG als von Anfang an wirksam. Die Klägerin hat insoweit die Klageerhebungsfrist des § 4 Satz 1 KSchG gewahrt. Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts über die Wirksamkeit der Kündigungen im Übrigen nicht selbst entscheiden kann, ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen
(§ 72 Abs. 5 ArbGG, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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I. Die Klägerin hat die Kündigungsschutzklagen in Bezug auf die Nachkündigungen vom 27. August 2020 und 28. Januar 2021 in prozessual zulässiger Weise in das Berufungsverfahren eingeführt.
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1. Die im Hinblick auf eine im Verlauf eines Gerichtsverfahrens erklärte Kündigung vorgenommene „Punktualisierung“
(zu diesem Begriff Niemann NZA 2021, 1378, 1379) eines allgemeinen Feststellungsantrags auf einen Kündigungsschutzantrag gemäß § 4 KSchG ist nach § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen. Das hat der Senat in seiner Entscheidung vom 16. Dezember 2021
(- 6 AZR 154/21 – Rn. 11 ff.) bereits entschieden und nimmt darauf Bezug. Für das Berufungsverfahren gilt insoweit nichts anderes. Eine solche Punktualisierung kann im Berufungsverfahren daher ungeachtet der Voraussetzungen des § 533 ZPO vorgenommen werden, sofern der allgemeine Feststellungsantrag wie vorliegend in der Berufungsinstanz angefallen ist
(dazu ausführlich BAG 16. Dezember 2021 – 6 AZR 154/21 – Rn. 18 ff.).
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2. Die Punktualisierung des von der Klägerin im Berufungsverfahren weiterverfolgten allgemeinen Feststellungsantrags auf die insgesamt zwei Kündigungsschutzanträge gemäß § 4 Satz 1 KSchG mit Schriftsätzen vom 9. Dezember 2020 und 18. Februar 2021 unterfällt somit § 264 Nr. 2 ZPO. Darum greift § 533 ZPO nicht ein. Die Berufung hätte – entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts – insoweit nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden dürfen, dass die Voraussetzungen dieser Norm nicht vorliegen.
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II. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich auch nicht gemäß § 72 Abs. 5 ArbGG, § 561 ZPO aus anderen Gründen als richtig dar. Die Klage ist nicht deshalb unbegründet, weil die Wirksamkeit der Kündigungen gemäß § 7 KSchG fingiert wird. Die Klägerin hat die Klageerhebungsfrist des § 4 Satz 1 KSchG gewahrt.
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1. Der Arbeitnehmer kann die Unwirksamkeit einer im Laufe des Berufungsverfahrens erklärten Kündigung auch in diesem zwischen den Parteien anhängigen Berufungsverfahren geltend machen. Entscheidet er sich für diesen Weg, muss er gleichwohl – ggf. unter Berücksichtigung der Regelung des § 167 ZPO – die Klageerhebungsfrist des § 4 Satz 1 KSchG wahren. Dem kann der Arbeitnehmer durch fristgerechte Erhebung einer Kündigungsschutzklage nachkommen. Diesem Erfordernis wird er aber auch durch einen im Berufungsverfahren bereits anhängigen oder innerhalb von drei Wochen nach Zugang der weiteren Kündigung erhobenen allgemeinen Feststellungsantrag gerecht, selbst wenn er diesen erst nach Ablauf der Dreiwochenfrist des § 4 Satz 1 KSchG punktualisiert. Das hat der Senat in seiner Entscheidung vom 16. Dezember 2021
(- 6 AZR 154/21 – Rn. 23 ff. mwN) bereits entschieden und nimmt darauf Bezug.
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Ob das Gleiche zu gelten hat, wenn eine solche Punktualisierung unterbleibt, kann dahinstehen
(für die Frage der Notwendigkeit der Punktualisierung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz, wenn die weitere Kündigung vor diesem Zeitpunkt zugeht, ebenfalls offengelassen, dem aber zuneigend BAG 24. Mai 2018 – 2 AZR 67/18 – Rn. 34, BAGE 163, 24; vgl. auch BAG 26. September 2013 – 2 AZR 682/12 – Rn. 34, BAGE 146, 161). Die Klägerin hat vorliegend mit den Schriftsätzen vom 9. Dezember 2020 bzw. 18. Februar 2021 die Kündigungen vom 27. August 2020 und 28. Januar 2021 in das Berufungsverfahren eingeführt.
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2. Die Klägerin hat zwar den Kündigungsschutzantrag betreffend die am 28. August 2020 zugegangene Kündigung vom 27. August 2020 erst mit einem am 10. Dezember 2020 und damit nach Ablauf der Klageerhebungsfrist des § 4 Satz 1 KSchG beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz in den Prozess eingeführt. Sie hat aber bereits durch die Aufrechterhaltung des allgemeinen Feststellungsantrags auch in der Berufungsinstanz diese Frist in Bezug auf die Kündigung vom 27. August 2020 gewahrt.
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In Bezug auf die am 29. Januar 2021 zugegangene Kündigung vom 28. Januar 2021 wahrt schon die Erhebung der Kündigungsschutzklage mit dem am 18. Februar 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen und dem Beklagten am 26. Februar 2021 zugestellten Schriftsatz unter Berücksichtigung des § 167 ZPO die dreiwöchige Klageerhebungsfrist des § 4 Satz 1 KSchG. Auf die auch hier gegebene Fristwahrung durch den bereits rechtshängigen allgemeinen Feststellungsantrag kommt es für diese Kündigung nicht an.
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III. Das Landesarbeitsgericht hat – aus seiner Sicht konsequent – zu der Wirksamkeit der Kündigungen im Übrigen keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Deshalb kann der Senat über diese nicht selbst entscheiden, sondern hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen
(§ 72 Abs. 5 ArbGG, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Bei seiner neuen Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht zu prüfen haben, ob der Kündigungsschutzantrag der zeitlich späteren Kündigung als unechter Hilfsantrag zu verstehen ist und nur für den Fall des Obsiegens mit dem Kündigungsschutzantrag der zeitlich früheren Kündigung anfällt
(vgl. zum Antragsverständnis bei mehreren Kündigungsschutzanträgen BAG 23. Oktober 2014 – 2 AZR 865/13 – Rn. 63, BAGE 149, 355; 21. November 2013 – 2 AZR 598/12 – Rn. 17, 19, BAGE 146, 353; für den Fall mehrerer Änderungsschutzanträge BAG 18. Oktober 2018 – 2 AZR 374/18 – Rn. 14). Weiter wird es unter Berücksichtigung des Stationierungsortes Leipzig der Klägerin über die Wirksamkeit der Nachkündigung(en) zu befinden haben, insbesondere darüber, ob diese dem Anwendungsbereich des § 17 KSchG unterfallen.
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IV. Die auf die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beschränkte Aufhebung im Kostenpunkt erklärt sich aus dem Umstand, dass die Klägerin die in der Revisionsinstanz allein angefallenen, gegen die Nachkündigungen vom 27. August 2020 und 28. Januar 2021 gerichteten Kündigungsschutzanträge erstmals im Berufungsverfahren erhoben hat.
- Spelge
- Krumbiegel
- Heinkel
- Lorenz
- Kammann