Wahlprüfungsbeschwerde der NPD wegen Nichtzulassung der Landesliste im Land Berlin für die Bundestagswahl im Jahr 2017 erfolgreich (Pressemeldung des BVerfG)

Pressemitteilung Nr. 30/2022 vom 14. April 2022

Beschluss vom 23. März 2022

2 BvC 22/19

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Nichtzulassung der Landesliste der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) für die Wahl des 19. Deutschen Bundestages im Land Berlin die Beschwerdeführerin zu 1. in ihrer Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG und die weiteren Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in ihrem Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Soweit sich die Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Gültigkeit der Wahl richtete, wurde sie als unzulässig verworfen.

Im Oktober 2016 fand in Berlin die besondere Vertreterversammlung der Beschwerdeführerin zu 1. zur Aufstellung einer Landesliste für die Bundestagswahl 2017 statt. Die Vertreter eines Kreisverbandes waren bereits im Februar 2016 gewählt worden, nahmen an der besonderen Vertreterversammlung jedoch nicht teil. Weil die Wahlen der Delegierten zur Vertreterversammlung gemäß § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG erst frühestens 29 Monate nach dem Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden dürfen, lehnte der Landeswahlausschuss die Zulassung der eingereichten Landesliste ab. Der Zweite Senat hat nun entschieden, dass eine Landesliste, die – wie im vorliegenden Fall – unter Nichtbeteiligung verfrüht gewählter Delegierter aufgestellt wurde, wegen des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in die Parteienfreiheit und die Wahlfreiheit regelmäßig nicht allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden darf.

Sachverhalt:

Am 8. Oktober 2016 führte die Beschwerdeführerin zu 1. einen Landesparteitag in Berlin durch. Im Anschluss fand die besondere Vertreterversammlung zur Aufstellung einer Landesliste für die Bundestagswahl 2017 im Land Berlin statt. Gemäß § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG darf die Wahl der Delegierten zur Vertreterversammlung frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden. Die Vertreter eines Kreisverbandes waren aber bereits im Februar 2016 gewählt worden. Sie versicherten gegenüber dem Landeswahlausschuss an Eides statt, an der besonderen Vertreterversammlung zur Aufstellung einer Landesliste für die Bundestagswahl im Land Berlin am 8. Oktober 2016 nicht teilgenommen zu haben. Der Landeswahlausschuss lehnte die Zulassung der eingereichten Landesliste gleichwohl ab, weil die Liste wegen der zu früh erfolgten Wahl von Vertretern für die Vertreterversammlung nicht den wahlrechtlichen Bestimmungen entspreche. Eine solche Wahl habe erst im März 2016 stattfinden dürfen. Einzelne Vertreter seien aber bereits im Februar 2016 und damit einen Monat zu früh gewählt worden. Nach erfolgloser Beschwerde wies auch der Deutsche Bundestag den erhobenen Wahleinspruch als unbegründet zurück, weil die Landesliste den gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprochen habe.

Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer machen geltend, dass die Bundestagswahl 2017 im Land Berlin für ungültig zu erklären und eine Wiederholung der Wahl anzuordnen sei. Jedenfalls seien die Beschwerdeführerin zu 1. in ihrem Recht der Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 GG, die Beschwerdeführer zu 2. bis 7. in ihrem passiven Wahlrecht und die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer zu 8. bis 19. in ihrem aktiven Wahlrecht verletzt.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

A. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist nur teilweise zulässig.

Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer haben unzureichend dargetan, dass die Nichtzulassung der Landesliste zur Wahl zum 19. Deutschen Bundestag im Land Berlin zur Ungültigerklärung der Wahl führen könnte. Eine Mandatsrelevanz des gerügten Wahlfehlers kann dem Beschwerdevorbringen nicht entnommen werden. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer behaupten nicht, dass die Beschwerdeführerin zu 1. im Falle einer Zulassung der Landesliste eigene Bundestagsmandate errungen hätte. Vielmehr beschränken sie ihr Vorbringen zur Mandatsrelevanz auf mittelbare Auswirkungen der Nichtzulassung der Landesliste auf die Sitzverteilung im 19. Deutschen Bundestag. Die Beschwerdeführer legen aber schon nicht substantiiert dar, dass die Nichtzulassung der Landesliste zur Folge hatte, dass potentielle Wählerinnen und Wähler der Beschwerdeführerin zu 1. an der Wahl teilgenommen und ihre Stimme für eine bestimmte Partei des gleichen politischen Spektrums abgegeben haben. Daneben hätte nachvollziehbar dargelegt werden müssen, dass trotz der bei den vorangegangenen Bundestagswahlen im Land Berlin erzielten Wahlergebnisse der Beschwerdeführerin zu 1. in einer Größenordnung von nur 1,5 % durch die Zulassung ihrer Landesliste auch quantitativ Umschichtungen von Wählerstimmen in einem Umfang zu erwarten gewesen wären, die sich hätten mandatsrelevant auswirken können. Im Übrigen ist die Wahlprüfungsbeschwerde zulässig.

B. Die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. im Land Berlin zur Wahl des 19. Deutschen Bundestages stellt einen Wahlfehler dar, der die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in ihren Rechten auf Wahlfreiheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und auf Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG verletzt.

I. Die in § 28 BWahlG vorgesehene Zulassungsbedürftigkeit von Landeslisten steht mit der Parteienfreiheit und der Wahlfreiheit grundsätzlich im Einklang. Die Vorschrift greift zwar sowohl in die Parteienfreiheit als auch in die Wahlfreiheit ein. Die Regelung dient jedoch dem Schutz von Verfassungsgütern, die den Grundsätzen der Wahl- und der Parteienfreiheit die Waage halten können. Das Erfordernis der Zulassung der Landesliste einer Partei zur Wahl soll zunächst die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl und die Sicherung ihres Charakters als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes gewährleisten. Es zielt darauf ab, den Wahlakt auf Wahlvorschläge zu beschränken, die in einem formellen und materiellen Anforderungen genügenden Verfahren beschlossen wurden und dadurch den Rückschluss auf die Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme rechtfertigen. Daneben soll durch das Zulassungserfordernis gewährleistet werden, dass bei der Aufstellung der Landesliste das aktive und passive Wahlrecht der Parteimitglieder beachtet wird.

II. Ungeachtet der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit hat die Auslegung und Anwendung von § 28 BWahlG jedoch im Lichte der Gewährleistungen der Parteienfreiheit und der Wahlfreiheit zu erfolgen. Es ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Nichtzulassung einer Landesliste einen schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und die Parteienfreiheit darstellt. Unter mehreren möglichen Auslegungsvarianten ist daher derjenigen der Vorzug zu geben, die die Grundsätze der Parteien- und der Wahlfreiheit einerseits und die das Zulassungserfordernis rechtfertigenden Verfassungsgüter andererseits zu einem bestmöglichen Ausgleich bringt. Insoweit ist § 28 BWahlG verfassungskonform auszulegen. Deshalb darf eine Landesliste, die – wie im vorliegenden Fall – unter Nichtbeteiligung verfrüht gewählter Delegierter aufgestellt wurde, regelmäßig nicht allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden.

1. Gemäß § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dürfen die Wahlen der Delegierten für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landeslisten zwar frühestens 29 Monate nach dem Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden. Von einem Verstoß gegen die Fristbestimmung zu unterscheiden ist jedoch die Frage, welche Rückwirkungen sich hieraus für die Zulassungsfähigkeit einer Landesliste ergeben. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass jegliche Verletzung einer Bestimmung des Bundestagswahlrechts ohne Weiteres dazu führt, dass eine Landesliste den „Anforderungen“ im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG nicht entspricht, die an eine zulassungsfähige Landesliste zu stellen sind.

2. Zwar führt die Wahl einzelner Vertreter unter Verstoß gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dazu, dass diese bei der Vertreterversammlung weder stimm- noch vorschlagsberechtigt sind. Nehmen diese Delegierten an der Vertreterversammlung aber gar nicht teil, hat dies nicht zur Folge, dass die aufgestellte Landesliste zurückgewiesen werden muss.

a) Das gesetzliche Gebot, die Wahl der Vertreter für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landesliste frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden zu lassen, bezweckt, dass die gewählten Kandidatinnen und Kandidaten den aktuellen mehrheitlichen Willen der Parteimitglieder repräsentieren. Nehmen die vorzeitig gewählten Vertreter an der Listenaufstellung aber gar nicht teil, besteht kein Risiko, dass diese Vertreter zu einer Listenaufstellung beitragen, die den gegenwärtigen mehrheitlichen Willen der Parteimitglieder nicht abbildet.

b) Daneben soll § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG das Wahlvorschlagsrecht relativ kurz vor der Listenaufstellung eingetretener Neumitglieder der jeweiligen Partei schützen. Zwar mag bei einer vorzeitigen Vertreterwahl neuen Parteimitgliedern zunächst die Möglichkeit genommen sein, sich selbst um eine Benennung als Delegierter zu bemühen und von ihrem Wahl- beziehungsweise Wahlvorschlagsrecht Gebrauch zu machen. Nehmen die stattdessen bestimmten Delegierten ihr Mandat aber nicht wahr, besteht zumindest nicht das Risiko, dass die Listenaufstellung nur durch angestammte Parteimitglieder erfolgt und die gewählten Wahlbewerberinnen und ‑bewerber nicht den aktuellen Parteiwillen repräsentieren. Außerdem bleibt es den neuen Mitgliedern unbenommen, die erneute – fristgemäße – Benennung von Delegierten für die Vertreterversammlung zur Aufstellung der Landesliste einzufordern und sich dabei als Delegierte zu bewerben. Jedenfalls tritt die potentielle Beeinträchtigung des Wahlvorschlagsrechts einzelner Parteimitglieder aufgrund einer vorzeitigen Delegiertenwahl hinter dem schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und die Parteienfreiheit, die mit der Nichtzulassung einer Landesliste verbunden ist, zurück.