Beschluss des BVerwG 9. Senat vom 05.08.2024, AZ 9 B 9/24

BVerwG 9. Senat, Beschluss vom 05.08.2024, AZ 9 B 9/24, ECLI:DE:BVerwG:2024:050824B9B9.24.0

Verfahrensgang

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 8. Januar 2024, Az: 2 S 2872/21, Beschluss
vorgehend VG Stuttgart, 24. September 2020, Az: 10 K 8332/18, Urteil

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 8. Januar 2024 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 41 546,26 € festgesetzt.

Gründe

I

1

Der Kläger wendet sich gegen seine Inanspruchnahme als Haftungsschuldner für Gewerbesteuerschulden der … GmbH aus den Jahren 2010 bis 2013. Das Verwaltungsgericht wies die Klage nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Der Verwaltungsgerichtshof ließ die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zu und beraumte einen Termin zur mündlichen Verhandlung an. Wegen Erkrankung des Klägerbevollmächtigten wurde der Termin aufgehoben und mitgeteilt, dass ein neuer Termin von Amts wegen bestimmt werde. Nach Anhörung der Beteiligten wies der Verwaltungsgerichtshof die Berufung schließlich mit Beschluss gemäß § 130a VwGO zurück. Die Revision wurde nicht zugelassen.

II

2

Die gegen die Nichtzulassung der Revision erhobene Beschwerde hat Erfolg. Der Kläger sieht zu Recht einen Verfahrensmangel im Sinn des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO darin, dass das Berufungsgericht nach § 130a VwGO entschieden hat, ohne seinen innerhalb der Anhörungsfrist gestellten Fristverlängerungsantrag zu verbescheiden. Das Bundesverwaltungsgericht macht zum Zweck der Verfahrensbeschleunigung von der Möglichkeit Gebrauch, die angegriffene Entscheidung im Beschlusswege aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).

3

1. Eine Entscheidung über die Berufung im vereinfachten Verfahren durch Beschluss setzt gemäß § 130a Satz 2 VwGO i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO eine vorherige Anhörung der Beteiligten voraus. Diesen ist eine angemessene Frist zur Äußerung zu gewähren. Die abschließende Anhörung vor der Entscheidung über die Berufung ersetzt die sonst in der mündlichen Verhandlung bestehende Möglichkeit, auf die Willensbildung des Gerichts durch mündlichen Vortrag Einfluss zu nehmen, und ist damit Ausdruck des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Will das Berufungsgericht an der Durchführung des vereinfachten Verfahrens festhalten, obwohl ein Beteiligter diesem Verfahren widerspricht und Fristverlängerung beantragt, muss es regelmäßig vorab nach § 57 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 224 Abs. 2, § 225 ZPO über den Verlängerungsantrag entscheiden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Juli 1998 – 9 B 535.98 – NVwZ-RR 1998, 783; Beschluss vom 22. März 2017 – 9 B 50.16 – juris Rn. 2; Beschluss vom 12. Juni 2018 – 9 B 4.18 – NVwZ-RR 2018, 787 Rn. 9; Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 130a Rn. 9). Nur so kann der Beteiligte auf die (abschlägige) Bescheidung des Antrags reagieren, bevor er unmittelbar mit einer Entscheidung in der Sache rechnen muss (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Oktober 2000 – 9 B 393.00 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 52).

4

2. Ausgehend hiervon liegt der geltend gemachte Verfahrensmangel vor. Mit Schreiben vom 21. Dezember 2023, das gegen elektronisches Empfangsbekenntnis am Freitag, den 22. Dezember 2023 zugestellt wurde, teilte der Senat den Beteiligten mit, dass er die Berufung einstimmig für unbegründet halte und erwäge, von der Möglichkeit des § 130a VwGO Gebrauch zu machen. Die Beteiligten erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme bis Freitag, den 5. Januar 2024. Unabhängig davon, ob die Anhörungsmitteilung angesichts der zeitlichen Abläufe um den Jahreswechsel überhaupt den Anforderungen an eine angemessene Äußerungsfrist genügt, liegt eine Gehörsverletzung jedenfalls darin, dass das Gericht nicht auf den am 5. Januar 2024 eingereichten Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten reagiert hat. Dieser hatte wegen Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme mit dem im Ausland befindlichen Kläger fristgerecht um Verlängerung der Frist zur Stellungnahme bis 2. Februar 2024 gebeten und mitgeteilt, dass weiterer Erörterungsbedarf gesehen werde.

5

Über dieses Gesuch, das als förmlicher Antrag anzusehen war, hat der Senat nicht durch gesonderten Beschluss entschieden, sondern bereits am Montag, den 8. Januar 2024 den Beschluss nach § 130a VwGO erlassen. Ein Ausnahmefall, der es erlauben würde, unmittelbar zur Sache zu entscheiden (dazu BVerwG, Beschluss vom 12. Juni 2018 – 9 B 4.18 – NVwZ-RR 2018, 787 Rn. 10), lag aber ersichtlich nicht vor. Auch den Entscheidungsgründen des Beschlusses nach § 130a VwGO ist nicht zu entnehmen, aufgrund welcher Erwägungen das Gericht ungeachtet des von der Klägerseite gesehenen weiteren Erörterungsbedarfs sogleich im vereinfachten Berufungsverfahren entschieden hat.

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3. Da das Berufungsgericht ohne vorherige Bescheidung des Fristverlängerungsantrags im Wege des § 130a VwGO entschieden hat, hat es das rechtliche Gehör des Klägers verletzt. Nach § 138 Nr. 3 VwGO kommt es auf die Frage, ob der von ihm angekündigte – nicht näher präzisierte – Vortrag dem Gericht Anlass zu einer anderen Sachentscheidung gegeben hätte, nicht an (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Juli 1998 – 9 B 535.98 – NVwZ-RR 1998, 783).

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4. Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.

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