BGH 6. Zivilsenat, Beschluss vom 16.02.2021, AZ VI ZR 1104/20, ECLI:DE:BGH:2021:160221BVIZR1104.20.0
Art 103 Abs 1 GG, § 544 Abs 9 ZPO
Leitsatz
Stellen sich in einem Schadensersatzprozess wegen Produkthaftung medizinische Fragen, dürfen weder an den klagebegründenden Sachvortrag einer Partei noch an ihre Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten hohe Anforderungen gestellt werden.
Verfahrensgang
vorgehend OLG München, 18. Juni 2020, Az: 6 U 75/20
vorgehend LG München I, 6. Dezember 2019, Az: 26 O 9657/17
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 18. Juni 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: bis 30.000 €
Gründe
I.
1
Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte wegen behaupteter Fehlerhaftigkeit einer Hüftprothese geltend.
2
Der Klägerin wurde 2007 rechtsseitig eine Durom-Oberflächenersatzprothese, deren Herstellerin die Beklagte ist, implantiert. Ab 2014 ließ sie regelmäßig Blutuntersuchungen zur Ermittlung der Chrom- und Kobaltwerte durchführen. Sie ist der Auffassung, die Prothese weise einen Produktfehler auf, weil sie zu einem ausgeprägten Metallabrieb führe; die zu erwartende Abriebmenge werde bei dem Produkt der Beklagten deutlich überschritten. Es müsse schon vor Ablauf der durchschnittlichen 15- bis 20-jährigen Standzeit einer Hüftendoprothese von der Notwendigkeit einer Revisionsoperation mit Prothesenwechsel ausgegangen werden. Die Klägerin hat daher die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für (künftige) materielle und immaterielle Schäden beantragt.
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Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines toxikologischen Gutachtens der Sachverständigen F. abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
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1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Hüftprothese könne nicht als fehlerhaft im Sinne von § 3 ProdHaftG angesehen werden. Das Landgericht sei auf der Grundlage der Ausführungen der Sachverständigen F. zu dem Schluss gekommen, dass die im Serum der Klägerin nachgewiesenen Metallbelastungen für Chrom und Kobalt unterhalb eines Referenzwertes für Endoprothesenträger lägen. Auch eine Metallose, die auf ungewöhnlich hohen Metallabrieb zurückgeführt werden könne, habe bei der Klägerin nicht festgestellt werden können. Dem Einwand der Klägerin in der Berufung, das Gericht habe weiteren Beweis durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens erheben müssen, da sich aus dem von der Klägerin mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2019 eingereichten Attest des R. ergebe, dass „typische Symptome eines Pseudotumors“ bestünden, folge das Berufungsgericht nicht. Dass sich bei der Klägerin lokale Gewebeneubildungen als Reaktion auf ungewöhnlich hohe Metallpartikelbelastungen (Metallosen) gebildet hätten, sei schon nicht substantiiert behauptet worden. Auch das Attest des R. stelle lediglich fest, die Klägerin habe „immer wieder“ rezidivierende typische Symptome eines Pseudotumors mit Spannungsgefühlen, ohne näher darzulegen, worauf sich diese Feststellungen gründeten und wie sich diese Symptome konkret darstellten. Da die Sachverständige F. angesichts der weit außerhalb des Belastungswerts liegenden Metallkonzentration im Serum der Klägerin zu der Beurteilung gekommen sei, dass es an der Prothese der Klägerin nicht zu einem erhöhten Metallabrieb gekommen sei, bestehe kein Grund für die Annahme einer Metallose. Dies habe die Klägerin, wie ausgeführt, auch nicht substantiiert behauptet, etwa unter Darstellung eines entsprechenden MRT-Untersuchungsergebnisses oder eines sonstigen belastbaren Befundes. Daher habe das Landgericht ungeachtet der Frage, ob das Vorbringen der Klägerin im Schriftsatz vom 28. Oktober 2019 rechtzeitig gewesen sei, ein orthopädisches Sachverständigengutachten nicht einholen müssen.
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2. Mit diesen Ausführungen hat das Oberlandesgericht offenkundig unrichtig überhöhte Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Klägerin gestellt und damit deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
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a) Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 19, 32, 36; 49, 325, 328; 55, 1, 6; 60, 175, 210; 64, 135, 143 f.). Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, tatsächliche und rechtliche Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (Senatsbeschluss vom 29. Mai 2018 – VI ZR 370/17, VersR 2018, 1001 Rn. 8; BVerfGE 60, 1, 5; 65, 227, 234; 84, 188, 190; 86, 133, 144 ff.; BVerfG, NJW 2017, 3218 Rn. 47). Dabei darf das Gericht die Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags nicht überspannen. Da die Handhabung der Substantiierungsanforderungen dieselben einschneidenden Folgen hat wie die Anwendung von Präklusionsvorschriften, verstößt sie gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie offenkundig unrichtig ist (Senatsbeschlüsse vom 7. Juli 2020 – VI ZR 212/19, BeckRS 2020, 17823 Rn. 10; vom 2. Juli 2019 – VI ZR 42/18, VersR 2019, 1385 Rn. 5 mwN).
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b) Im Arzthaftungsprozess dürfen an die Substantiierungspflicht des Patienten nur maßvolle Anforderungen gestellt werden, weil vom Patienten regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann und er nicht verpflichtet ist, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen (st. Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senatsbeschluss vom 12. März 2019 – VI ZR 278/18, VersR 2019, 1450 Rn. 8 mwN). Dies gilt auch für Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten. Insbesondere ist die Partei berechtigt, ihre Einwendungen gegen das Gutachten zunächst ohne sachverständige Hilfe vorzubringen (Senatsurteil vom 8. Juni 2004 – VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245, 253, juris Rn. 27 mwN). Da diese Grundsätze auch außerhalb des Arzthaftungsprozesses in Fallgestaltungen Anwendung finden, in denen ein Erfolg versprechender Parteivortrag fachspezifische Fragen betrifft und besondere Sachkunde erfordert (Senatsurteil vom 18. Oktober 2005 – VI ZR 270/04, BGHZ 164, 330, 335, juris Rn. 15), gelten sie auch, wenn sich in einem Schadensersatzprozess wegen Produkthaftung medizinische Fragen stellen. Hat eine Partei nur geringe Sachkunde, dürfen somit weder an ihren klagebegründenden Sachvortrag noch an ihre Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten hohe Anforderungen gestellt werden (Senatsurteil vom 18. Oktober 2005 – VI ZR 270/04, BGHZ 164, 330, 335, juris Rn. 15; BGH, Urteil vom 19. Februar 2003 – IV ZR 321/02, NJW 2003, 1400, juris Rn. 10). Die Partei darf sich in diesem Fall auf den Vortrag von ihr zunächst nur vermuteter Tatsachen beschränken (BGH, Urteil vom 19. Februar 2003 – IV ZR 321/02, NJW 2003, 1400, juris Rn. 10).
9
c) Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht hier offensichtlich verkannt, indem es den Vortrag der Klägerin zum Vorliegen eines Pseudotumors als unsubstantiiert erachtet hat.
10
aa) Dem vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Gutachten der Sachverständigen F. zufolge sind Zeichen einer Metallose lokale Gewebereaktionen und -neubildungen wie z.B. solide Zellmassen und Pseudotumore (Gutachten S. 2, 6, 7). Bei der Klägerin lägen – so das Gutachten – Zeichen einer derartigen lokalen Gewebeneubildung nicht vor und daher könne eine Metallose „alleinig aufgrund der gemessenen Metall-Serumwerte toxikologisch nicht bestätigt werden“ (S. 2, 7).
11
Auf dieses Gutachten hin hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2019 das ärztliche Attest des R. vorgelegt, wonach die Klägerin „immer wieder rezidivierende typische Symptome eines Pseudotumors mit Spannungsgefühlen“ habe. Hierzu hat die Klägerin, wie im Berufungsurteil festgestellt, vorgetragen, dass es möglich sei, dass der Körper Metalldepots bilde, die nicht in Blutuntersuchungen zu erkennen seien. Unter Verweis auf die laut ärztlichem Attest bestehenden typischen Symptome eines Pseudotumors hat sie in einem weiteren Schriftsatz geltend gemacht, dass es unzulässig sei, bezüglich etwaiger orthopädischer Fragestellungen (ob ein Pseudotumor vorliege oder nicht) auf ein toxikologisches Gutachten abzustellen, weshalb Beweis durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens erhoben werden müsse. Damit hat die Klägerin geltend gemacht, dass bei ihr entgegen dem Gutachten der Sachverständigen F. durchaus Anzeichen für eine Metallose in Form von Pseudotumoren vorlägen, auch wenn die Sachverständige diese aus toxikologischer Sicht nicht habe bestätigen können.
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bb) Gemessen an den Anforderungen, die an den Vortrag der Klägerin zu medizinischen Vorgängen gestellt werden dürfen, war dieser Vortrag hinreichend substantiiert und verpflichtete das Gericht zur weiteren Sachaufklärung dazu, ob bei der Klägerin ein Pseudotumor vorliegt. Dies durfte nicht, wie geschehen, mit der Begründung verweigert werden, dass die Klägerin schon nicht substantiiert – etwa unter Darstellung eines entsprechenden MRT-Untersuchungsergebnisses oder eines sonstigen belastbaren Befundes – behauptet habe, dass sich bei ihr als Reaktion auf eine Metallose lokales Gewebe neu gebildet habe, und dass das Attest des R. nicht näher darlege, worauf sich seine Feststellungen gründeten und wie sich die dort erwähnten Symptome des Pseudotumors konkret darstellten.
13
cc) Soweit das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang darauf verwiesen hat, dass nach dem ärztlichen Bericht des K. in einer MRT-Untersuchung Pseudotumore bei der Klägerin nicht festgestellt werden konnten, übergeht es, dass sich dieser Bericht auf eine MRT-Untersuchung aus dem Oktober 2014 stützt, die das aktuelle Vorliegen eines Pseudotumors nicht ausschließen kann.
14
d) Die vom Berufungsgericht offen gelassene Frage der Rechtzeitigkeit des Vorbringens der Klägerin im Schriftsatz vom 28. Oktober 2019 führt schon deshalb zu keiner anderen Entscheidung, da dieses Vorbringen – ungeachtet der Frage, ob dies zulässig gewesen wäre – weder vom Landgericht noch vom Berufungsgericht als verspätet zurückgewiesen worden ist.
15
3. Die neue Verhandlung gibt dem Berufungsgericht im Übrigen Gelegenheit, sich gegebenenfalls mit dem weiteren Vorbringen der Parteien im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen.
- Seiters
- Offenloch
- Müller
- Allgayer
- Böhm
Berichtigungsbeschluss vom 15. März 2021
Der Beschluss des VI. Zivilsenats wird dahingehend berichtigt, dass es auf Seite 1 heißen muss:
Beschluss
vom
16. Februar
2021
- Seiters
- Offenloch
- Müller
- Allgayer
- Böhm