BAG 9. Senat, Urteil vom 26.04.2022, AZ 9 AZR 367/21, ECLI:DE:BAG:2022:260422.U.9AZR367.21.0
§ 7 Abs 3 BUrlG, § 208 Abs 1 S 1 SGB 9 2018, § 7 Abs 1 S 1 BUrlG, Art 7 Abs 1 EGRL 88/2003, § 152 SGB 9 2018
Verfahrensgang
vorgehend ArbG Trier, 23. Januar 2020, Az: 3 Ca 697/19, Urteil
vorgehend Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, 22. April 2021, Az: 2 Sa 59/20, Urteil
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. April 2021 – 2 Sa 59/20 – unter Zurückweisung der Revision im Übrigen teilweise und im Kostenausspruch insgesamt aufgehoben.
2. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Trier vom 23. Januar 2020 – 3 Ca 697/19 – teilweise abgeändert und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass dem Kläger aus dem Jahr 2017 zwei Tage Zusatzurlaub zustehen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger 5/7 und die Beklagte 2/7 zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus den Jahren 2017 und 2018 von insgesamt sieben Tagen zusteht.
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Der Kläger ist – ausweislich der eingereichten Entgeltabrechnungen – seit dem 1. Juni 1994 bei der Beklagten, bei der regelmäßig mehr als 60 Arbeitnehmer angestellt sind, in Vollzeit beschäftigt. Der Beklagten war nicht nur bekannt, dass der Kläger einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt hatte. Der Kläger hatte sie auch über die Ablehnung des Antrags durch Bescheid vom 24. November 2017 informiert. Erst im März 2019 erfuhr die Beklagte jedoch, dass der Kläger dagegen mit Erfolg das Widerspruchs- und Klageverfahren angestrengt hatte. Aufgrund eines vor dem Sozialgericht abgegebenen Anerkenntnisses hatte das Landesamt für Soziales des Saarlands ihn am 5. März 2019 rückwirkend zum 11. August 2017 als schwerbehinderten Menschen mit einem GdB von 50 anerkannt. Daraufhin verlangte der Kläger Anfang April 2019 die Gewährung von Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen. Dieses Begehren lehnte die Beklagte für die Jahre 2017 und 2018 mit dem Hinweis ab, der Anspruch sei verfallen.
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Mit der vorliegenden Klage hat der Kläger demgegenüber den Standpunkt eingenommen, der Zusatzurlaub sei nicht verfallen, weil die Beklagte ihren diesbezüglichen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen sei. Zudem bestehe bei der Beklagten die betriebliche Übung, dass im Urlaubsjahr nicht genommener Urlaub weder mit Ablauf des Kalenderjahrs noch am 31. März des Folgejahrs verfalle, sondern „unbegrenzt mitgenommen“ werden könne.
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Der Kläger hat beantragt
- festzustellen, dass ihm für die Jahre 2017 und 2018 zusätzlicher Urlaub für schwerbehinderte Menschen von sieben Tagen zusteht.
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Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, der Zusatzurlaub des Klägers sei mit Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahrs verfallen. Sie sei nicht verpflichtet gewesen, den Kläger aufzufordern, den Zusatzurlaub zu nehmen und ihn auf die Befristung des Anspruchs hinzuweisen, weil sie erst im März 2019 Kenntnis von der rückwirkenden Anerkennung seiner Schwerbehinderung erhalten habe. Bis zu diesem Zeitpunkt sei sie davon ausgegangen, eine Schwerbehinderung habe aufgrund des abgelehnten Antrags nicht bestanden.
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Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
7
Die Revision des Klägers ist teilweise begründet. Der Kläger hat Anspruch auf zwei Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus dem Jahr 2017. Der im Umfang von fünf Tagen entstandene Zusatzurlaub aus dem Jahr 2018 ist mit Ablauf des 31. Dezember 2018 nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG verfallen.
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I. Der Kläger erwarb gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 gültigen Fassung einen Anspruch auf (anteiligen) Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen im Umfang von zwei Arbeitstagen für das Jahr 2017 und gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung einen Anspruch auf Zusatzurlaub von fünf Arbeitstagen für das Jahr 2018. Tatbestandliche Voraussetzung des Anspruchs auf Zusatzurlaub ist das objektive Vorliegen einer Schwerbehinderung. Auf deren Feststellung durch die zuständige Behörde kommt es nicht an
(vgl. zum SchwbG BAG 21. Februar 1995 – 9 AZR 675/93 – zu I 1 der Gründe, BAGE 79, 207). Der Feststellungsbescheid des Versorgungsamts hat nach § 2 Abs. 2, § 152 SGB IX keine rechtsbegründende (konstitutive), sondern lediglich eine erklärende (deklaratorische) Wirkung
(st. Rspr. vgl. BAG 13. Februar 2008 – 2 AZR 864/06 – Rn. 16, BAGE 125, 345). Der Anspruch auf Zusatzurlaub entsteht auch unabhängig davon, ob der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers Kenntnis hatte
(vgl. BAG 30. November 2021 – 9 AZR 143/21 – Rn. 11 mwN).
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II. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist der Anspruch des Klägers auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus dem Jahr 2017 nicht mit dem Ablauf des Urlaubsjahrs erloschen. Demgegenüber hat es zutreffend erkannt, dass der Zusatzurlaub aus dem Jahr 2018 gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG am 31. Dezember 2018 verfallen ist.
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1. Für den gesetzlichen Mindesturlaub iSd. §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG schreibt § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG vor, dass der Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden muss. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG grundsätzlich in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden; andernfalls erlischt er nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG.
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a) Die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu muss er den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahrs oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt. In richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Erfüllung der hieraus abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ist grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes
(grundl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376).
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b) Hat der Arbeitgeber diesen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entsprochen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahrs nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahrs entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt
(BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376).
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2. Die Befristung des Anspruchs auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF bzw. § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX setzt, wie die des gesetzlichen Mindesturlaubs, grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch Erfüllung seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt hat, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen
(BAG 30. November 2021 – 9 AZR 143/21 – Rn. 16).
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a) Der Anspruch schwerbehinderter Menschen auf Zusatzurlaub nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF bzw. § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX unterliegt zwar nicht unionsrechtlichen Vorgaben, denn der nationale Gesetzgeber kann Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln. Die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs sind jedoch nach dem Grundsatz der urlaubsrechtlichen Akzessorietät auf den Anspruch schwerbehinderter Menschen auf Zusatzurlaub nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF bzw. § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX anzuwenden
(vgl. hierzu im Einzelnen BAG 23. März 2010 – 9 AZR 128/09 – Rn. 66 ff., BAGE 134, 1). Der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen teilt – vorbehaltlich nach § 13 BUrlG zulässiger kollektivrechtlicher oder vertraglicher Vereinbarungen – grundsätzlich das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs
(st. Rspr., vgl. zB BAG 10. März 2020 – 9 AZR 109/19 – Rn. 11; 22. Januar 2019 – 9 AZR 149/17 – Rn. 26). Nach § 125 Abs. 3 SGB IX aF bzw. § 208 Abs. 3 SGB IX finden für die Übertragbarkeit des Zusatzurlaubs in das nächste Kalenderjahr die dem Beschäftigungsverhältnis zugrundeliegenden urlaubsrechtlichen Regelungen ausdrücklich auch dann Anwendung, wenn die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch rückwirkend festgestellt wird. Dadurch soll eine Kumulation von Ansprüchen auf Zusatzurlaub aus vorangegangenen Urlaubsjahren ausgeschlossen werden
(BT-Drs. 15/1783 S. 18).
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b) Dem Arbeitgeber ist danach regelmäßig die Berufung auf die Befristung und das Erlöschen des Zusatzurlaubsanspruchs versagt, wenn er seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in Bezug auf diesen Anspruch nicht erfüllt hat
(BAG 30. November 2021 – 9 AZR 143/21 – Rn. 18 mwN). Maßgeblich für das Bestehen der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ist grundsätzlich die objektive Rechtslage
(st. Rspr., vgl. zur Ungewissheit der Parteien über den (Fort-)Bestand des Arbeitsverhältnisses BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 20; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 48; 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 55). Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF bzw. § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erfüllt, hat der Arbeitgeber an der Verwirklichung des Zusatzurlaubs mitzuwirken
(BAG 30. November 2021 – 9 AZR 143/21 – Rn. 19).
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c) Allerdings ist – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat – die Befristung des Zusatzurlaubs nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren. Hiervon ist nicht nur auszugehen, wenn der Arbeitnehmer allein aufgrund einer lang andauernden Erkrankung daran gehindert war, den Urlaub in Anspruch zu nehmen
(vgl. zu den Voraussetzungen im Einzelnen BAG 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19 (A) – Rn. 23 ff., BAGE 171, 231), sondern auch, wenn es dem Arbeitgeber trotz gebotener Sorgfalt nicht möglich war, seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten zu erfüllen.
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aa) Hat der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers und ist diese nicht offenkundig, verfällt der Anspruch auf Zusatzurlaub auch dann gem. § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des Urlaubsjahrs oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist
(BAG 30. November 2021 – 9 AZR 143/21 – Rn. 20 ff. mit ausführlicher Begründung). Der Arbeitgeber hat unter diesen Voraussetzungen keinen Anlass, vorsorglich auf einen Zusatzurlaub hinzuweisen und den Arbeitnehmer aufzufordern, diesen in Anspruch zu nehmen.
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bb) Entsprechendes gilt, wenn der Arbeitnehmer einen Antrag auf Anerkennung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch gestellt hat, ohne seinen Arbeitgeber darüber zu unterrichten und ohne dass die Schwerbehinderung offensichtlich ist. Der Arbeitgeber kann erwarten, dass ein Arbeitnehmer ihm mitteilt, einen Antrag auf Anerkennung als schwerbehinderter Mensch gestellt zu haben, wenn er den Zusatzurlaub wahrnehmen möchte. Unterlässt der Arbeitnehmer die Mitteilung, kann er seine Rechte aus § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF nach erfolgter Anerkennung nach Ablauf der gesetzlichen Verfallfristen nicht mehr in Anspruch nehmen. Weist er den Arbeitgeber nicht auf das eingeleitete Antragsverfahren hin, muss er davon ausgehen, dass der Zusatzurlaub nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt, weil er in dieser Situation nicht auf Veranlassung des Arbeitgebers davon abgehalten wird, seine Rechte geltend zu machen
(vgl. BAG 30. November 2021 – 9 AZR 143/21 – Rn. 24 unter Hinweis auf EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 43).
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d) Unterrichtet der (objektiv schwerbehinderte) Arbeitnehmer den Arbeitgeber über seinen (noch nicht beschiedenen) Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft, setzen Befristung und Verfall des Anspruchs auf Zusatzurlaub grundsätzlich die Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten durch den Arbeitgeber voraus.
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aa) Mit der Unterrichtung des Arbeitgebers über den Antrag bringt der Arbeitnehmer seinen Standpunkt zum Ausdruck, die Voraussetzungen für eine Schwerbehinderung iSv. § 2 Abs. 2 SGB IX zu erfüllen mit der Konsequenz, dass auf sein Arbeitsverhältnis die besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen aus Teil 3 des SGB IX Anwendung finden und damit auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 208 SGB IX bzw. § 125 SGB IX aF erfüllt sind. Dies hat – trotz der Ungewissheit über den Ausgang des Feststellungsverfahrens – zur Folge, dass den Arbeitgeber ab diesem Zeitpunkt die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs
(vgl. dazu BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 21 ff., BAGE 165, 376) trifft. Da Anspruch auf Zusatzurlaub schon vom Zeitpunkt der Schwerbehinderung an und nicht erst nach behördlicher Feststellung besteht, muss der Arbeitgeber ab Kenntniserlangung vom Anerkennungsverfahren damit rechnen, fortan Ansprüchen des Arbeitnehmers auf Zusatzurlaub ausgesetzt zu sein, und kann sein weiteres Verhalten darauf ausrichten. Bereits nach der früheren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, nach der der (Zusatz-)Urlaubsanspruch nach Ablauf des Urlaubsjahrs bzw. des Übertragungszeitraumraums des § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG noch automatisch ersatzlos verfallen sollte, wenn er nicht rechtzeitig geltend gemacht wurde, konnte (und musste) sich der Arbeitnehmer schon vor der behördlichen Feststellung auf seine Schwerbehinderung berufen
(vgl. BAG 26. Juni 1986 – 8 AZR 266/84 – zu I 2 a bis c der Gründe, BAGE 52, 258). Hieran hat sich durch die mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konforme Auslegung von § 7 BUrlG, der zufolge idR erst die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit zur Befristung des Urlaubsanspruchs führt, im Grundsatz nichts geändert. Anders verteilt ist nunmehr aber die Initiativlast bei der Gewährung und Inanspruchnahme des Zusatzurlaubs, die nicht mehr beim Arbeitnehmer
(so noch BAG 26. Juni 1986 – 8 AZR 266/84 – zu I 2 a der Gründe, aaO; 28. Januar 1982 – 6 AZR 636/79 – zu 3 a der Gründe, BAGE 37, 379), sondern beim Arbeitgeber liegt.
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bb) Auf die Unterrichtung kann der Arbeitgeber, wenn er ebenso wie der Arbeitnehmer vom Vorliegen der Schwerbehinderung ausgeht, bereits im Vorgriff auf eine von ihm erwartete positive Entscheidung des Versorgungsamts seiner Initiativlast gerecht werden, indem er den Arbeitnehmer auffordert, Zusatzurlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Zusatzurlaub mit Ablauf des Kalenderjahrs oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt. Konsequenterweise ist er dann auch gehalten, den Zusatzurlaub auf einen entsprechenden Antrag zu gewähren; anderenfalls setzt er sich in Widerspruch zu seinen vorausgehenden Erklärungen und entfristet den Zusatzurlaub dadurch wieder. Bezweifelt der Arbeitgeber das Vorliegen einer Schwerbehinderung und möchte er deshalb zunächst den Ausgang des Anerkennungsverfahrens abwarten, bevor er den Zusatzurlaub initiiert, trägt er das Risiko, den Zusatzurlaubsanspruch auch noch nach Ablauf des Urlaubsjahrs gewähren zu müssen. Bestätigt sich mit der rückwirkenden Feststellung der Schwerbehinderung die dem Arbeitgeber mitgeteilte Auffassung des Arbeitnehmers, als schwerbehinderter Mensch iSd. § 2 Abs. 2 SGB IX nach § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF anspruchsberechtigt zu sein, besteht der Zusatzurlaubsanspruch fort. Er konnte nicht verfallen, weil der Arbeitgeber es unterlassen hat, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren.
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e) Besonderheiten ergeben sich, wenn – wie im vorliegenden Fall – der dem Arbeitgeber bekannte Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung zunächst durch behördlichen Bescheid zurückgewiesen und die Schwerbehinderung aufgrund eines vom Arbeitnehmer eingelegten Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels später rückwirkend festgestellt wird.
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aa) Die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers bestehen in einem solchen Fall zunächst bis zu der ablehnenden Entscheidung der zuständigen Behörde. Bis dahin obliegt es dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer rechtzeitig entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zu unterrichten und ihn aufzufordern, den Urlaub vor Ablauf des Urlaubsjahrs oder des Übertragungszeitraums zur Vermeidung des Verfalls so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahrs oder des Übertragungszeitraums gewährt und genommen werden kann. Die rechtzeitige Erfüllung der dem Arbeitgeber obliegenden Mitwirkungshandlungen stellt sicher, dass der ab dem ersten Arbeitstag seit Antragstellung, dh. ab dem Zeitpunkt, auf den die Feststellung der Schwerbehinderung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX regelmäßig zurückwirkt, über seinen Zusatzurlaub disponieren kann
(vgl. BAG 7. September 2021 – 9 AZR 3/21 (A) – Rn. 27; 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19 (A) – Rn. 22, BAGE 171, 231). Ist der Arbeitgeber vor dem Erlass des ablehnenden Bescheids seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht rechtzeitig nachgekommen, unterliegt der Zusatzurlaubsanspruch, über den der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bis dahin hätte rechtzeitig belehren können, nicht dem Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG. Der Ablehnungsbescheid ändert daran nichts mehr. Durch das Unterlassen der Mitwirkungshandlungen bringt der Arbeitgeber zum Ausdruck, den Zusatzurlaub nicht initiativ im Vorgriff auf die etwaige Feststellung der Schwerbehinderung zu erteilen, sondern zunächst den Ausgang des Anerkennungsverfahren abzuwarten, um den Zusatzurlaub ggf. später zu gewähren.
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bb) Ansprüche auf Zusatzurlaub, hinsichtlich derer der Arbeitgeber nicht rechtzeitig vor Ablehnung des Antrags seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachkommen konnte, erlöschen – auch ohne dass der Arbeitgeber zuvor seine Mitwirkungsobliegenheit erfüllt hat – mit Ablauf der gesetzlichen Verfallfristen, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber nicht rechtzeitig über den weiteren Gang des Anerkennungsverfahrens unterrichtet. Dem Arbeitnehmer obliegt es, den Arbeitgeber unverzüglich über die ablehnende Entscheidung der zuständigen Behörde sowie darüber zu informieren, ob er dagegen einen Rechtsbehelf eingelegt hat oder dies beabsichtigt. Der Arbeitgeber hat daran ein berechtigtes Interesse, weil er in aller Regel keine Kenntnis über den Stand des Verfahrens hat. Mit dem Ablehnungsbescheid, der das Ergebnis einer behördlichen Prüfung darstellt, kann sich die Prognose des Arbeitgebers ändern, ob dem Arbeitnehmer der besondere Schutz schwerbehinderter Menschen zusteht. Dem Arbeitnehmer obliegt es, den Arbeitgeber in die Lage zu versetzen, auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er dem Arbeitnehmer vorsorglich Zusatzurlaub gewähren und seine entsprechenden Mitwirkungsobliegenheiten erfüllen will, um sich ggf. später auf den Verfall nicht in Anspruch genommener Urlaubsansprüche berufen zu können.
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3. Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Anspruch des Klägers auf Zusatzurlaub aus dem Jahr 2018 gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG mit Ablauf des Urlaubsjahrs verfallen, nicht jedoch der Zusatzurlaub aus dem Jahr 2017.
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a) Der Kläger ist der ihm obliegenden Unterrichtung der Beklagten über den Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung nachgekommen. Um den Anspruch auf Zusatzurlaub aus dem Jahr 2017 nach § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG zu befristen, hätte die Beklagte dem Kläger gegenüber ihre Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten bis zum Erlass des Ablehnungsbescheids vom 24. November 2017 erfüllt haben müssen. Da sie dies unterlassen hat, konnte der Zusatzurlaub aus dem Jahr 2017 nicht mit Ablauf des 31. Dezember 2017 erlöschen.
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b) Nach Zurückweisung seines Antrags auf Feststellung der Schwerbehinderung durch Bescheid vom 24. November 2017 hat der Kläger hingegen seine Obliegenheit, die Beklagte über den Fortgang des Anerkenntnisverfahrens zu unterrichten, nicht erfüllt. Die Beklagte war zwar darüber unterrichtet, dass die zuständige Behörde die beantragte Feststellung der Schwerbehinderung abgelehnt hat. Sie wurde aber nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Kläger sich gegen die Ablehnung des Antrags gerichtet und Widerspruch eingelegt hat. Deshalb durfte sie davon ausgehen, dass sich das Antragsverfahren erledigt hat, und hatte keine weitere Veranlassung, ihren Mitwirkungsobliegenheiten nachzukommen. Es hätte dem Kläger oblegen, die Beklagte über seinen Widerspruch und das anschließende Klageverfahren zu unterrichten, um ihr die Gelegenheit zu geben, die Verwirklichung des Zusatzurlaubs zu initiieren.
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c) Der Zusatzurlaub aus dem Jahr 2018 ist nicht gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG auf das nächste Kalenderjahr übertragen worden. Die Ungewissheit über das Ergebnis des versorgungsamtlichen Feststellungsverfahrens ist kein in der Person des Arbeitnehmers liegender Übertragungsgrund
(BAG 21. Februar 1995 – 9 AZR 746/93 – zu I 3 b der Gründe; 13. Juni 1991 – 8 AZR 360/90 – zu 4 der Gründe).
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III. Ein Anspruch auf fünf weitere Tage Zusatzurlaub aus dem Jahr 2018 steht dem Kläger auch nicht aus anderen Gründen zu. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend entschieden, dass sich die Beklagte nicht rechtsgeschäftlich dazu verpflichtet hat, Urlaub generell unabhängig von dem Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG zu übertragen.
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a) Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich ein entsprechender Rechtsbindungswille nicht daraus herleiten, dass in den Entgeltabrechnungen des jeweiligen Monats April der Jahre 2016 bis 2019 die aufaddierten Urlaubstage ausgewiesen sind. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerfrei erkannt, dass die Angabe von Urlaubstagen in einer Entgeltabrechnung regelmäßig lediglich eine Wissens-, nicht aber eine rechtsgestaltende Willenserklärung darstellt. Die bloße Mitteilung durch den Arbeitgeber entfaltet in der Regel keine rechtsgeschäftliche Wirkung
(vgl. ausf. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 881/16 – Rn. 16). Besondere Umstände, die vorliegend ausnahmsweise auf einen Geschäftswillen schließen lassen, hat das Landesarbeitsgericht weder festgestellt noch haben die Parteien hierfür Anhaltspunkte vorgetragen.
31
b) Zutreffend ist auch die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, der Vortrag des Klägers lasse nicht den Schluss zu, es habe im Betrieb der Beklagten eine Übung bestanden, dass Urlaub stets über die in § 7 Abs. 3 BUrlG genannten Fristen hinaus übertragen werde.
32
aa) Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird
(§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen
(BAG 17. August 2021 – 1 AZR 175/20 – Rn. 39; 19. Februar 2020 – 5 AZR 189/18 – Rn. 15 mwN). Entscheidend für das Entstehen eines Anspruchs ist, wie die Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände
(§§ 133, 157 BGB) verstehen mussten und ob sie auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durften. Ob dieser tatsächlich mit einem entsprechenden Verpflichtungswillen gehandelt hat, ist unerheblich. Die Beurteilung, ob eine betriebliche Übung entstanden ist und welchen Inhalt sie hat, unterliegt der vollen revisionsrechtlichen Überprüfung
(BAG 25. Juni 2019 – 9 AZR 546/17 – Rn. 31). Eine betriebliche Übung kommt als Anspruchsgrundlage nur in Betracht, wenn auf die gewährte Leistung kein einzelvertraglicher oder kollektivrechtlicher Anspruch besteht
(BAG 21. Juni 2005 – 9 AZR 200/04 – Rn. 40).
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bb) Der Kläger hat seine pauschale Behauptung, die Mitarbeiter seien infolge einer langjährigen Übung berechtigt gewesen, den Urlaub zu einem späteren als dem in § 7 Abs. 3 BUrlG genannten Zeitpunkt zu nehmen, nicht hinreichend konkretisiert. Soweit er in Bezug auf die vier Arbeitnehmer B, S, E und H näheren Sachvortrag zur Gewährung von Urlaub aus den Vorjahren außerhalb der in § 7 Abs. 3 BUrlG genannten Fristen gehalten hat, lässt sich daraus nicht auf das Bestehen einer entsprechenden betrieblichen Übung schließen.
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(1) Eine betriebliche Übung bezieht sich auf eine Vielzahl oder zumindest auf eine abgrenzbare Gruppe von Arbeitnehmern, ohne dass individuelle Besonderheiten die vertraglichen Beziehungen gestalten; das Rechtsinstitut der betrieblichen Übung enthält ein kollektives Element
(BAG 17. April 2013 – 10 AZR 251/12 – Rn. 16; 11. April 2006 – 9 AZR 500/05 – Rn. 15, BAGE 118, 16).
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(2) Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend aufgezeigt, dass eine gegenüber vier Arbeitnehmern praktizierte Urlaubsgewährung bei einer Belegschaftsstärke von mehr als 60 Mitarbeitern nicht ohne weiteres auf einen Verpflichtungswillen der Beklagten hindeutet, der sich über die betroffenen Einzelpersonen hinaus auf eine Vielzahl oder zumindest eine abgrenzbare Gruppe von Arbeitnehmern erstreckt. Dieser Vortrag lässt nicht den Schluss zu, dass die ihnen gegenüber praktizierte Gewährung von Urlaub im Sinne einer allgemeingültigen, typischen Verfahrensweise „betriebsüblich“ gewesen ist und es sich nicht lediglich um Einzelfälle handelte, bei denen die Beklagte bestimmten Situationen Rechnung getragen hat. Die Beklagte hat im Einzelnen ausgeführt, dass der vom Kläger dargestellten Gewährung von Urlaub nach Ablauf des Urlaubsjahrs jeweils besondere, einzelfallbezogene Umstände (insbesondere Krankheit, Personalmangel) zugrunde lagen und ihr Verhalten deshalb nicht als Ausdruck einer generalisierenden, den gesamten Betrieb oder bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern betreffenden Verhaltensweise auf einen Rechtsbindungswillen der Beklagten schließen lässt. Auf dieses Vorbringen hat der darlegungs- und beweisbelastete Kläger nicht substantiiert erwidert.
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IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
- Kiel
- Kiel
für die an der Unterschrift verhinderte Richterin am Bundesarbeitsgericht Weber - Zimmermann
- Lohbeck
- Lipphaus