BVerfG 2. Senat 3. Kammer, Nichtannahmebeschluss vom 18.10.2024, AZ 2 BvR 1308/24, ECLI:DE:BVerfG:2024:rk20241018.2bvr130824
§ 90 BVerfGG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 750 Abs 1 ZPO
Verfahrensgang
vorgehend LG Leipzig, 10. September 2024, Az: 02 T 446/24, Beschluss
vorgehend AG Borna, 9. September 2024, Az: 4 M 1786/24, Beschluss
vorgehend AG Borna, 2. September 2024, Az: 4 M 1786/24, Beschluss
Tenor
Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Verfassungsbeschwerde wird abgelehnt.
Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Erstattung ihrer notwendigen Auslagen wird abgelehnt.
Gründe
1
Die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen die Zurückweisung eines Vollstreckungsschutzantrags gemäß § 765a ZPO richtet und neun Tage nach der bereits am 11. September 2024 vollzogenen Zwangsräumung der Wohnung der Beschwerdeführerin erhoben worden ist, ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht gegeben sind. Sie hat weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, weil sie unzulässig ist. Sie ist vor allem im Hinblick auf die bereits vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde vollzogene Zwangsräumung unzureichend begründet.
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Die Verfassungsbeschwerde wird den Darlegungs- und Begründungsanforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht gerecht, weil sie ein Rechtsschutzinteresse für das mit ihr verfolgte Begehren weder darlegt noch erkennen lässt. Die Beschwerdeführerin setzt sich nicht mit den vollstreckungsrechtlichen und verfassungsprozessualen Folgen des Umstands auseinander, dass ihr aufgrund der am 11. September 2024 nach § 885a Abs. 1 ZPO vollzogenen Räumung Vollstreckungsschutz nicht mehr gewährt werden und sie ohne einen gegen die Vermieterin gerichteten vollstreckbaren Titel nicht wieder in den Besitz der Wohnung gesetzt werden kann.
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Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsaktes oder jedenfalls für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit vorliegt (vgl. BVerfGE 81, 138 <140>; 146, 294 <308 f. Rn. 24>). Dieses Rechtsschutzbedürfnis muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fortbestehen (vgl. BVerfGE 21, 139 <143>; 30, 54 <58>; 33, 247 <253>; 50, 244 <247>; 56, 99 <106>; 72, 1 <5>; 81, 138 <140>; 146, 294 <309 Rn. 24>).
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b) Soweit die Beschwerdeführerin begehrt, dass das Bundesverfassungsgericht eine Anordnung trifft, durch die sie wieder in den Besitz ihrer Wohnung gesetzt wird, verkennt sie bereits, dass das Bundesverfassungsgericht dazu – selbst wenn ein Verfassungsverstoß gegeben wäre – nicht befugt ist. Das Bundesverfassungsgericht kann im Verfassungsbeschwerdeverfahren eine etwaige Grundrechtsverletzung feststellen und den betroffenen Hoheitsakt aufheben (vgl. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Es kann aber nicht über die Beseitigung der Beschwer hinaus den Parteien des Ausgangsverfahrens ein bestimmtes Verhalten zur Pflicht machen (vgl. BVerfGE 7, 99 <106>; 14, 192 <193>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. August 2022 – 2 BvR 1507/22 -, juris). Ein Rechtsschutzinteresse ist damit bezogen auf das beschriebene Begehren nicht gegeben.
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Auch hinsichtlich der begehrten Aufhebung der angegriffenen Beschlüsse und Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung über den Vollstreckungsschutzantrag ist ein Rechtsschutzinteresse angesichts der einfachrechtlichen Ausgangslage, mit der sich die Beschwerdeführerin nicht auseinandersetzt, nicht erkennbar.
6
Nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung ist bei einer Zwangsräumung mit der Einweisung des Gläubigers in den Besitz der Räume durch Übergabe der Schlüssel die Vollstreckungsmaßnahme beendet und kann demgemäß vom Gerichtsvollzieher nicht mehr aufgehoben werden. Die Durchsetzung einer erneuten Einweisung des Schuldners in den Besitz der Räume kann vielmehr nur als Vollstreckungsmaßnahme gegen den Gläubiger gemäß § 885 Abs. 1 ZPO erfolgen. Diese setzt nach § 750 Abs. 1 ZPO einen entsprechenden Vollstreckungstitel voraus, der wiederum nur aufgrund einer Klage im Erkenntnisverfahren erlangt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2022 – 2 BvR 661/22 -, Rn. 28; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2023
– 2 BvR 1507/22 -, Rn. 50; BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2004 – IXa ZB 324/03 -, juris, Rn. 15), nicht jedoch im Rahmen eines Vollstreckungsschutzverfahrens gemäß § 765a ZPO. Denn der Antrag nach § 765a ZPO wird außerhalb des Erkenntnisverfahrens gestellt und ist lediglich auf die Einstellung der Zwangsvollstreckung des Gläubigers und damit gerade nicht auf die Erlangung eines Titels gegen den Gläubiger gerichtet (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2022 – 2 BvR 661/22 -, Rn. 28; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2023 – 2 BvR 1507/22 -, Rn. 50). Eine Rückgängigmachung der vollzogenen Zwangsvollstreckungsmaßnahme – hier: der Einweisung des Gläubigers in den Besitz – kann folglich weder durch Aufhebung der den Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO zurückweisenden angegriffenen Beschlüsse der Fachgerichte noch durch eine erneute Entscheidung hierüber bewirkt werden.
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Da die Beschwerdeführerin danach weder durch die Aufhebung der angegriffenen Beschlüsse noch durch eine sich daran anschließende erneute Entscheidung über ihren Antrag gemäß § 765a Abs. 1 ZPO – die angesichts der Beendigung der Zwangsvollstreckungsmaßnahme ohnehin zu einer Verwerfung des Antrags als unzulässig führen würde – ihr Ziel, wieder in den Besitz der Wohnung zu gelangen, erreichen kann, ist ein Rechtsschutzinteresse auch insoweit nicht erkennbar.
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d) Schließlich wäre unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht insoweit anerkannten Fallg
ruppen (vgl. BVerfGE 146, 294 <308 f. Rn. 24> m.w.N.; stRspr) auch ein Rechtsschutzbedürfnis für eine – von der Beschwerdeführerin vorliegend ohnehin nicht beantragte – (bloße) Feststellung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte nach Erledigung des Begehrens nicht dargetan.
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Die von der Beschwerdeführerin beantragte Verlängerung der Frist zur Begründung der Verfassungsbeschwerde bis 11. November 2024 kommt nicht in Betracht. Denn es handelt sich bei der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, die vorliegend spätestens am 11. Oktober 2024 abgelaufen ist, um eine nicht verlängerbare Ausschlussfrist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2019 – 2 BvR 834/19 -, Rn. 4; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. Oktober 2019 – 1 BvR 2208/19 -, Rn. 7).
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Gründe, die eine Auslagenerstattung gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG trotz Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angezeigt erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Auch wenn das Begehren der Beschwerdeführerin aus den dargelegten Gründen erfolglos zu bleiben hat, gibt die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf das Vorgehen der Fachgerichte Anlass, auf folgende Grundsätze hinzuweisen:
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Macht der Vollstreckungsschuldner substantiiert ihm drohende Gesundheitsgefahren für den Fall einer Zwangsräumung geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen – beim Fehlen eigener Sachkunde – zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe – etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens oder durch Vernehmung des behandelnden Facharztes – ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2022 – 2 BvR 661/22 -, Rn. 23; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2023 – 2 BvR 1507/22 -, Rn. 44; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2023 – 2 BvR 1233/23 -, Rn. 20; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Mai 2024 – 2 BvR 51/24 -, Rn. 52).
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Ferner darf das Vollstreckungsgericht die Entscheidung über die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen im Rahmen der Zwangsräumung nicht dem Verantwortungsbereich Dritter überlassen. Vielmehr hat das Vollstreckungsgericht selbst zu prüfen, wie einer Gefahr für Leib und Leben gegebenenfalls zu begegnen ist und in eigener Zuständigkeit sicherzustellen, dass die zuständigen öffentlichen Stellen rechtzeitig tätig werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 2021 – 2 BvR 1786/20 -, Rn. 40 m.w.N.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2022 – 2 BvR 661/22 -, Rn. 25).
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Die Erforderlichkeit der zuvor beschriebenen gebotenen Sachverhaltsaufklärung und Sicherstellung von Schutzmaßnahmen entfällt nicht allein aufgrund des Umstands, dass sich der Schuldner freiwillig in Behandlung begeben hat. Auch ein Verweis auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden und Betreuungsgerichte kann nur dann verfassungsrechtlich tragfähig sein, wenn diese entweder Maßnahmen zum Schutz des Betroffenen getroffen oder aber eine erhebliche Suizidgefahr gerade für das diese Gefahr auslösende Moment – hier: Zwangsräumung – nach sorgfältiger Prüfung abschließend verneint haben (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Juli 2014 – 2 BvR 1400/14 -, juris, Rn. 12, 16 m.w.N.).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.