Anforderungen an erfolgreiche Besetzungsrüge (Beschluss des BVerwG 1. Senat)

BVerwG 1. Senat, Beschluss vom 06.09.2021, AZ 1 B 39/21, ECLI:DE:BVerwG:2021:060921B1B39.21.0

Art 101 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 125 Abs 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 1 VwGO

Leitsatz

Ein Beteiligter kann die Rüge, das erkennende Gericht sei mangels seines (wirksamen) Einverständnisses in eine Entscheidung durch die Berichterstatterin (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 87a Abs. 2 und 3 VwGO) nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, jedenfalls dann nicht mehr erheben, wenn er auch in der mündlichen Verhandlung anwaltlich vertreten war und sich rügelos auf die mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin eingelassen hat (§ 173 VwGO i.V.m. § 295 Abs. 1 ZPO), die objektiv rechtsirrig, aber für den Beteiligten erkennbar von einer vorliegenden Einwilligung ausgegangen ist.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, 10. Mai 2021, Az: 13 A 11560/20, Urteil
vorgehend VG Trier, 15. November 2018, Az: 10 K 10155/17.TR

Tenor

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. Mai 2021 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1

Die auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sowie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

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I. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

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1. Die Rüge, das Berufungsgericht habe den Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 GG) verletzt, weil das Berufungsgericht ohne seine erforderliche Zustimmung statt durch den gesamten Senat durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin entschieden habe, greift im Ergebnis nicht durch.

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1.1. Das Berufungsgericht hat bei seiner Entscheidung objektiv allerdings die nach seinem Geschäftsverteilungsplan in Verbindung mit den gesetzlichen Vorgaben vorgesehene Besetzung nicht gewahrt, weil es statt durch den Senat durch die Einzelrichterin entschieden hat, ohne dass vor der Entscheidung das nach § 125 Abs. 1 i.V.m. § 87a Abs. 2 und 3 VwGO erforderliche Einverständnis des Klägers ausdrücklich erteilt worden ist. Das Berufungsgericht, das irrtümlich von einem Einverständnis auch des Klägers ausgegangen ist, war mithin objektiv nicht vorschriftsgemäß besetzt.

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1.2 Dies führt indes deswegen nicht zur Zulassung der Revision, weil sich der auch in der mündlichen Verhandlung anwaltlich vertretene Kläger ausweislich der Sitzungsniederschrift rügelos auf die mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin eingelassen hat. Damit ist nach § 173 VwGO i.V.m. § 295 Abs. 1 ZPO ein Rügeverlust eingetreten, der den Kläger hindert, nachträglich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 GG, § 125 Abs. 1 i.V.m. § 87a Abs. 2 und 3 VwGO geltend zu machen (a.A. für den Fall eines anwaltlich nicht vertretenen Klägers BFH, Urteil vom 15. Dezember 1998 – VIII R 74/97 -; offengelassen BVerwG, Beschluss vom 5. Februar 1996 – 9 B 32.96 -). Die Befolgung der genannten Vorschrift ist nach § 295 Abs. 2 ZPO verzichtbar; denn nach § 125 Abs. 1 i.V.m. § 87a Abs. 2 und 3 VwGO kann durch Zustimmung zu einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin auch auf die Entscheidung durch den gesamten Senat verzichtet werden (vgl. – zum Verzicht auf mündliche Verhandlung – BVerwG, Beschlüsse vom 4. November 1977 – BVerwG 4 C 71.77 – Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 1 und vom 30. November 2004 – 10 B 64.04 -), so dass dieser Fehler nicht mehr gerügt werden kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – das Gericht rechtsirrig, aber für die Beteiligten ersichtlich von deren Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter ausgeht (s.a. Neumann/Korbmacher, in: NK-VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138 Rn. 51). Dass nach § 138 Nr. 1 VwGO ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsgemäß besetzt war, setzt eine Rügemöglichkeit voraus, ohne sie zu begründen.

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2. Eine Verletzung des Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 138 Nr. 3 VwGO) legt die Beschwerde nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dar.

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2.1 Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Als Prozessgrundrecht soll es sicherstellen, dass die gerichtliche Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme oder Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 2012 – 1 C 13.11 – BVerwGE 144, 230 Rn. 10). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten, wie es Art. 103 Abs. 1 GG vorschreibt, zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist daher nur dann anzunehmen, wenn besondere Umstände deutlich ergeben, dass das Gericht bestimmtes Vorbringen nicht berücksichtigt hat (stRspr, vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 <145 f.>).

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2.2 Solche besonderen Umstände legt die Beschwerde nicht dar. Die Rüge, dass sich das Berufungsgericht nicht mit dem ausdrücklichen Vortrag des Klägers auseinandergesetzt habe, „dass er bereits in Pakistan aufgrund aktiver Glaubenspraktizierung individuell verfolgt – nämlich tätlich angegriffen und verletzt – worden sei“, setzt sich nicht erkennbar damit auseinander, dass das Berufungsgericht eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund des vorgetragenen eigenen Schicksals des Klägers ausgeschlossen hat, weil der von ihm geschilderte Vorfall mit dem Motorrad die von § 3a AsylG vorausgesetzte Intensität nicht erreiche und dies auch für die geforderte Pflicht zur Abgabe einer eidlichen Erklärung bei Beantragung einer National Identity Card gelte (UA S. 35). Welches weitergehende Vorbringen zu einer (möglichen) Vorverfolgung das Berufungsgericht nicht zur Kenntnis genommen oder erwogen haben sollte, ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht.

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2.3 Soweit die Beschwerde im Zusammenhang mit der erhobenen Grundsatzrüge geltend macht, das Berufungsgericht habe sich mit dem Inhalt einer von seiner Rechtsauffassung zur flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung bekennender Ahmadis abweichenden instanzgerichtlichen Entscheidung nicht auseinandergesetzt und auch nicht den Aspekt geprüft, „dass der Grundsatz der sogenannten negativen Religionsfreiheit insbesondere die Mitglieder religiöser Minderheiten vor Diskriminierungen und Verfolgungssituationen im Alltag des gesellschaftlichen Zusammenlebens schützen soll“, wird der Sache nach eine unzureichende bzw. fehlerhafte Rechtsanwendung gerügt und auch der Sache nach ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör nicht hinreichend dargelegt.

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II. Die Revision ist auch nicht wegen der mit der Beschwerde geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

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1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 – 6 B 22.06 – NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 – 5 B 48.15 – juris Rn. 3 m.w.N.). Die Darlegung muss sich auch auf die Entscheidungserheblichkeit des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrunds erstrecken.

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2. Nach diesen Grundsätzen legt die Beschwerde jedenfalls die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage vermeintlich grundsätzlicher Bedeutung nicht dar, ob

„[…] der gesetzlich angeordnete Zwang seine […] Glaubenszugehörigkeit zu offenbaren oder [sie] ausdrücklich […] verleugnen zu […] müssen, um eine sog. id-card mit Wirkung eines Personalausweises als Identitätsdokument zu erhalten nicht nur einen schweren Eingriff in die negative Religionsfreiheit dar sondern zugleich auch eine schwere Menschenrechtsverletzung im Sinne von § 3 a AsylG i.V.m. Art. 9 QRL in das ‚forum internum‘ dar[stellt] mit der Folge, dass nicht nur besonders qualifizierte auch sog. einfach bekennende Mitglieder der Ahmadiyya-Gemeinde begründete Furcht vor Verfolgung haben.“

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Das Berufungsgericht hat sich mit der Pflicht zur Abgabe einer eidlichen Erklärung bei der Beantragung einer National Identity Card als Eingriff in die Religionsfreiheit erkennbar auseinandergesetzt und unter Verweis auf Rechtsprechung anderer Gerichte ausgeführt, dass „diese Pflicht, die ihm die nach seinem Selbstverständnis richtige Religionsangabe etwa als ‚Muslim (Ahmadi)‘ verwehrt, offenkundig – wenn nicht bereits in objektiver, so jedenfalls aufgrund des Umstands, dass es sich bei ihm wie dargelegt nicht um einen Ahmadi handelt, für den eine öffentlichkeitswirksame Religionsausübung identitätsprägend ist – in subjektiver Hinsicht nicht die erforderliche Schwere [erreicht], um als religiöse Verfolgungshandlung angesehen werden zu können“ (UA S. 35). Diese Bewertung vernachlässigt die Beschwerdebegründung. Neuerlichen oder weitergehenden abstrakt generellen Klärungsbedarf zu den Maßstäben, nach denen zu beurteilen ist, unter welchen Voraussetzungen eine Diskriminierung aus Gründen der Religion (§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG) nach Art, Schwere und Wiederholung – für sich allein (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder in Kumulation mit anderen Maßnahmen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG) – eine Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG) bildet, legt die Beschwerde nicht dar.

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III. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

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IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.