Verweisung wegen sachlicher Unzuständigkeit für Klage auf Aufhebung einer bestandskräftigen Verbotsverfügung (Beschluss des BVerwG 6. Senat)

BVerwG 6. Senat, Beschluss vom 02.08.2024, AZ 6 A 3/24, ECLI:DE:BVerwG:2024:020824B6A3.24.0

§ 50 Abs 1 Nr 2 VwGO, § 83 S 1 VwGO, § 18 S 2 VereinsG, § 3 Abs 1 VereinsG

Tenor

Das Bundesverwaltungsgericht erklärt sich für unzuständig.

Der Rechtsstreit wird an das sachlich zuständige Verwaltungsgericht Berlin verwiesen.

Gründe

I

1

Der Klägerin wurde mit Bescheid des Bundesministeriums des Innern vom 22. November 1993 die Betätigung in Deutschland verboten, da ihre Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufe, sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richte und die innere Sicherheit und die öffentliche Ordnung sowie sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährde.

2

Unter dem 11. Mai 2022 beantragte die Klägerin, das bestandskräftige vereinsrechtliche Betätigungsverbot gegen sie zurückzunehmen bzw. das Verfahren wiederaufzugreifen, weil die genannten Gründe jedenfalls heute nicht mehr vorlägen. Dies lehnte das Bundesministerium des Innern und für Heimat mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 22. Mai 2024 ab.

3

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Bundesverwaltungsgericht erhoben mit dem Ziel, den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2024 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Betätigungsverbot vom 22. November 1993 aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zur Neubescheidung zu verpflichten.

4

Der Mitteilung des Gerichts, es erwäge eine Verweisung des Rechtsstreits an das Verwaltungsgericht Berlin, sind die Beteiligten entgegengetreten.

II

5

Das Bundesverwaltungsgericht ist nicht zuständig. Der Rechtsstreit um die begehrte Rücknahme des bestandskräftigen Betätigungsverbots für die Klägerin bzw. das beantragte Wiederaufgreifen des Verfahrens fällt weder vom Wortlaut noch von Sinn und Zweck der Vorschrift in die sachliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nach § 50 Abs. 1 Nr. 2 VwGO.

6

1. Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet nach § 50 Abs. 1 Nr. 2 VwGO im ersten und letzten Rechtszug über Klagen gegen die vom Bundesminister des Innern nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 VereinsG ausgesprochenen Vereinsverbote und nach § 8 Abs. 1 VereinsG erlassenen Verfügungen (Verbot der Bildung von Ersatzorganisationen). Diese gerichtliche Zuständigkeit erstreckt sich zudem auf ein Betätigungsverbot nach § 18 Satz 2 VereinsG, das ein Vereinsverbot ersetzt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. April 2016 – 1 A 9.15 – NVwZ-RR 2016, 579 m. w. N.). Der Wortlaut der Zuständigkeitsnorm knüpft nicht an eine bestimmte Klageart, sondern daran an, dass sich die Klage gegen den Verbotsbescheid des Vereins oder einer Ersatzorganisation richtet. Daher sind von der Zuständigkeitsregelung nicht nur Anfechtungsklagen im Sinne des § 42 Abs. 1 VwGO erfasst, sondern sämtliche Streitigkeiten, die um die – ursprüngliche – Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit eines solchen Verbots geführt werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 6 PKH 6.19 – juris Rn. 5 f.). Demgegenüber werden Klagen gegen Verfügungen, die ihrem materiellen Gehalt nach kein Vereinsverbot enthalten, nicht von der Spezialvorschrift des § 50 Abs. 1 Nr. 2 VwGO erfasst (BVerwG, Beschluss vom 26. April 2016 – 1 A 9.15 – NVwZ-RR 2016, 579 Rn. 4). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts handelt es sich bei dem Katalog der erst- und letztinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts in § 50 Abs. 1 VwGO um Ausnahmen zu § 45 VwGO, die auf eng begrenzte Fälle beschränkt bleiben sollen und deshalb restriktiv auszulegen sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Dezember 2002 – 3 A 1.02 – BVerwGE 117, 244 <245>).

7

2. Die Klägerin zielt mit ihrem vorliegenden Antrag nicht auf die gerichtliche Überprüfung der ursprünglichen Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit des Betätigungsverbots vom 22. November 1993. Sie strebt vielmehr eine Aufhebung der damit verbundenen Wirkungen für die Zukunft durch die Verwaltung an. Auch wenn hiermit inhaltlich eine Entscheidung der Beklagten über den Fortbestand der für das ursprüngliche Verbot maßgeblichen Sachlage verbunden ist, enthält die Ablehnung eines Wiederaufgreifens des Verwaltungsverfahrens sowie der Aufhebung des Bescheids vom 22. November 1993 nach ihrem materiellen Gehalt kein konstitutiv wirkendes Betätigungsverbot nach § 18 Satz 2 VereinsG, wie es der Wortlaut des § 50 Abs. 1 Nr. 2 VwGO für ein Vereinsverbot fordert. Ein solches Verständnis steht entgegen dem Vortrag der Beklagten auch nicht im Widerspruch zum Willen des historischen Gesetzgebers. Wie den Materialien zu entnehmen ist, begründete die Bundesregierung die ausnahmsweise erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts mit dem Argument, es sei ein für die Staatssicherheit wie für die Rechtssicherheit unerträglicher Zustand, wenn Vereinsverbote unter Umständen jahrelang mit dem Makel der Vorläufigkeit behaftet seien und das Erlaubt- oder Verbotensein einer Massenorganisation auf lange Zeit in der Schwebe bleibe (Begründung des Regierungsentwurfs eines Vereinsgesetzes, BT-Drs. 4/430 S. 25). Dieser Schwebezustand tritt aber in der vorliegenden Konstellation nicht ein. Denn infolge der Bestandskraft des Betätigungsverbots besteht bis zur Entscheidung des nach § 45 VwGO regulär zur Entscheidung berufenen Verwaltungsgerichts als Eingangsinstanz oder ggf. der Rechtsmittelinstanzen für alle Betroffenen Rechtsklarheit über den Geltungsanspruch des Betätigungsverbots vom 22. November 1993. Mit der Bestandskraft der in Form eines Betätigungsverbots ergangenen Verbotsverfügung ist daher die Grenze der Anwendbarkeit der Ausnahmevorschrift des § 50 Abs. 1 Nr. 2 VwGO bezeichnet, so dass das vorliegende Streitverfahren nicht mehr von der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts umfasst ist. Die abweichende Rechtsbehelfsbelehrung im angegriffenen Bescheid ist damit unrichtig, aber als solche ohne konstitutiven Einfluss auf die gerichtliche Zuständigkeit.

8

3. Der Rechtsstreit ist daher – nachdem die Beteiligten hierzu angehört und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist – gemäß § 83 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 2 GVG an das nach § 45 VwGO sachlich und gemäß § 52 Nr. 2 VwGO örtlich zuständige Verwaltungsgericht Berlin zu verweisen.

9

Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, weil die Kosten im Verfahren vor dem angerufenen Gericht als Teil der Kosten behandelt werden, die bei dem Gericht erwachsen, an das der Rechtsstreit verwiesen wird (§ 83 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17b Abs. 2 Satz 1 GVG).

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