Beschluss des BVerwG 9. Senat vom 22.09.2021, AZ 9 B 9/21

BVerwG 9. Senat, Beschluss vom 22.09.2021, AZ 9 B 9/21, ECLI:DE:BVerwG:2021:220921B9B9.21.0

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 17. Dezember 2020, Az: 14 A 2653/18, Urteil
vorgehend VG Düsseldorf, 17. Mai 2018, Az: 28 K 6065/17

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 2020 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

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Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und des Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

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1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

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Grundsätzlich bedeutsam im Sinne dieser Vorschrift ist eine Rechtssache nur, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Den Darlegungen der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

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Die Fragen,

ob § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG einer unionsrechtlichen Auslegung zugänglich ist,

und ob es im Verwaltungsverfahren auf Erteilung der Bescheinigung gemäß § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG Sache der zuständigen Landesbehörde unter der Kontrolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist, die steuerlichen Begriffe der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie beziehungsweise des Umsatzsteuergesetzes auszulegen,

sind nicht klärungsbedürftig. Sie lassen sich mit Hilfe der herkömmlichen Auslegungsmethoden beantworten; hierfür bedarf es nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits klargestellt, dass das unionsrechtliche Effektivitätsprinzip eine Auslegung des § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG unter Berücksichtigung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347 S. 1; im Folgenden: MwSt-RL) gebietet. Nach diesem Prinzip sind nationale Rechtsvorschriften so weit wie möglich dahin auszulegen, dass sie die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteile vom 2. Oktober 2003 – C-147/01 [ECLI:EU:C:2003:533], Weber’s Wine World – Rn. 103, 117 und vom 13. März 2007 – C-432/05 [ECLI:EU:C:2007:163], Unibet – Rn. 43 f.). Bei der Bescheinigung nach § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG handelt es sich um einen für die Finanzverwaltung verbindlichen Grundlagenbescheid, der Voraussetzung für die Umsatzsteuerbefreiung nach dieser Regelung ist. Daher sind die Bescheinigungsvoraussetzungen im Interesse einer wirksamen Anwendung des Unionsrechts bis hin zur Wortlautgrenze so auszulegen, dass hinsichtlich aller Leistungen privater Einrichtungen, für die nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. i MwSt-RL ein Anspruch auf Befreiung von der Umsatzsteuer in Betracht kommt, eine Bescheinigung erteilt werden kann. Die Frage, ob die Leistungen der privaten Einrichtung, auf die sich die Bescheinigung bezieht, letztlich nach Unionsrecht von der Umsatzsteuer zu befreien sind, unterliegt dabei der eigenständigen Prüfung der Finanzverwaltung und der Finanzgerichte. Sie braucht daher im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht abschließend beantwortet zu werden (BVerwG, Urteil vom 27. April 2017 – 9 C 5.16 – BVerwGE 158, 387 Rn. 19 f. m.w.N.).

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Auch das Oberverwaltungsgericht ist in seiner Entscheidung von den vorgenannten Grundsätzen ausgegangen und hat sich ausführlich mit der Auslegung des § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG im Lichte des Art. 132 Abs. 1 Buchst. i MwSt-RL befasst (UA S. 12 ff.). Weiteren fallübergreifenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde nicht auf. Ob – wie der Kläger meint – das Unionsrecht zu einer erweiterten Auslegung des Umsatzsteuergesetzes zwingt, weil nach der Mehrwertsteuersystemrichtlinie eine Steuerbefreiung in Betracht kommt, ist vielmehr eine Frage des Einzelfalls.

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Auch die Frage,

ob und unter welchen Voraussetzungen für außerschulische Bildungsangebote, die in der Natur der Sache liegend regelmäßig spezieller Natur sind, überhaupt noch Bescheinigungen gemäß § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG erteilt werden dürfen,

rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung. Soweit sie einer fallübergreifenden Klärung zugänglich ist, lässt sie sich vielmehr anhand der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ohne Weiteres beantworten.

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Danach verweist der bei der Auslegung von § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG zu berücksichtigende Art. 132 Abs. 1 Buchst. i MwSt-RL mit der Schul- und Hochschulbildung, für die er eine Umsatzsteuerbefreiung vorsieht, allgemein auf ein integriertes System der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten in Bezug auf ein breites und vielfältiges Spektrum von Stoffen sowie auf die Vertiefung und Entwicklung dieser Kenntnisse und Fähigkeiten durch die Schüler und Studenten je nach ihrem Fortschritt und ihrer Spezialisierung auf den verschiedenen dieses System bildenden Stufen (EuGH, Urteil vom 14. März 2019 – C-449/17 [ECLI:EU:C:2019:202], A & G Fahrschul-Akademie – Rn. 26, Beschluss vom 7. Oktober 2019 – C-47/19 [ECLI:EU:C:2019:840], Finanzamt Hamburg-Barmbek-Uhlenhorst – Rn. 30). Nicht erfasst wird demgegenüber ein spezialisierter und punktuell erteilter Unterricht, der für sich allein nicht der für den Schul- und Hochschulunterricht kennzeichnenden Vermittlung, Vertiefung und Entwicklung von Kenntnissen und Fähigkeiten in Bezug auf ein breites und vielfältiges Spektrum von Stoffen gleichkommt (EuGH, Urteil vom 14. März 2019 – C-449/17, A & G Fahrschul-Akademie – Rn. 29, Beschluss vom 7. Oktober 2019 – C-47/19, Finanzamt Hamburg-Barmbek-Uhlenhorst – Rn. 33). Da die Steuerbefreiungen in Art. 132 MwSt-RL nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union autonome unionsrechtliche Begriffe darstellen, die eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung der Mehrwertsteuerregelung verhindern sollen (stRspr, vgl. etwa EuGH, Beschluss vom 7. Oktober 2019 – C-47/19, Finanzamt Hamburg-Barmbek-Uhlenhorst – Rn. 22), kommt auch die Erteilung einer Bescheinigung nach § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG für einen solchen spezialisierten und punktuell erteilten Unterricht, der nicht auf einen Beruf oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung vorbereitet, nicht in Betracht.

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Ob das Kursangebot des Klägers „Wing Tsun Kids“ unter die Regelung des § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG fällt, ist demgegenüber eine Frage des Einzelfalls, die die sich anhand der genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ohne Weiteres beantworten lässt, ohne dass es eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf. Dementsprechend hat das Oberverwaltungsgericht sie mit der Begründung verneint, dass das Angebot – auch unter der gebotenen europarechtskonformen, weiten Auslegung – nicht auf eine Prüfung oder einen Beruf vorbereite. Dem Unterricht fehle die den Schul- und Hochschulunterricht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausmachende Vermittlung, Vertiefung und Entwicklung von Kenntnissen und Fähigkeiten in Bezug auf ein breites und vielfältiges Spektrum, weil er auf diesen einen Kampfsport spezialisiert sei und auch nur insoweit – punktuell – gegeben werde, ohne in ein breiteres Lehrprogramm integriert zu sein. Anders zu bewerten sei die von dem Beklagten bereits bescheinigte Bildungsmaßnahme „Wing Tsun Fachtrainerausbildung bzw. -fortbildung“, die spezifisch die berufliche Ausbildung der Teilnehmer zum Gegenstand habe. Ausdrücklich offen lässt das Gericht, ob die umsatzsteuerrechtliche Bescheinigung nicht ohnehin schon deshalb ausscheidet, weil es sich um eine reine Freizeitgestaltung handelt (so BFH, Urteil vom 28. Mai 2013 – XI R 35/11 – juris Rn. 47 zu „Wing Tsun als Kampfsport für Kinder“). Nicht entschieden hat es auch die Frage, ob der enge Begriff des Schul- und Hochschulunterrichts dann erweitert werden müsse, wenn es um das Erlernen einer elementaren Grundfähigkeit gehe, an dem ein ausgeprägtes Allgemeininteresse bestehe (so BFH, Vorlagebeschluss vom 27. März 2019 – V R 32/18 – juris Rn. 17 zum Schwimmunterricht), da das Erlernen einer chinesischen Selbstverteidigungstechnik jedenfalls keine solche elementar wichtige Grundfähigkeit darstelle.

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Mit dieser Argumentation setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.

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2. Ein Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt nicht darin, dass das Oberverwaltungsgericht nicht berücksichtigt oder darüber Beweis erhoben hat, dass Landesbehörden in anderen Ländern Bescheinigungen nach § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG auch für Kursangebote für Kinder im Vorschulalter erteilen. Nach der für die Beurteilung eines Verfahrensfehlers maßgeblichen Rechtsauffassung des Gerichts kam es auf die Erteilung von Bescheinigungen in anderen Bundesländern nicht an. Dies hat das Gericht ausdrücklich unter Hinweis auf den Grundsatz „kein Anspruch auf eine sog. Gleichbehandlung im Unrecht“ klargestellt (UA S. 20).

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.