BGH 5. Zivilsenat, Urteil vom 26.11.2021, AZ V ZR 273/20, ECLI:DE:BGH:2021:261121UVZR273.20.0
§ 9 Abs 1 S 1 GBBerG, § 9 Abs 3 GBBerG, § 9 Abs 9 S 1 GBBerG, § 1 S 1 SachenR-DV
Leitsatz
1. Zum öffentlichen Leitungsnetz gehörende Abwasserleitungen dienen der Fortleitung von Abwasser im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG; das gilt unabhängig davon, ob die Leitungen Durchleitungsfunktion haben oder nur das Grundstück entsorgen, in dem sie liegen.
2. Die Nichtnutzung einer von § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG erfassten Leitung am maßgeblichen Stichtag hindert das Entstehen einer Dienstbarkeit nicht, wenn das Versorgungsunternehmen zu diesem Zeitpunkt Betreiber der Anlage im Sinne der Vorschrift ist.
Verfahrensgang
vorgehend Brandenburgisches Oberlandesgericht, 19. November 2020, Az: 5 U 111/19
vorgehend LG Potsdam, 19. Juli 2019, Az: 1 O 150/10
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Brandenburgischen Oberlandesgerichts – 5. Zivilsenat – vom 19. November 2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zu ihrem Nachteil erkannt worden ist.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam vom 19. Juli 2019 wird auch insoweit zurückgewiesen.
Die Kosten der Rechtsmittelverfahren trägt der Beklagte.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Klägerin ist eine Wohnungsbaugesellschaft und als solche Eigentümerin mehrerer Grundstücke in T. (Brandenburg), die zu DDR-Zeiten mit Wohnhäusern in Plattenbauweise bebaut worden sind. Auf den Grundstücken befinden sich – vor dem 3. Oktober 1990 errichtete – Anlagen und Leitungen der Abwasserbeseitigung. Diese dienen teilweise allein der Abwasserentsorgung des Grundstücks, auf dem sie sich befinden (im Folgenden: Hausanschlussleitungen); in anderen Fällen wird auch das Abwasser von benachbarten – ebenfalls im Eigentum der Klägerin stehenden – Grundstücken durchgeleitet (z.B. als Ringleitung; im Folgenden: Sammelleitung). Der im September 1992 gegründete beklagte Wasser- und Abwasserzweckverband betreibt seit 1994 die Abwasserentsorgung in T. . Er erhielt das Leitungsnetz übertragen, wie es in der DDR betrieben worden war.
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Die Klägerin verlangt von dem Beklagten eine Entschädigung nach § 9 Abs. 3 GBBerG für die nach ihrer Auffassung auf ihren Grundstücken kraft Gesetzes begründeten Leitungsrechte. Das Landgericht hat der Klage unter Berücksichtigung von Teilzahlungen in Höhe von 442.955 € nebst Zinsen stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht die Verurteilung lediglich in Höhe von 150.207,33 € nebst Zinsen aufrechterhalten und die weitergehende Klage abgewiesen. Mit der von dem Oberlandesgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Beklagte beantragt, erstrebt die Klägerin die vollständige Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht hält den geltend gemachten Anspruch für nur teilweise begründet. Eine Dienstbarkeit nach § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG sei lediglich für Leitungen entstanden, die Durchleitungsfunktion hätten, also an einer Stelle in das Grundstück hinein- und an anderer Stelle aus dem Grundstück hinausführten. Das folge daraus, dass der Gesetzgeber in § 9 Abs. 1 GBBerG nicht den Begriff der „Zu- und Fortleitung“ verwendet habe, sondern nur den der „Fortleitung“; dies sei auch für wasserwirtschaftliche Anlagen im Sinne von § 9 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 GBBerG maßgeblich. Demgemäß seien Hausanschlussleitungen von § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG nicht erfasst. Die Vorschrift finde ferner keine Anwendung, wenn das von der Leitung geschnittene Grundstück lediglich dem Hausanschluss eines angrenzenden Grundstücks diene und beide Grundstücke derselben Person gehörten. Die kraft Gesetzes entstehende Dienstbarkeit solle Energiefortleitungsanlagen sichern, die dem öffentlichen Interesse dienten, nicht aber einem Anschlussnehmer ein Entgelt dafür gewähren, dass sein Grundstück über ein ebenfalls ihm gehörendes angrenzendes Grundstück an die öffentliche Abwasserversorgung angeschlossen werde. Die Klage sei daher unbegründet, soweit eine Entschädigung für solche, nur dem Anschluss eigener Grundstücke dienenden Leitungen verlangt werde.
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Unbegründet sei die Klage auch hinsichtlich der über das Flurstück 201 der Flur 20 verlaufenden Leitung. Die Klägerin habe keinen Beweis dafür angetreten, dass die Leitung bei Inkrafttreten der Verordnung zur Durchführung des Grundbuchbereinigungsgesetzes und anderer Vorschriften auf dem Gebiet des Sachenrechts vom 20. Dezember 1994 (Sachenrechts-Durchführungsverordnung – SachenR-DV; BGBl. I S. 3900) am 11. Januar 1995 von dem Beklagten genutzt worden sei.
II.
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Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
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1. Zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, dass die Klägerin von dem Beklagten gemäß § 9 Abs. 3 GBBerG i.V.m. § 1 SachenR-DV eine Entschädigung für die auf ihren Grundstücken durch § 9 Abs. 1 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 GBBerG, § 1 SachenR-DV kraft Gesetzes zu seinen Gunsten begründeten beschränkten persönlichen Dienstbarkeiten verlangen kann. Nicht zu beanstanden ist ferner die Annahme, dass die Klägerin für diesen Anspruch aktivlegitimiert ist, weil sie bereits im Zeitpunkt der Begründung der Dienstbarkeiten mit Inkrafttreten der Sachenrechts-Durchführungsverordnung am 11. Januar 1995 Eigentümerin der betroffenen Grundstücke war (vgl. Senat, Urteil vom 7. November 2014 – V ZR 250/13, NJW-RR 2015, 146 Rn. 11 ff.). Richtig ist zudem, dass das Entstehen einer beschränkten persönlichen Dienstbarkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 GBBerG i.V.m. § 1 SachenR-DV voraussetzt, dass es sich bei den Leitungen am 3. Oktober 1990 um Anlagen der öffentlichen Abwasserbeseitigung gehandelt hat, die von dem Beklagten am 11. Januar 1995 betrieben worden sind.
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2. Unzutreffend ist aber die Annahme des Berufungsgerichts, Dienstbarkeiten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG könnten nur für Abwasserleitungen mit Durchleitungsfunktion entstanden sein.
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a) Zwar muss, wovon auch das Berufungsgericht ausgeht, eine Anlage zur „Fortleitung“ von Abwasser vorliegen. Das folgt aus der Sachenrechts-Durchführungsverordnung, durch die der Verordnungsgeber von der in § 9 Abs. 9 Satz 1 GBBerG vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, die Regelungen des § 9 Abs. 1 bis 7 GBBerG auf wasserwirtschaftliche Anlagen zu erstrecken. Demgemäß gilt die in § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG enthaltene Definition für Energieanlagen („Anlagen zur Fortleitung von Elektrizität, Gas und Fernwärme, einschließlich aller dazugehöriger Anlagen, die der Fortleitung unmittelbar dienen“) für wasserwirtschaftliche Anlagen entsprechend.
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b) Anders als das Berufungsgericht meint, dienen zum öffentlichen Leitungsnetz gehörende Abwasserleitungen zur Fortleitung von Abwasser im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG; das gilt unabhängig davon, ob die Leitungen Durchleitungsfunktion haben oder nur das Grundstück entsorgen, in dem sie liegen. Gleiches gilt für die sog. Sammelleitungen.
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aa) Der Begriff der Fortleitung ist weit zu verstehen. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch wird das Präfix „fort-“ oder „Fort-“ unter anderem im Sinne von „die Richtung von etwas weg“ oder „die Beförderung, Entfernung eines Gegenstandes von einem Ort“ verstanden (vgl. Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Sechster Band, 1981, Stichwort „fort“) und diesem ein räumliches Verständnis beigemessen. Daran anknüpfend meint „fortleiten“ allgemein das Fließenlassen von Elektrizität, Gas, Fernwärme, Wasser und Abwasser (vgl. Böhringer in Eickmann, Sachenrechtsbereinigung [Juni 2008], § 9 GBBerG Rn. 10a). Auch im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 1092 Abs. 3 BGB, die 1996 nach dem Vorbild des § 9 GBBerG geschaffen worden ist (vgl. BT-Drucks. 13/3604 S. 7), und ebenfalls den Begriff „Fortleiten“ enthält, wird davon ausgegangen, dass damit alle Anlagen gemeint sind, die dem Transport der genannten Medien dienen (OLG München, NJOZ 2013, 923, 924; OLG Hamm, Urteil vom 11. September 2017 – 5 U 61/15, juris Rn. 82 f.; MüKoBGB/Mohr, 8. Aufl., § 1092 Rn. 16; Staudinger/Reymann, BGB [2017], § 1092 Rn. 28). Dieses weite Verständnis des Begriffes der Fortleitung wird zudem in § 4 Abs. 1 Satz 2 SachenR-DV vorausgesetzt. Nach der amtlichen Begründung der Verordnung sollten mit dem Begriff der „Fortleitung“ alle Anlagen von dem Beginn bis zu dem Ende der Leitung, ausgenommen Wasserwerke und Abwasserbehandlungsanlagen, umfasst sein (BR-Drucks. 916/94 S. 18; so auch VG Cottbus, Urteil vom 14. August 2008 – 4 K 123/05, juris Rn. 30).
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bb) Ein engeres Begriffsverständnis lässt sich nicht darauf stützen, dass die bei Inkrafttreten des Grundbuchbereinigungsgesetzes gültigen Allgemeinen Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden vom 21. Juni 1979 (BGBl I S. 684), für die Gasversorgung von Tarifkunden vom 21. Juni 1979 (BGBl I S. 676) und für die Versorgung mit Fernwärme vom 20. Juni 1980 (BGBl I S. 742) (im Folgenden: AVB) jeweils in § 8 Abs. 1 Satz 1 das Recht zur Grundstücksbenutzung für Leitungen zur „Zu- und Fortleitung“ vorsahen und noch heute vorsehen (vgl. auch § 8 der Allgemeinen Bedingungen für die Versorgung mit Wasser vom 20. Juni 1980 [BGBl I S. 750, 1067]).
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Unabhängig von der Frage, welche konkrete Bedeutung der Begriff der „Fortleitung“ in den AVB hat, ergibt sich aus den Gesetzgebungsmaterialien nicht, dass der Gesetzgeber bei der sprachlichen Fassung des § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG die Formulierung „Zu- und Fortleitung“ aus den AVB im Blick hatte und durch die Verwendung allein des Begriffs der „Fortleitung“ Grunddienstbarkeiten nur für Leitungen mit Durchleitungsfunktion, also nur für einen Teil der von dem jeweiligen § 8 Abs. 1 AVB umfassten Leitungen entstehen lassen wollte. Die AVB waren für den Gesetzgeber zwar von Bedeutung, soweit sie Leitungsrechte für die Energieversorgung absicherten und damit eine (weitere) Absicherung mittels einer kraft Gesetzes entstehende Dienstbarkeit entbehrlich machten. Aus diesem Grund nimmt § 9 Abs. 2 GBBerG die durch die AVB gesicherten Leitungsrechte aus dem Anwendungsbereich des Satz 1 aus (vgl. BT-Drucks. 12/6228 S. 76 sowie Senat, Urteil vom 24. Februar 2006 – V ZR 145/05, NJW-RR 2006, 917, 918). Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass Hausanschlussleitungen oder Sammelleitungen generell nicht von § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG erfasst sein sollen. Einer solche Annahme steht auch die Systematik der Absätze 1 und 2 der Regelung entgegen. Nicht der Absatz 2 bestimmt den Inhalt des Absatzes 1, vielmehr wird der Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 GBBerG durch § 9 Abs. 2 GBBerG eingeschränkt.
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c) Anders als das Berufungsgericht meint, lässt sich den Gesetzesmaterialien auch im Übrigen nicht entnehmen, dass nur der Durchleitung dienende Leitungen dinglich gesichert werden sollten. Die Formulierungen, Grund für die Einführung der Regelung sei die Schwierigkeit, „das konkret überspannte, unterquerte oder sonst benutzte Grundstück festzustellen“ (BT-Drucks. 12/6228 S. 74), bzw. nur die „überspannten und überquerten oder sonst in Anspruch genommenen Grundstücke“ sollten belastet sein (BT-Drucks. 12/6228 S. 75), lassen einen derartigen Schluss schon deswegen nicht zu, weil in beiden Fällen zugleich die sonstige Nutzung bzw. Inanspruchnahme erwähnt wird. Dass bei der Begründung der Entschädigungshöhe als Beispiele lediglich Leitungsverläufe erwähnt werden, die das Grundstück schneiden (BT-Drucks. 12/6228 S. 76), rechtfertigt ebenfalls nicht die Schlussfolgerung, bei anderem Leitungsverlauf sei keine Dienstbarkeitsentstehung bzw. Entschädigung vorgesehen.
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d) Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 9 Abs. 1 GBBerG und damit der Entschädigungspflicht gemäß § 9 Abs. 3 GBBerG lässt sich auch nicht aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschriften ableiten. Zwar ist der Einwand des Berufungsgerichts nachvollziehbar, es sei nicht unmittelbar einleuchtend, dass der Grundstückseigentümer eine Entschädigung für eine Leitung erhalten solle, die allein in seinem Interesse in seinem Grundstück liege und nur der Entwässerung seiner Grundstücke diene. Diese Folge steht aber mit dem Sinn und Zweck der in § 9 Abs. 1 bis 3 GBBerG getroffenen Regelung in Einklang.
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aa) § 9 Abs. 1 GBBerG bezweckt die Überleitung der in der DDR entstandenen Rechte an Anlagen der öffentlichen Energieversorgung sowie gemäß § 9 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 GBBerG der öffentlichen Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung (BT-Drucks. 12/6228 S. 74 f.; Schmidt-Räntsch, RdE 1994, 214). Ziel der Vorschrift des § 9 Abs. 1 GBBerG war eine sachgerechte Absicherung der Leitungsrechte an diesen Anlagen (BT-Drucks. 12/6228 S. 75; Senat, Urteil vom 28. November 2003 – V ZR 129/03, BGHZ 157, 144, 147; Urteil vom 24. Februar 2006 – V ZR 145/05, NJW-RR 2006, 917, 918). Bedarf für die Entstehung der Dienstbarkeiten kraft Gesetzes sah der Gesetzgeber, weil die im Einigungsvertrag vorgesehene Ablösung von Mitbenutzungsrechten durch vertraglich neu begründete Dienstbarkeiten an praktischen Schwierigkeiten zu scheitern drohte (BT-Drucks. 12/6228 S. 74, 76; Senat, Urteil vom 28. November 2003 – V ZR 129/03, BGHZ 157, 144, 146; Urteil vom 24. Februar 2006 – V ZR 145/05, NJW-RR 2006, 917, 918; Schmidt-Räntsch, RdE 1994, 214; dies., VIZ 2004, 473, 474). Die Einführung dieser Regelung sollte neben der dauerhaften Absicherung der Anlagen auch der Bereinigung der Rechtsverhältnisse dienen und eine normenklare Regelung schaffen (Schmidt-Räntsch, VIZ 2004, 473, 474, 475), wobei die Regelung darauf ausgerichtet ist, die Rechtslage in den neuen Ländern grundsätzlich so zu gestalten, wie dies in den alten Ländern der Fall war (BT-Drucks. 12/6228 S. 76); auf das tatsächliche Bestehen von Mitbenutzungsrechten nach dem Recht der DDR kam es in diesem Zusammenhang nicht an (BT-Drucks. 12/6228 S. 75; Senat, Urteil vom 28. November 2003 – V ZR 129/03, BGHZ 157, 144, 146; Schmidt-Räntsch, VIZ 2004, 473, 474).
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bb) Dieses Ziel einer dauerhaften Absicherung bestehender Anlagen der öffentlichen Energie- und Wasserversorgung sowie der Abwasserentsorgung und der Bereinigung der Rechtsverhältnisse würde nicht erreicht, wenn bei der Entstehung von Dienstbarkeit und Entschädigungspflicht danach differenziert werden müsste, ob die jeweilige Leitung dem Eigentümer des Grundstücks dient, in dem sie verläuft. Es steht schon nicht ein für allemal fest, ob ein bestimmter Teil des öffentlichen Leitungsnetzes nur einem einzelnen Eigentümer dient. So kann das unmittelbar versorgte Grundstück parzelliert oder das mitversorgte Hinterliegergrundstück an einen Dritten veräußert werden; auch kann das Versorgungsunternehmen Anlass haben, weitere Anlieger an das Teilstück anzuschließen. Darüber hinaus wäre eine solche Differenzierung unpraktikabel, weil sich nur anhand von Verlegeplänen beurteilen ließe, an welchen Leitungen eine Dienstbarkeit nach § 9 Abs. 1 GBBerG besteht. Vor allem aber widerspräche eine solche Sichtweise der Absicht des Gesetzgebers, „eine unmittelbar greifende Vollregelung“ (BT-Drucks. 12/6228 S. 74) zu schaffen, also eine lückenlose Absicherung der öffentlichen Leitungsnetze.
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cc) Dieses Regelungsziel des Gesetzgebers hat allerdings zur Folge, dass ein Grundstückseigentümer, auf dessen Grundstück eine allein ihm dienende Hausanschluss- oder Sammelleitung liegt, eine Entschädigung dafür bekommt, dass sein Grundbesitz an die Abwasserversorgung angeschlossen ist. Dies ist jedoch im Interesse der angestrebten umfassenden Absicherung des öffentlichen Leitungsnetzes hinzunehmen. Nähme man Hausanschluss- und Sammelleitungen aus dem Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 GBBerG aus, bestünde – weil es für Abwasserleitungen keine AVB gibt (vgl. BGH, Urteil vom 2. April 1998 – III ZR 251/96, BGHZ 138, 281, 283) – keine Pflicht des Eigentümers, diesen Teil der öffentlichen Anlage auf seinem Grundstück zu dulden. Bei Sammelleitungen träte hinzu, dass die Ausnahme nicht mehr gerechtfertigt wäre, wenn die von der Leitung (mit-)versorgten Grundstücke nicht mehr demselben Eigentümer gehörten; von den jeweiligen Eigentumsverhältnissen kann das Entstehen einer Dienstbarkeit kraft Gesetzes aber nicht abhängen.
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e) Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Satzung des Beklagten nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine Pflicht des Grundstückeigentümers zur Duldung von Anlagen und Leitungen enthält und dass landesrechtliche Notleitungsrechte bestehen könnten. Denn der Verweis auf die bundeseinheitlich geltenden Versorgungsverordnungen in § 9 Abs. 2 GBBerG zeigt, dass es dem Gesetzgeber um die Schaffung einheitlicher Verhältnisse in den neuen Ländern ging und dass Regelungen, die keine bundeseinheitliche Geltung haben, Ausnahmen nicht begründen sollten (vgl. Schmidt-Räntsch, VIZ 2004, 473, 475).
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f) In dem vorbeschriebenen Ergebnis liegt auch keine übermäßige Belastung des Beklagten, da es ihm nach § 9 Abs. 6 GBBerG freigestanden hätte, rechtzeitig auf die Dienstbarkeiten für Hausanschluss- und Sammelleitungen zu verzichten; hierdurch wäre er nach § 9 Abs. 3 Satz 4 GBBerG von der Zahlungspflicht befreit worden.
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3. Keinen Bestand kann das angefochtene Urteil auch insoweit haben, als ein Anspruch der Klägerin aus § 9 Abs. 3 GBBerG bezüglich der durch das Flurstück 201 der Flur 20 verlaufenden Leitung mit der Begründung verneint worden ist, es stehe nicht fest, dass der Beklagte diese Leitung zum Stichtagszeitpunkt (11. Januar 1995) genutzt habe.
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Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG wird eine beschränkte persönliche Dienstbarkeit „zugunsten des Versorgungsunternehmens“ begründet, das „die jeweilige Anlage bei Inkrafttreten dieser Vorschrift betreibt“. In § 1 Satz 3 SachenR-DV wird der Begriff des Betreibers nochmals im Rahmen der Regelung für wasserwirtschaftliche Anlagen aufgegriffen. Das Berufungsgericht sieht den Vortrag des Beklagten, die in dem Flurstück verlegte Leitung sei durch Betonverschlüsse vom Netz getrennt und von ihm seit seiner Gründung im Jahre 1992 zu keinem Zeitpunkt genutzt worden, als erheblich an. Damit hat es das Betreiben im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG und § 1 Satz 3 SachenR-DV mit der tatsächlichen Nutzung der Leitung gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung ist indes unzutreffend.
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Mit dem weiten Begriff des Betreibers (vgl. BR-Drucks. 916/94 S. 16 f.) wird gemeinhin derjenige bezeichnet, der die Anlage in eigenem Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung führt, wobei es maßgeblich darauf ankommt, wer unter Berücksichtigung sämtlicher konkreter, rechtlicher, wirtschaftlicher und tatsächlicher Gegebenheiten bestimmenden Einfluss auf die Einrichtung, Beschaffenheit und den Betrieb der Anlage ausübt (vgl. zum Immissionsrecht BVerwG, NVwZ-RR 2019, 260, 263 Rn. 30; Jarass, BImSchG, 13. Aufl., § 3 Rn. 87). Betreiber ist also derjenige, der über die Benutzung der Anlage bestimmt; ob er sie tatsächlich nutzt, ist unerheblich.
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Folglich hindert die Nichtnutzung einer von § 9 Abs. 1 Satz 1 GBBerG erfassten Leitung am maßgeblichen Stichtag das Entstehen einer Dienstbarkeit nicht (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 28. November 2003 – V ZR 129/03, WM 2004, 1597, 1600, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 157, 144), wenn das Versorgungsunternehmen zu diesem Zeitpunkt Betreiber der Anlage im Sinne der Vorschrift ist. Das war hier der Fall, denn der Beklagte hat nicht behauptet, zum Stichtag 11. Januar 1995 keinen Einfluss auf die (erneute) Nutzung der Leitung gehabt zu haben. Dass die Leitung verschlossen war und tatsächlich nicht genutzt wurde, ändert nichts daran, dass eine Dienstbarkeit entstanden ist. Hätte der Beklagte dies verhindern wollen, hätte er nach § 9 Abs. 6 GBBerG auf die Dienstbarkeit verzichten müssen.
III.
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Das Berufungsurteil kann damit keinen Bestand haben, soweit darin die Klage abgewiesen worden ist; in diesem Umfang ist es aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da es keiner weiteren Feststellungen bedarf, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts ist insgesamt zurückzuweisen.
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1. Die Klägerin hat gegen den Beklagten aus § 9 Abs. 3 Satz 1 GBBerG i.V.m. § 9 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 GBBerG i.V.m. § 1 Satz 1 SachenR-DV einen Anspruch auf Ausgleich in Geld auch bezüglich der Leitungen, für die das Berufungsgericht abweichend von der Entscheidung des Landgerichts einen Anspruch verneint hat.
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a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts steht zwischen den Parteien nicht im Streit, dass es sich bei diesen Leitungen am 3. Oktober 1990 um Anlagen der öffentlichen Abwasserbeseitigung im Sinne von § 9 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 GBBerG handelte, die der Beklagte am Stichtag des 11. Januar 1995 im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 GBBerG i.V.m. § 1 SachenR-DV betrieben hat. Dies gilt auch bezüglich der Leitung im Flurstück 201 der Flur 20.
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b) Ebenfalls steht zwischen den Parteien nicht im Streit, dass die Höhe der Wertminderung, die die Grundstücke durch die Leitungen erfahren und aufgrund derer der Ausgleichsbetrag nach § 9 Abs. 3 Satz 2 GBBerG zu bestimmen ist (Senat, Urteil vom 9. Mai 2014 – V ZR 176/13, NJW 2014, 2959), den von dem Landgericht angenommenen Werten entspricht und damit auf insgesamt 608.171,56 € zu bemessen ist.
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2. Der zuerkannte Zinsanspruch ergibt sich aus § 288 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB aF, § 286 Abs. 1 Satz 1 BGB.
IV.
29
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
- Stresemann
- Brückner
- Göbel
- Haberkamp
- Laube