Beschluss des BVerwG 1. Senat vom 13.12.2021, AZ 1 B 85/21

BVerwG 1. Senat, Beschluss vom 13.12.2021, AZ 1 B 85/21, ECLI:DE:BVerwG:2021:131221B1B85.21.0

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 6. September 2021, Az: 4 LB 645/17, Beschluss
vorgehend VG Greifswald, 3. Juli 2017, Az: 4 A 1410/16 As HGW

Tenor

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 6. September 2021 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

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Die Revision ist nicht wegen der mit der Beschwerde geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

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1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 – 6 B 22.06 – NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 – 5 B 48.15 – juris Rn. 3 m.w.N.). Die Darlegung muss sich auch auf die Entscheidungserheblichkeit des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrunds erstrecken.

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2. Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht zuzulassen, weil weder die Klärungsbedürftigkeit noch die Entscheidungserheblichkeit der beiden nachfolgenden Rechtsfragen vermeintlich grundsätzlicher Bedeutung dargelegt wird:

„Ist es zur Wahrung der Grundrechte sowie der Rechte aus der EMRK ausreichend, wenn ein rein statistischer/mathematischer Maßstab herangezogen wird, um die Annahme einer Gruppenverfolgung zu rechtfertigen?“

„Kann allein das von dem Bundesverwaltungsgericht angenommene Risiko von 1 zu 1.000, innerhalb eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, ausreichend sein, um eine Gruppenverfolgung anzunehmen, oder aber müssen weitere Umstände hinzutreten, um eine einzelfallbezogene Wertung, auch länderabhängig, vornehmen zu können?“

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2.1 Es fehlt bereits deswegen an einer Darlegung der Klärungsbedürftigkeit dieser Fragen, weil sie in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s. etwa BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19 -, Buchholz 402.251 § 4 AsylG Nr. 1) und des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 10. Juni 2021 – C-901/19 [ECLI:EU:C:2021:472] -) verneinend dahin geklärt sind, dass – jedenfalls für die Verfolgungsdichte beim subsidiären Schutz – kein auf alle Konfliktlagen anzuwendender „Gefahrenwert“ im Sinne einer zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen, quantitativen Mindestschwelle anzuwenden ist, sondern es einer umfassenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage einer wertenden Gesamtschau auch individuellen Betroffenheit bedarf (s.a. Berlit, Kein starrer Schwellenwert für die Verfolgungsdichte beim subsidiären Schutz, „Korrektur“ einer Fehlinterpretation ohne Klärung in der Sache, ZAR 2021, 289). Dies ändert indes nichts daran, dass im Rahmen einer solchen Gesamtbetrachtung der Umstand, dass die Anzahl der bereits festgestellten Opfer bezogen auf die Gesamtbevölkerung in der betreffenden Region eine bestimmte Schwelle erreicht, als für die Feststellung einer solchen Bedrohung relevant angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 10. Juni 2021 – C-901/19 – Rn. 31), nur eben nicht im Sinne einer systematischen Anwendung eines einzigen quantitativen Kriteriums. Die Beschwerde setzt sich mit dieser Rechtsprechung schon nicht auseinander und stellt auch nicht in Zweifel, dass sie für die Prüfung der Voraussetzungen der – dem Unionsrecht zudem als solchem unbekannten – Rechtsfigur der Gruppenverfolgung entsprechend anwendbar sind; weitergehender oder neuerlicher Klärungsbedarf ist nicht erkennbar.

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Die Darlegung setzt sich auch nicht damit auseinander, dass das Berufungsgericht für die Prüfung der Verfolgungsdichte bei der Gruppenverfolgung von einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung ausgeht und ungeachtet der Heranziehung des in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. November 2011 – 10 C 13.10 – (Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 58) eine für die Annahme der Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte mit Blick auf die von dem Faktor 100 bis 1.000 geringere als in jener Entscheidung als nicht hinreichend erachtete Verfolgungsdichte verneint hat. Für die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Fragen wäre indes eine Auseinandersetzung hiermit erforderlich gewesen.

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Eine entscheidungserhebliche Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) oder des Gerichtshofs der Europäischen Union wird damit weder ausdrücklich noch sinngemäß hinreichend dargelegt. Dies gälte selbst dann, wenn die Ausführungen des Berufungsgerichts dahin zu verstehen sein sollten, dass es ungeachtet der Notwendigkeit einer wertenden Gesamtbetrachtung von einem rein quantitativen Kriterium ausgegangen wäre. Denn die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die zwar von der Beschwerde unter Berufung auf einen eingehend zitierten Bericht der Organisation „Open Doors“ zur Lage koptischer Christen in Ägypten als unzutreffend bezeichnet, nicht aber mit beachtlichen Verfahrensrügen in Zweifel gezogen werden, lassen nicht erkennen, durch welche qualitativen Umstände die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich beachtlichen Verfolgung, die eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG voraussetzt, oder eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ im Sinne des § 4 AsylG begründet sein könnte.

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2.2 Unabhängig davon verhält sich die Beschwerde nicht dazu, dass das Berufungsgericht selbstständig tragend („zudem“) darauf abgestellt hat, dass der Kläger gegen die befürchteten Verfolgungshandlungen den Schutz seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen kann (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AsylG), der gegenüber terroristischen Angriffen und lokalen Übergriffen auf koptische Christen grundsätzlich schutzfähig und schutzbereit ist, und es zudem geprüft und verneint hat, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Ägypten aus individuellen Gründen einer Einzelverfolgung ausgesetzt sei, weil in den Großstädten im Norden Ägyptens ein interner Schutz (§ 3e Abs. 1 AsylG) zur Verfügung stehe, der für den Kläger auch erreich- und zumutbar ist. Ist die vorinstanzliche Entscheidung aber auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund dargelegt wird und vorliegt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 29. Januar 2013 – 4 BN 18.12 – juris Rn. 2 und vom 17. September 2019 – 1 B 41.19 – juris Rn. 7). Dass auch insoweit die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts als falsch und rechtswidrig gerügt werden, ersetzt mangels beachtlicher Verfahrensrügen nicht die erforderliche Darlegung eines Zulassungsgrundes.

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3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.