BVerfG 1. Senat 1. Kammer, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.04.2022, AZ 1 BvR 1370/21, ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220404.1bvr137021
Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 1 Abs 1 Nr 3 BeratHiG
Verfahrensgang
vorgehend AG Kaufbeuren, 5. Mai 2021, Az: 156 UR II 54/21, Beschluss
vorgehend AG Kaufbeuren, 21. April 2021, Az: 156 UR II 54/21, Beschluss
vorgehend AG Kaufbeuren, 19. April 2021, Az: 156 UR II 54/21, Beschluss
vorgehend AG Kaufbeuren, 14. April 2021, Az: 156 UR II 54/21, Beschluss
Tenor
1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Kaufbeuren vom 14. April 2021 – 156 UR II 54/21 -, vom 19. April 2021 – 156 UR II 54/21 – und vom 21. April 2021 – 156 UR II 54/21 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absätze 1 und 3 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Der Beschluss des Amtsgerichts Kaufbeuren vom 5. Mai 2021 – 156 UR II 54/21 – wird damit gegenstandslos. Die Sache wird an das Amtsgericht Kaufbeuren zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung von Beratungshilfe für ein sozialrechtliches Widerspruchsverfahren.
I.
2
1. Der Beschwerdeführer bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid vom 8. April 2021 wurde die Leistungsbewilligung des Beschwerdeführers für den Zeitraum Juli bis Dezember 2020 endgültig festgesetzt. Der Begründung war unter anderem zu entnehmen, dass eigentlich im Juni 2020 ein aus einer Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2019 hervorgehendes Guthaben anzurechnen sei. Weil dies aber zu einem vollständigen Wegfall des Leistungsanspruchs in diesem Monat führen würde, werde das Guthaben als einmalige Einnahme zu gleichen Teilen auf sechs Monate aufgeteilt. Dies führe zu einer monatlichen Minderung in Höhe von 49,25 Euro von Juni bis November 2020. Da jedoch bereits Leistungen ohne Anrechnung dieses Guthabens erbracht worden seien, errechne sich eine Überzahlung. Mit weiterem Bescheid vom 8. April 2021 machte das Jobcenter eine Erstattungsforderung von insgesamt 331,82 Euro geltend.
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2. a) Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht die Bewilligung von Beratungshilfe. Er zweifelte an der Richtigkeit der Bescheide und wollte für die Gestaltung des Widerspruchs anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen. Er nannte der Rechtspflegerin einige Punkte, aufgrund derer die Bescheide nicht richtig sein könnten; unter anderem die Verrechnung des Betriebskostenguthabens, das für einen Zeitraum von sechs Monaten auf die staatlichen Leistungen angerechnet worden war.
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b) Die Rechtspflegerin des Amtsgerichts wies den Antrag mit Beschluss vom 14. April 2021 wegen Mutwilligkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Beratungshilfegesetz zurück. Die Berechnung der Leistungen beziehungsweise der Erstattungsbeträge seien einfach gelagerte Sachverhalte. Ein eventueller Widerspruch sei ohne anwaltliche Hilfe zu fertigen. Dem Beschwerdeführer gehe es um die pauschale Überprüfung von Behördenbescheiden auf ihre Richtigkeit. Es lägen keine Anzeichen für eine konkrete Rechtsbeeinträchtigung vor.
5
c) Der Beschwerdeführer legte Erinnerung ein. Die Anrechnung der Betriebskosten und die Errechnung des Erstattungsbetrags seien komplexe Sachverhalte. Die Rechtspflegerin des Amtsgerichts half der Erinnerung mit Beschluss vom 19. April 2021 nicht ab. Die Erinnerung wurde mit richterlichem Beschluss vom 21. April 2021 abgewiesen. Die vom Beschwerdeführer verfolgte Rechtsverfolgung sei mutwillig. Der Beschwerdeführer wünsche Beratungshilfe, um Leistungsbescheide des Jobcenters (…) pauschal auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen. Er sei der Ansicht, dass es in den Bescheiden zu Fehlern gekommen sei, könne aber nicht konkret darlegen, um welche Fehler es sich handele. Auch habe er nicht vorgetragen, dass er sich selbst schriftlich oder durch Vorsprache beim Jobcenter um eine Aufklärung des Sachverhalts bemüht habe.
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d) Die von dem Beschwerdeführer erhobene Anhörungsrüge wurde mit Beschluss vom 5. Mai 2021 abgewiesen.
7
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG).
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4. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
II.
9
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits geklärt (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
10
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Beschlüsse des Amtsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG).
11
a) Das Grundgesetz verbürgt in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich, somit auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz (vgl. BVerfGE 122, 39 <48 ff.>). Dabei brauchen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>; 122, 39 <51>). Kostenbewusste Rechtsuchende werden dabei insbesondere prüfen, inwieweit sie fremde Hilfe zur effektiven Ausübung ihrer Verfahrensrechte brauchen oder selbst dazu in der Lage sind. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden. Ob diese zur Beratung notwendig ist oder Rechtsuchende zumutbar auf Selbsthilfe verwiesen werden können, hat das Fachgericht unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls abzuwägen. Insbesondere kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und ob Rechtsuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen. Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. Oktober 2015 – 1 BvR 1962/11 -, Rn. 9 m.w.N.; stRspr).
12
b) Danach verstoßen die angegriffenen Beschlüsse gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG. Indem das Amtsgericht das Beratungshilfebegehren des Beschwerdeführers nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Beratungshilfegesetz als mutwillig erachtet hat, hat es Bedeutung und Reichweite der Rechtswahrnehmungsgleichheit verkannt.
13
aa) Der Beschwerdeführer hatte keine besonderen Rechtskenntnisse, und der zugrunde liegende Sachverhalt warf schwierige Tatsachen- und Rechtsfragen auf. Das gilt jedenfalls für die vom Beschwerdeführer angezweifelte Anrechnung von Betriebskostenguthaben auf den Leistungsanspruch des Leistungsempfängers nach § 22 Abs. 3 SGB II und dessen Aufteilung auf einen Zeitraum von sechs Monaten. Ungeachtet des Umstands, dass die vom Jobcenter vorgenommene Aufteilung des Betriebskostenguthabens auf einen Zeitraum von sechs Monaten als einmalige Einnahme nach § 11 Abs. 3 Satz 4 SGB II tatsächlich nicht in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 – B 4 AS 8/20 R -), ist diese vor der höchstrichterlichen Klärung umstrittene Frage jedenfalls offenkundig nicht einfach gelagert.
14
bb) Zur Klärung dieser Frage durfte der Beschwerdeführer nicht an das Jobcenter verwiesen werden, weil dieses den angegriffenen Bescheid selbst erlassen hatte (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. September 2010 – 1 BvR 623/10 -, Rn. 13; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. Oktober 2015 – 1 BvR 1962/11 -, Rn. 9 m.w.N.).
15
cc) Die Einschätzung des Amtsgerichts, die vom Beschwerdeführer verfolgte Rechtsverfolgung sei mutwillig, weil er Beratungshilfe wünsche, um Leistungsbescheide des Jobcenters (…) pauschal auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen, ohne aber selbst konkrete Fehler darzulegen, ist nicht nachvollziehbar. Der Beschwerdeführer hatte nicht pauschal die Überprüfung eines Leistungsbescheids begehrt, sondern bereits konkret aufgezeigt, auf welche Punkte sich seine Zweifel an der Richtigkeit der Bescheide bezogen. Insbesondere hat er die Richtigkeit der ‒ mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung tatsächlich nicht vereinbaren ‒ Anrechnung eines Betriebskostenguthabens über sechs Monate hinweg angezweifelt. Nähere Erläuterungen zu der nicht einfach gelagerten Frage, ob diese Aufteilung zulässig ist oder nicht, konnten von ihm bei der Beantragung von Beratungshilfe schlechterdings nicht erwartet werden.
16
c) Die Entscheidung des Amtsgerichts beruht auf der unzureichenden Beachtung der sich aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG ergebenden Anforderungen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass das Amtsgericht bei einer verfassungsrechtlich gebotenen Befassung mit dem Begehren des Beschwerdeführers zu einem für diesen günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
17
2. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
18
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
19
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.