BGH 6. Zivilsenat, Urteil vom 22.09.2020, AZ VI ZR 476/19, ECLI:DE:BGH:2020:220920UVIZR476.19.0
§ 823 BGB, Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG
Leitsatz
Zur Zulässigkeit des Vorhaltens von Altmeldungen im Online-Archiv eines Presseorgans (Fortführung von BGH, Urteil vom 18. Dezember 2018 – VI ZR 439/17).
Verfahrensgang
vorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 1. November 2011, Az: 7 U 49/11
vorgehend LG Hamburg, 15. April 2011, Az: 324 O 113/10
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamburg vom 1. November 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Der Kläger verlangt von der Beklagten die Unterlassung seiner namentlichen Identifizierung in einer Presseberichterstattung, die die Beklagte in ihr Onlinearchiv eingestellt hat. Die Berichterstattung betrifft eine nunmehr fast 40 Jahre zurückliegende strafgerichtliche Verurteilung des Klägers.
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Der Kläger wurde im Jahr 1982 rechtskräftig wegen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, im Jahr 1981 an Bord der Yacht „A.“, die sich bei einer Atlantiküberquerung auf hoher See befand, zwei Menschen erschossen und einen dritten schwer verletzt zu haben. Im Jahr 2002 wurde er aus der Haft entlassen.
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Über den Fall veröffentlichte das Magazin DER SPIEGEL in den Jahren 1982 und 1983 unter Auseinandersetzung mit der Person des namentlich genannten Klägers drei Artikel in seiner gedruckten Ausgabe. Seit 1999 stellte zunächst die Rechtsvorgängerin der Beklagten und stellt nunmehr die Beklagte (beide im Folgenden: Beklagte) die Berichte in einem Onlinearchiv kostenlos und ohne Zugangsbarrieren zum Abruf bereit. Gibt man den Namen des Klägers in einem gängigen Internetsuchportal ein, werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt.
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Nachdem der Kläger erstmals im Jahr 2009 Kenntnis von der Online-Veröffentlichung erlangt hatte, mahnte er die Beklagte wegen der identifizierenden Berichterstattung im Internet ab und erhob nachfolgend Unterlassungsklage mit dem Antrag, es der Beklagten zu untersagen, über die Straftat aus dem Jahr 1981 unter Nennung seines Familiennamens zu berichten.
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Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Auf die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Beklagten hat der Senat das Berufungsurteil aufgehoben, das Urteil des Landgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Auf die Verfassungsbeschwerde des Klägers hat das Bundesverfassungsgericht das Urteil des Senats aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, das Bereithalten der beanstandeten Inhalte zum Abruf im Internet verletze das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers. Zwar sei die Tat derart spektakulär gewesen, dass losgelöst von dem zeitlichen Zusammenhang zu der Tat und dem Strafverfahren ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit bestehe. Auch sei festzuhalten, dass die Berichterstattung zurückhaltend und sachbezogen sei. Gleichwohl gehe mit der Darstellung aufgrund des Detailreichtums der Schilderung des Geschehens eine stigmatisierende Wirkung einher. Hierdurch würden dem Leser lange Zeit nach der Tat die Straftaten facettenreich vor Augen geführt. Mit zeitlicher Distanz zur Straftat gewinne aber das Interesse des Täters, von einer Reaktualisierung seiner Verfehlung verschont zu bleiben, zunehmende Bedeutung. Hier seien zu dem Zeitpunkt, als die Beklagte die Artikel in ihr Onlinearchiv eingestellt habe, bereits mindestens 18 Jahre verstrichen gewesen. Eine ganz erhebliche Breitenwirkung resultiere vorliegend aus der dauerhaften, zeitlich unbegrenzten Abrufbarkeit der Information, die weltweit mit äußerst geringem Aufwand ermittelbar sei. Das führe dazu, dass trotz der verstrichenen Zeit Personen aus dem sozialen und persönlichen Umfeld von den Taten des Klägers erfahren könnten. Ein In-Vergessenheit-Geraten sei bei dauerhaft im Internet vorgehaltenen Informationen nicht möglich. Von diesem Dauerzustand gehe eine ganz erhebliche Eingriffsintensität aus.
II.
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Das angefochtene Urteil hält revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand. Die Annahme des Berufungsgerichts, das weitere Bereithalten der den Kläger identifizierenden Artikel aus den Jahren 1982 und 1983 zum Abruf im Internet sei rechtswidrig, wird durch die getroffenen Feststellungen nicht getragen.
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1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass das Bereithalten der Artikel einen Eingriff in den Schutzbereich des durch § 823 Abs. 1, § 1004 BGB in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers darstellt (vgl. auch Senatsurteil vom 18. Dezember 2018 – VI ZR 439/17, NJW 2019, 1881 Rn. 9 mwN). Es hat zu Recht angenommen, dass dem Eingriff angesichts der durch das Internet ermöglichten allgemeinen Verfügbarkeit der Artikel, die bereits bei einer bloßen Eingabe des Namens des Klägers im Suchfeld einer Suchmaschine an erster Stelle der Ergebnisliste erscheinen, eine ganz erhebliche Intensität zukommt (BVerfG, NJW 2020, 300 Rn. 146 ff.).
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2. Auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen kann der Senat indes nicht beurteilen, in welchem Maße die Interessen der Beklagten hinter dem Schutzinteresse des Klägers zurückzutreten haben.
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a) Soweit nicht die ursprüngliche oder eine neuerliche Berichterstattung, sondern das öffentlich zugängliche Vorhalten eines Berichts, insbesondere in Onlinearchiven, in Rede steht, ist dessen Zulässigkeit im Ausgangspunkt anhand einer neuerlichen Abwägung der im Zeitpunkt des jeweiligen Löschungsverlangens bestehenden gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen zu beurteilen (BVerfG, NJW 2020, 300 Rn. 115 f., 127; NJW 2020, 1793 Rn. 10). Dabei ist die ursprüngliche Zulässigkeit eines Berichts allerdings ein wesentlicher Faktor, der ein gesteigertes berechtigtes Interesse von Presseorganen begründet, diese Berichterstattung ohne erneute Prüfung oder Änderung der Öffentlichkeit dauerhaft verfügbar zu halten (BVerfG, NJW 2020, 1793 Rn. 10).
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Steht – wie vorliegend – die ursprüngliche Rechtmäßigkeit der Berichterstattung nicht im Streit, ist insbesondere die Schwere der aus der trotz der verstrichenen Zeit andauernden Verfügbarkeit der Information drohenden Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung (BVerfG, NJW 2020, 300 Rn. 121, 131; Senatsurteil vom 18. Dezember 2018 – VI ZR 439/17, NJW 2019, 1881 Rn. 16 mwN), die Einbindung zurückliegender Ereignisse in eine Folge weiterer hiermit einen Zusammenhang bildender Vorkommnisse sowie das zwischenzeitliche Verhalten des Betroffenen (BVerfG, NJW 2020, 300 Rn. 107, 109, 122 f.; BVerfG, AfP 2020, 307 Rn. 20; Senatsurteil vom 12. Juni 2018 – VI ZR 284/17, NJW 2018, 3509 Rn. 14 mwN), die fortdauernde oder verblassende konkrete Breitenwirkung der beanstandeten Presseveröffentlichung (BVerfG, NJW 2020, 300 Rn. 114, 124 f., 131; Senatsurteil vom 18. Dezember 2018 – VI ZR 439/17, NJW 2019, 1881 Rn. 24 mwN), die Priorität, mit der die Information im Netz von Suchmaschinen kommuniziert wird (BVerfG, NJW 2020, 300 Rn. 125) sowie das generelle Interesse der Allgemeinheit an einer dauerhaften Verfügbarkeit einmal zulässig veröffentlichter Informationen und das grundrechtlich geschützte Interesse von Inhalteanbietern an einer grundsätzlich unveränderten Archivierung und Zurverfügungstellung ihrer Inhalte (BVerfG, NJW 2020, 300 Rn. 112 f., 121, 130; EGMR, NJW 2020, 295 Rn. 90; Senatsurteil vom 18. Dezember 2018 – VI ZR 439/17, NJW 2019, 1881 Rn. 25 mwN) angemessen zu berücksichtigen (vgl. auch BVerfG, NJW 2020, 1793 Rn. 11).
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Für den Interessenausgleich zwischen den Medien und dem Betroffenen sind zudem mögliche Abstufungen hinsichtlich der Art der Schutzgewähr in die Betrachtung einzubeziehen. Zu berücksichtigen ist, wieweit dem Betreiber eines Onlinearchivs Mittel zu Gebote stehen, zum Schutz des Betroffenen auf die Erschließung und Verbreitung der Berichte im Netz Einfluss zu nehmen (Senatsurteil vom 18. Dezember 2018 – VI ZR 439/17, NJW 2019, 1881 Rn. 21 ff.). Solche Schutzmaßnahmen sind den Medien nicht grundsätzlich unzumutbar; sie dürfen technische Anstrengungen und Kosten mit sich bringen. Anzustreben ist ein Ausgleich, der einen ungehinderten Zugriff auf den Originaltext möglichst weitgehend erhält, diesen auf besonderen (wie hier) Schutzbedarf hin – insbesondere gegenüber namensbezogenen Suchabfragen mittels Suchmaschinen – aber einzelfallbezogen doch hinreichend begrenzt (BVerfG, NJW 2020, 300 Rn. 128 ff., 139, 153; vgl. auch BVerfG, NJW 2020, 1793 Rn. 11).
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b) Eine Gesamtabwägung unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist auf der Grundlage der von dem Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht möglich. Das Berufungsgericht hat die Rechtswidrigkeit des weiteren Bereithaltens der Artikel zum Abruf aus der Schwere der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung abgeleitet. Diese entsteht für den Kläger dadurch, dass trotz der seit den Straftaten verstrichenen langen Zeit jeder, der den Namen des Klägers im Suchfeld einer Suchmaschine eingibt, davon erfährt, so dass ein In-Vergessenheit-Geraten nicht möglich ist. Offen geblieben ist aber, ob und auf welchem Wege es der Beklagten möglich und zumutbar ist, lediglich die Auffindbarkeit der Artikel über Internet-Suchmaschinen zu unterbinden oder einzuschränken. Eine abschließende Gewichtung der widerstreitenden Rechtspositionen nach den obigen Grundsätzen ist nicht möglich, solange dies nicht geklärt ist. Die generelle Untersagung des weiteren Bereithaltens der Artikel zum Abruf im Onlinearchiv geht über das zur Wahrung der Rechte des Klägers Erforderliche hinaus, falls die Beklagte dessen Auffindbarkeit ausschließen oder (beispielsweise unter Berücksichtigung von Suchbegriffen) einschränken könnte. Das würde umso mehr gelten, wenn die Beklagte die Voraussetzungen der Zugänglichmachung der Artikel durch Internet-Suchmaschinen kontrollieren könnte (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2018 – VI ZR 439/17, NJW 2019, 1881 Rn. 21 f. mwN).
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c) Entgegen der Auffassung der Revision scheitert der geltend gemachte Anspruch nicht schon daran, dass der Kläger die Suchmaschinenbetreiber nicht auf Auslistung der bei einer namensbezogenen Suche angezeigten und auf die streitgegenständlichen Artikel hinführenden Ergebnislinks in Anspruch genommen hat. Die Haftung des Inhalteanbieters ist nicht subsidiär gegenüber der Inanspruchnahme des Suchmaschinenbetreibers. Im Gegenteil kann in einer Konstellation wie der vorliegenden über den Antrag eines Betroffenen auf Unterlassung des Bereitstellens von Suchnachweisen gegenüber einem Suchmaschinenverantwortlichen nicht ohne Berücksichtigung der Frage entschieden werden, ob und wieweit der Inhalteanbieter gegenüber den Betroffenen zur Verbreitung der Information berechtigt ist (BVerfG, NJW 2020, 314 Rn. 109 mwN; Senatsurteil vom 27. Juli 2020 – VI ZR 405/18, juris Rn. 35). Da bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verbreitung eines Berichts durch die Beklagte dessen Wirkung für den Kläger im Internet in der Abwägung mit zu berücksichtigen ist, muss die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Verbreitung auch die Entscheidung gegenüber den Suchmaschinenverantwortlichen anleiten (Senatsurteil vom 27. Juli 2020 – VI ZR 405/18, juris Rn. 38).
15
3. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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