Unzulässige Berufung – Klageerweiterung (Urteil des BAG 6. Senat)

BAG 6. Senat, Urteil vom 01.08.2024, AZ 6 AZR 271/23, ECLI:DE:BAG:2024:010824.U.6AZR271.23.0

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Koblenz, 28. April 2022, Az: 2 Ca 2917/21, Urteil
vorgehend Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, 12. Oktober 2023, Az: 5 Sa 154/22, Urteil

Tenor

1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Oktober 2023 – 5 Sa 154/22 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 28. April 2022 – 2 Ca 2917/21 – als unzulässig verworfen wird.

2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Anrechnung der bei einem anderen Arbeitgeber erworbenen Berufserfahrung im Rahmen der Stufenzuordnung bei Einstellung des Klägers.

2

Der Kläger ist Sozialarbeiter/Sozialpädagoge mit staatlicher Anerkennung. Von Dezember 2010 bis August 2016 war er beim Betreuungsverein der Arbeiterwohlfahrt R e.V. (im Folgenden AWO) als Fachkraft für Betreuungen und Querschnittsarbeit beschäftigt und erhielt Vergütung nach VergGr. IVa des Bundes-Manteltarifvertrags für die Arbeitnehmer der Arbeiterwohlfahrt (BMT-AW II). Im September 2016 wurde er als Bewährungshelfer beim beklagten Land eingestellt. Bis zu seiner Berufung in das Beamtenverhältnis im Oktober 2020 fanden auf sein Arbeitsverhältnis kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme die Bestimmungen des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) Anwendung. Bei seiner Einstellung wurde er unter Zuordnung in die Stufe 1 nach Entgeltgruppe 10 TV-L vergütet.

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Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er sei bereits mit Einstellung beim beklagten Land der Stufe 3 der Entgeltgruppe 10 TV-L zuzuordnen gewesen. Die während seiner Tätigkeit als Betreuer bei der AWO erworbene Berufserfahrung sei für seine Arbeit als Bewährungshelfer einschlägig iSv. § 16 Abs. 2 TV-L und deshalb für die Stufenzuordnung gemäß Satz 3 der Tarifnorm zu berücksichtigen.

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Er hat zuletzt beantragt,

  • das beklagte Land zu verurteilen, an ihn 9.029,22 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

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Das beklagte Land hat Klageabweisung beantragt.

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Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

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Die Revision des Klägers ist unbegründet, da bereits seine Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts nicht zulässig gewesen ist. Das Landesarbeitsgericht hätte die Berufung als unzulässig verwerfen müssen.

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I. Die Zulässigkeit der Berufung ist Prozessvoraussetzung für das gesamte weitere Verfahren nach der Berufungseinlegung und deshalb vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen. Das gilt auch, wenn das Berufungsgericht – wie vorliegend – das Rechtsmittel für zulässig gehalten hat
(st. Rspr., vgl. zB BAG 15. Dezember 2022 – 2 AZR 117/22 – Rn. 4 mwN; 26. April 2017 – 10 AZR 275/16 – Rn. 11 mwN).

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II. Die Berufungsbegründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen.

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1. Nach § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben. Erforderlich ist eine hinreichende Darstellung der Gründe, aus denen sich die Rechtsfehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben soll. Die zivilprozessuale Regelung soll gewährleisten, dass der Rechtsstreit für die Berufungsinstanz durch eine Zusammenfassung und Beschränkung des Rechtsstoffs ausreichend vorbereitet wird. Dabei dürfen im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie zwar keine unzumutbaren Anforderungen an den Inhalt von Berufungsbegründungen gestellt werden. Die Berufungsbegründung muss aber auf den Streitfall zugeschnitten sein und im Einzelnen erkennen lassen, in welchen Punkten rechtlicher oder tatsächlicher Art und aus welchen Gründen das angefochtene Urteil fehlerhaft sein soll. Für die erforderliche Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen der angefochtenen Entscheidung reicht es nicht aus, die tatsächliche oder rechtliche Würdigung durch das Arbeitsgericht mit formelhaften Wendungen zu rügen und lediglich auf das erstinstanzliche Vorbringen zu verweisen oder es zu wiederholen
(vgl. zB BAG 27. Januar 2021 – 10 AZR 512/18 – Rn. 15; 10. Dezember 2019 – 3 AZR 122/18 – Rn. 27 mwN, BAGE 169, 72).

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Hat das erstinstanzliche Gericht seine Entscheidung hinsichtlich eines Streitgegenstands auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, muss die Berufungsbegründung das Urteil in allen diesen Punkten angreifen. Es ist deshalb für jede der rechtlichen oder tatsächlichen Erwägungen darzulegen, warum sie nach Auffassung des Berufungsführers die Entscheidung nicht rechtfertigt. Andernfalls ist das Rechtsmittel insgesamt unzulässig, da der Angriff gegen eine der Begründungen nicht ausreicht, um die Entscheidung insgesamt in Frage zu stellen
(st. Rspr., zB BAG 14. Mai 2019 – 3 AZR 274/18 – Rn. 19; 26. April 2017 – 10 AZR 275/16 – Rn. 14 mwN).

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2. Nach diesen Grundsätzen ist die Berufung unzulässig. Der Kläger setzt sich nicht – hinreichend – mit dem angegriffenen Urteil des Arbeitsgerichts auseinander. Er hat nicht berücksichtigt, dass das Arbeitsgericht seine Entscheidung auf zwei selbständig tragende Begründungen gestützt hat.

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a) Das Arbeitsgericht hat sein klageabweisendes Urteil zum einen auf die Annahme gestützt, einschlägige Berufserfahrung iSd. § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L iVm. der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 16 Abs. 2 TV-L setze voraus, dass die Vortätigkeit in ihrer eingruppierungsrechtlichen Wertigkeit der Tätigkeit nach Einstellung entsprechen müsse. Eine solche eingruppierungsrechtlich gleichwertige Vortätigkeit während seiner Beschäftigung als Sozialarbeiter/Sozialpädagoge in der Funktion einer Fachkraft für Betreuungen und Querschnittsarbeit bei der AWO sei dem klägerischen Vortrag nicht zu entnehmen. Zudem seien die Tätigkeiten eines Sozialarbeiters/Sozialpädagogen und eines Bewährungshelfers, auch wenn sie auf „gleiche Entgelte lauteten“, eingruppierungsrechtlich weder im Hinblick auf die Qualifikation noch auf die Befähigung äquivalent; insoweit hätten die Tarifvertragsparteien des TV-L für Bewährungshelfer exklusive Vergütungs- bzw. Entgeltgruppen bestimmt.

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Zum anderen ist das Arbeitsgericht davon ausgegangen, der Vortrag des Klägers ergebe auch nicht, dass ihn die in seiner früheren Tätigkeit als Betreuer erworbenen Qualifikationen und Erfahrungen in die Lage versetzt hätten, „aus dem Stand“ die Tätigkeiten im neuen Arbeitsverhältnis als Bewährungshelfer voll auszufüllen. Diese Voraussetzung müsse aber neben der eingruppierungsrechtlichen Gleichwertigkeit („daneben“) ebenfalls erfüllt sein.

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Entgegen der vom Kläger in seinem Schriftsatz vom 19. Juli 2024 vertreten Auffassung handelt es sich daher bei den vom Arbeitsgericht unter A II 3 und 4 der Entscheidungsgründe erfolgten Ausführungen um zwei voneinander unabhängige, selbständig tragende Begründungen.

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b) Der Kläger hat sich mit der ersten selbständig tragenden Erwägung des Arbeitsgerichts betreffend die eingruppierungsrechtliche Gleichwertigkeit der streitgegenständlichen Tätigkeiten in seiner Berufungsbegründung nicht auseinandergesetzt, sondern seine Darlegungen ausdrücklich auf die Ausführungen des Gerichts auf S. 12 bis 16 und damit zu Punkt A II 4 der Urteilsgründe beschränkt. Er geht auch an keiner anderen Stelle auf die Argumentation des Arbeitsgerichts zu diesem Aspekt ein. Weder zeigt er auf, warum aus seiner Sicht gleichwohl eine entsprechende Äquivalenz hinsichtlich der beiden streitgegenständlichen Tätigkeiten besteht, noch befasst er sich mit der Frage, ob eine eingruppierungsrechtliche Gleichwertigkeit überhaupt Voraussetzung für das Vorhandensein einschlägiger Berufserfahrung ist. Damit sind die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung nicht erfüllt.

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3. Die Berufung ist auch nicht aus anderen Gründen zulässig.

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a) Soweit der Kläger geltend macht, die klageabweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts sei aufgrund einer Änderung der rechtlichen Einschätzung des Vorsitzenden Richters in der Güteverhandlung und der Beurteilung durch die Kammer in der mündlichen Verhandlung überraschend und nicht vorhersehbar gewesen, zielt er im Ergebnis zwar auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufgrund eines nicht erteilten gerichtlichen Hinweises nach § 139 ZPO. Es fehlt jedoch an einer (zulässigen) Verfahrensrüge, da sich sein Vortrag insoweit ebenfalls ausschließlich auf die zweite selbständig tragende Begründung des Arbeitsgerichts unter A II 4 auf S. 12 ff. des Urteils bezieht.

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b) Schließlich vermag – entgegen der Auffassung des Klägers in seinem Schriftsatz vom 19. Juli 2024 – auch die erstmalig in der Berufungsinstanz erfolgte Erstreckung des Klageanspruchs auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz die Zulässigkeit der Berufung nicht zu begründen. Eine solche Erweiterung der Klage in zweiter Instanz kann nicht alleiniges Ziel des Rechtsmittelführers sein. Vielmehr setzt ein derartiges Prozessziel eine zulässige Berufung voraus
(vgl. zB BAG 15. November 2016 – 9 AZR 125/16 – Rn. 10 mwN; 28. Oktober 2008 – 3 AZR 903/07 – Rn. 22 mwN; 10. Februar 2005 – 6 AZR 183/04 – zu 1 a der Gründe mwN; BGH 27. Januar 2012 – V ZR 92/11 – Rn. 7 mwN; LAG München 7. November 2019 – 3 Sa 234/19 – zu I 3 b der Gründe mwN). Insoweit kommt es nicht darauf an, dass das Landesarbeitsgericht die Klageerweiterung für sachdienlich gehalten hat.

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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

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