BFH 10. Senat, Beschluss vom 28.05.2020, AZ X B 12/20, ECLI:DE:BFH:2020:B.280520.XB12.20.0
§ 162 Abs 1 AO, § 162 Abs 2 S 2 AO, § 96 Abs 1 S 1 Halbs 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO
Leitsatz
NV: Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs wird verletzt, wenn das FG in Ausübung eigener Schätzungsbefugnis für die Beurteilung der Höhe des Rohgewinnaufschlagsatzes auf eine nicht allgemein zugängliche –nur für den Dienstgebrauch bestimmte– Quelle aus dem juris-Rechtsportal („Fachinfosystem Bp NRW“) zurückgreift, ohne zuvor die hieraus entnommenen Erkenntnisse dem Kläger inhaltlich in der gebotenen Weise zugänglich gemacht zu haben.
Verfahrensgang
vorgehend FG Hamburg, 3. September 2019, Az: 2 K 218/18, Urteil
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 03.09.2019 – 2 K 218/18 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Hamburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
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Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) betreibt in X u.a. eine Diskothek. Nach der Darstellung im angefochtenen Urteil des Finanzgerichts (FG) beanstandete eine für die Streitjahre 2013 und 2014 durchgeführte Außenprüfung die Kassen- und Buchführung des Klägers als formell ordnungswidrig.
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Aus diesem Grund verprobte der Prüfer die Getränkeumsätze und ermittelte –nach Abzug eines Sicherheitsabschlags– einen effektiven Rohgewinnaufschlagsatz von knapp 400 %, der erheblich von denjenigen Sätzen abwich, die den Gewinnermittlungen des Klägers zu entnehmen waren. Hieraus folgerte der Prüfer, dass die erklärten Betriebseinnahmen und Umsätze nicht vollständig seien. Auf Grundlage des von ihm errechneten Aufschlagsatzes schätzte der Prüfer bei den Getränkeverkäufen Einnahmen und Umsätze von netto ca. 417.000 € (2013) bzw. 247.000 € (2014) hinzu. Ferner nahm der Prüfer Hinzuschätzungen zu den erklärten Erlösen aus Eintrittsgeldern und Garderobendienstleistungen vor. Auch bei den beiden weiteren Gastronomiebetrieben, die der Kläger während der Streitjahre eröffnet hatte, schätzte der Prüfer Einnahmen und Umsätze hinzu.
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Der Einspruch gegen die dementsprechend geänderten Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuermessbescheide für 2013 und 2014 hatte keinen Erfolg.
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Auch das FG ging von einer Schätzungsberechtigung aus. Allerdings beanstandete es Schätzungsmethode und -ergebnis des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt –FA–). In Ausübung eigener Schätzungsbefugnis schätzte das FG die Getränkeumsätze nach Maßgabe eines äußeren Betriebsvergleichs. Für den hierbei zugrunde gelegten Rohgewinnaufschlagsatz von 300 % orientierte es sich zum einen an der vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) veröffentlichten Richtsatzsammlung, die für Gastronomiebetriebe in den Streitjahren Rohgewinnaufschlagsätze zwischen 186 % und 376 % (2013) bzw. 186 % und 400 % (2014) sowie einen Mittelwert von jeweils 257 % ausweist. Zum anderen berief es sich auf einen beim juris-Rechtsportal –allerdings nur für den Dienstgebrauch– abrufbaren Erfahrungsbericht vom 23.05.2017 über Betriebsprüfungen bei Diskotheken (sog. Fachinfosystem Bp NRW). In dieser, vom FG als „spezielle Richtsatzsammlung für Diskotheken“ bezeichneten Abhandlung heißt es u.a., Diskotheken würden einen Rohgewinnaufschlagsatz zwischen 280 % und 600 % auf ihren Wareneinsatz anwenden, wobei sich die Mehrzahl der Betriebe im rechnerischen Mittel bewegten.
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Demzufolge minderte das FG die Hinzuschätzungen auf ca. 252.000 € (2013) bzw. 115.000 € (2014). Die hinzugeschätzten Erlöse bei den Eintrittsgeldern und Garderobendienstleistungen hob das FG sogar in Gänze auf, da es die Schätzungsparameter des FA für unplausibel und willkürlich hielt. Auch die Hinzuschätzungen bei den beiden anderen Betrieben des Klägers hatten keinen Bestand.
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Mit seiner Beschwerde beansprucht der Kläger die Zulassung der Revision u.a. wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. Zudem beruft er sich auf Verfahrensfehler. Das FA tritt der Beschwerde entgegen.
Entscheidungsgründe
II.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Es liegt ein vom Kläger geltend gemachter Verfahrensfehler vor, auf dem die Entscheidung des FG i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen kann.
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1. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß § 96 Abs. 2 FGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes verletzt. Hierin liegt ein entscheidungserheblicher Verfahrensfehler (§ 119 Nr. 3 FGO).
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a) Ein solcher Verstoß ist zwar –anders als der Kläger meint– noch nicht darin zu sehen, dass das FG die Schätzungsmethode des FA (innerer Betriebsvergleich; Ausbeutekalkulation) durch eine hiervon abweichende Methode (äußerer Betriebs- bzw. Richtsatzvergleich) ersetzt hat. Insofern entspricht es gefestigten rechtlichen Grundsätzen, dass ein Gehörsverstoß in Gestalt einer Überraschungsentscheidung nur dann gegeben ist, wenn das FG eine Schätzungsmethode anwendet, die der bisherigen Methode nicht mehr ähnlich ist oder die Einführung neuen Tatsachenstoffs erforderlich wird, den Beteiligten hierzu aber keinen vorherigen rechtlichen Hinweis nach § 96 Abs. 2 FGO erteilt (Entscheidungen des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 02.02.1982 – VIII R 65/80, BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409; vom 10.09.2013 – XI B 114/12, BFH/NV 2013, 1947, Rz 12; vom 19.01.2018 – X B 60/17, BFH/NV 2018, 530, Rz 17; ebenso Lange in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 96 FGO Rz 145). So liegen die Dinge im Streitfall nicht.
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Zwar kann den Akten nicht entnommen werden, dass das FG im Laufe des Verfahrens in der grundsätzlich gebotenen Deutlichkeit auf dessen Absicht, die Höhe der Getränkeumsätze der Diskothek nach Richtsätzen zu schätzen, hingewiesen hat. Zumindest belegt aber der im Nachgang zum Erörterungstermin vom Berichterstatter erarbeitete Verständigungsvorschlag vom 22.07.2019, dass eine alternative Richtsatzschätzung thematisiert wurde, da dort Rohgewinnaufschlagsätze von 325 % für 2013 bzw. 350 % für 2014 in Ansatz gebracht wurden, ohne dass zugleich die Parameter der Aufschlagskalkulation des FA noch konkret in Frage gestellt wurden. Gleiches lässt sich aus dem Umstand folgern, dass die Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 03.09.2019 im Vorgriff auf die mündliche Verhandlung für den Fall des Unterliegens eine Revisionszulassung im Hinblick auf die aus ihrer Sicht unspezifizierte „steuerliche Richtsatzsammlung“ beantragt hat.
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b) Das FG hat allerdings das rechtliche Gehör des Klägers insoweit verletzt, als es in Ausübung seiner eigenen Schätzungskompetenz für die Bestimmung des Rohgewinnaufschlagsatzes von 300 % auf eine im juris-Rechtsportal („Fachinfosystem Bp NRW“) hinterlegte Abhandlung über Prüfungserfahrungen bei Diskotheken zurückgegriffen hat, ohne –jedenfalls nach Aktenlage– dem hierfür nicht abrufberechtigten Kläger über die wesentlichen Inhalte in Kenntnis zu setzen.
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aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 96 Abs. 2 FGO umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und –gegebenenfalls– Beweisergebnissen zu äußern, sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (u.a. BFH-Beschluss vom 15.05.2019 – IX B 105/18, BFH/NV 2019, 922, Rz 7, m.w.N.). Zur Wahrung dieses Äußerungsrechts ist das Gericht –letztlich vorgelagert– verpflichtet, die Beteiligten über alle ihm zugänglich gemachten und für seine Entscheidung zur Verfügung stehenden Tatsachen und Beweisergebnisse uneingeschränkt zu informieren (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG– vom 15.08.2014 – 2 BvR 969/14, Neue Juristische Wochenschrift –NJW– 2014, 3085, Rz 49; ebenso Senatsbeschluss vom 08.05.2017 – X B 150/16, BFH/NV 2017, 1185, Rz 15; Werth in Gosch, § 119 FGO Rz 127). Dies gilt unabhängig davon, ob eine anschließende Äußerung der oder des Beteiligten im konkreten Fall Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnen kann oder nicht (BVerfG-Beschluss in NJW 2014, 3085, Rz 49).
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bb) Diesen Anforderungen ist die Vorgehensweise des FG nicht gerecht geworden. Es hat den für zutreffend erachteten Rohgewinnaufschlagsatz von 300 %, der über den in den amtlichen Richtsätzen des BMF für gastronomische Betriebe ausgewiesenen Mittelwert von 257 % liegt, in entscheidungserheblicher Weise mit den Erkenntnissen aus der „speziellen Richtsatzsammlung“ für Diskotheken begründet. So hat es insbesondere den Ansatz eines sich im oberen Bereich der „allgemeinen Richtsatzsammlung“ liegenden Werts deshalb für gerechtfertigt gehalten, da sich dieser wiederum an der unteren Spannbreite der Diskotheken-Richtsatzsammlung (280 % bis 600 %) bewegte (Bl. 21 f. der Urteilsausfertigung). Über die für die Entscheidung maßgeblichen Inhalte der Abhandlung aus dem „Fachinfosystem Bp NRW“ hat das FG den Kläger –so dessen Rüge und auch die Lage der Akten– vorher nicht in der gebotenen Weise in Kenntnis gesetzt, obwohl dem FG ausweislich der Urteilsgründe („juris-nfD“) offensichtlich bekannt war, dass weder der Kläger noch dessen Prozessbevollmächtigte in der Lage waren, auf andere Weise Zugang zu dem Dokument zu erhalten. Hierdurch blieb es dem Kläger verwehrt, zu den für die Entscheidung des FG maßgeblichen Inhalten der Abhandlung Stellung zu beziehen.
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Der Senat stellt hiermit keinesfalls die Befugnis der Finanzverwaltung in Abrede, für Schätzungszwecke Datenbanken aufzubauen und zu verwenden, die –anders als die BMF-Richtsatzsammlung– nicht allgemein zugänglich sind (vgl. BFH-Urteil vom 17.10.2001 – I R 103/00, BFHE 197, 68, BStBl II 2004, 171, unter III.A.2.c cc; vgl. auch Koenig/Coester, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 162 Rz 109). Beabsichtigt aber das FG, seine Entscheidung –in tragender Weise– auf Erkenntnisse aus einer solchen Quelle zu stützen, gebietet es die Wahrung des rechtlichen Gehörsanspruchs und ebenso der prozessualen Waffengleichheit, denjenigen Beteiligten, der sich gezwungenermaßen insoweit in einem Informationsdefizit befindet, in der rechtlich gebotenen Weise in den gleichen Kenntnisstand wie den Prozessgegner zu versetzen (vgl. auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.03.1985 – 6 C 22/83, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 163).
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c) Diesen Verfahrensfehler hat der Kläger ausdrücklich gerügt. Er hat ferner dargelegt, dass die Entscheidung des FG auf dem gerügten Verstoß gegen die gerichtliche Hinweispflicht i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen kann. Denn der Kläger hat ausgeführt, er habe weder prüfen noch sich dazu äußern können, ob die vom FG herangezogenen Erkenntnisse aus dem „Fachinfosystem Bp NRW“ bundesweit Geltung beanspruchen können und auf seine speziellen Verhältnisse übertragbar sind. Diese Möglichkeit wird der Kläger im zweiten Rechtsgang erhalten.
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2. Da das angefochtene Urteil bereits aufgrund des vorgenannten Verfahrensmangels keinen Bestand haben kann, muss der Senat über die vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage, ob eine (Voll-)Schätzung durch einen äußeren Betriebsvergleich anhand der amtlichen BMF-Richtsatzsammlung im Hinblick auf die dortige Nichtberücksichtigung von Verlustbetrieben überhaupt als taugliche Schätzungsmethode zu werten ist, in diesem Verfahren keine Stellung beziehen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.